Das Paradox der Postdemokratie

Der Demokratiewandel in den westlichen Gesellschaften ist augenfällig - aber wohin geht die Reise? Wie ist es eigentlich möglich, dass heutige Konsumentendemokratien gleichzeitig demokratische Normen und eine Agenda der Entpolitisierung, Ungleichheit und Exklusion aufrechterhalten?

Die alte Diskussion um die Krise und den Niedergang der westlichen Demokratie ist in jüngerer Zeit durch die These von der heraufziehenden Postdemokratie neu belebt und theoretisch bereichert worden. Allerdings lässt sich die Vielzahl der damit beschriebenen Phänomene nicht ohne weiteres in ein einheitliches Bild moderner liberaler Demokratien zusammenfügen. Zu den Ungereimtheiten des ebenso erfolgreichen wie schillernden Begriffs gehört auch, dass die politischen Eliten, die demokratischer Partizipation einst eher skeptisch gegenüberstanden, heute allenthalben um die Beteiligung und das Engagement der Bürger werben.

Mehr denn je ist von Inklusion, Teilhabe, selbstbestimmten Menschen, freier Entscheidung und Empowerment die Rede. Es wirkt gerade so, als hätten sich die Entscheidungsträger die Werte und Forderungen der Neuen Sozialen Bewegungen nach einer neuen Politik derart zu Eigen gemacht, wie es sich diese selbst nie hätten träumen lassen. Das deutet kaum auf ein Ende der Demokratie hin, sehr wohl aber auf einen Wandel ihrer Form. Dieser ist für die kritischen Sozialwissenschaften bisweilen noch schwer zu greifen.

Weit verbreitet ist der Zugang über die Kritik am Neoliberalismus. Dieser Erklärungsansatz geht von drei Thesen aus: Erstens sei die inzwischen hegemoniale Ideologie des Neoliberalismus das Bindeglied zwischen den Phänomenen, die unter dem Begriff Postdemokratie zusammengefasst werden. Zweitens sei er ein Elitenprojekt, mit dem die fortschreitende Entdemokratisierung und Entpolitisierung vorangetrieben werde. Und drittens stehe diese Denkrichtung auch hinter dem neo-demokratischen und neo-sozialen Diskurs, der als Strategie einer aktivierenden Politik darauf abzielt, etliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die zuvor beim Staat lagen, auf private Akteure, zivilgesellschaftliche Gruppen und vor allem auf Einzelpersonen zu übertragen.

Auch wenn dieser Erklärungsansatz seine volle Berechtigung hat, muss man fragen, wie der Neoliberalismus überhaupt derart hegemonial werden konnte – wohlgemerkt zu einer Zeit, in der die Neuen Sozialen Bewegungen partizipatorische und emanzipatorische Werte tiefer und breiter im öffentlichen Bewusstsein verankert hatten als je zuvor.

Die Krise der Demokratie hat viele Namen

Warum flackern Proteste gegen die Entpolitisierung und den Zustand der Postdemokratie in jüngerer Zeit meist nur strohfeuerartig auf, um dann wieder ohne ernstzunehmende Auswirkungen zu verschwinden? Warum löst der neo-soziale und neo-demokratische Diskurs, der doch offenbar nur eine anti-emanzipatorische und anti-soziale Agenda verschleiert, bei den emanzipierten Bürgern nicht sehr viel mehr Widerstand aus? Diese Fragen sind für das Verständnis des gegenwärtigen Formwandels liberaler, repräsentativer Demokratien entscheidend. Dennoch lassen sie sich aus der Kritik am Neoliberalismus heraus kaum beantworten. Ein modernisierungs- beziehungsweise subjekttheoretischer Ansatz, der die Postdemokratie nicht nur als ein aufgezwungenes Elitenprojekt versteht, sondern scheinbar widersprüchlich auch als Emanzipationsprojekt, kann hier durchaus einen Beitrag leisten. Hierfür ist es zunächst hilfreich, die Vielschichtigkeit der Phänomene etwas aufzufächern, die oft vereinfacht unter dem Begriff der Postdemokratisierung zusammengefasst werden.

Um den krisenhaften Zustand moderner Demokratien zu beschreiben, sind neben der Postdemokratie die Begriffe der Entpolitisierung und Postpolitik zwei der gängigen Reizwörter. Diese drei Begriffe entstammen unterschiedlichen Denktraditionen und setzen verschiedene Akzente. Um die verschiedenen Dimensionen der „postdemokratischen Konstellation“ (Ingolfur Blühdorn) und der „unpolitischen Demokratie“ (Danny Michelsen und Franz Walter) auszuleuchten, lohnt es sich, diese Begriffe auseinander zu dividieren. Zwar werden dabei eine Klarheit der Konzepte und eine idealtypische Ordnung der Debatte konstruiert, die den tatsächlichen Diskursverhältnissen nicht entsprechen. So wird aber deutlich, dass die so genannte Postdemokratie nicht nur ein anti-emanzipatorisches Schreckgespenst ist.

Postdemokratie, Postpolitik, Entpolitisierung – oder was sonst?

Die Diskussion unter dem Banner Postdemokratie betrachten viele Beobachter als Beitrag zur Periodisierung des Kapitalismus. In der Tat verweist dieser Begriff sowohl bei Colin Crouch als auch in der populären Debatte vor allem auf die unkontrollierte Ausweitung der Macht der Konzerne und die damit einhergehende Marginalisierung des demokratischen Souveräns. Die Partizipation der Bürger werde bestenfalls noch zur Beschaffung von Legitimation für die politischen Eliten benötigt, die ihrerseits weitgehend nach den Vorgaben der Wirtschaft handelten, anstatt den Willen der Bevölkerung zu repräsentieren. Angesichts von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die sich vom demokratischen Ideal entfernen, scheint die gebotene Gegenstrategie klar: Nur eine „massive Eskalation des Protests und des Widerstands“ könne den Vormarsch der Postdemokratie stoppen und eine „Revitalisierung der Demokratie“ (Colin Crouch) bewirken.

Demgegenüber stellt der Begriff der Postpolitik nicht das unerfüllte Ideal der Volkssouveränität nach vorne, sondern den Begriff des Politischen als das Verhandel- und Entscheidbare. Dessen Gegenpol bildet das Vorgegebene, Unabänderliche und Alternativlose. Demokratie wird hier nicht zuerst als die Feststellung und Verwirklichung eines volonté générale verstanden, sondern als der dauerhafte Widerstreit zwischen pluralen, nicht ineinander auflösbaren Wertpositionen. Hatten vielfältige Demokratisierungsbewegungen das Politische – also das Verhandel- und Entscheidbare – zunächst schrittweise erweitert, so ist für die Postpolitik die neuerliche Herrschaft von unverhandelbaren Imperativen kennzeichnend, die den Bereich des Politischen wieder beschneiden. Weitere zentrale Merkmale sind verringerte grundlegende ideologische Differenzen und konsensorientierte Verfahren der öffentlichen Verwaltung. Je mehr unausweichliche Notwendigkeiten – etwa die Imperative des globalisierten Wettbewerbs, der Staatsverschuldung oder des Klimawandels – den politischen Gestaltungsspielraum beschränken, desto dringender erscheinen pragmatische, konsensorientierte und auf die Wissenschaft gestützte Policy-Ansätze, von denen man sich erwartet, dass sie das Spektrum der verbleibenden Möglichkeiten optimal ausschöpfen.

Im Vergleich zur Postdemokratie ist der Begriff der Postpolitik also viel weniger polemisch, vorsichtiger mit seinen Schuldzuweisungen und ambivalenter hinsichtlich möglicher Gegenstrategien. Es gibt zwar deutliche Überschneidungen mit der Debatte um Postdemokratie, aber angesichts neuer, nicht verhandelbarer Imperative treten in der Diskussion über Postpolitik Fragen der politischen Ungleichheit und der einseitigen Verteilung der Macht in den Hintergrund. Selbst wenn die Rede von Sachzwängen und Alternativlosigkeit auch als bewusste Strategie bestimmter Interessen wahrgenommen und kritisiert wird, behält die Vorstellung, dass die Dringlichkeit der Systemimperative Regierende und Regierte in eine Schicksalsgemeinschaft zusammenführt, eine egalisierende Plausibilität. Ein politischer Gegner ist plötzlich viel schwieriger ausfindig zu machen. Stattdessen geht es vor allem darum, mittels evidence-based policy-making die Effektivität der Politik zu maximieren. Entsprechend ist die Objektivierung der öffentlichen Verwaltung nicht mehr negativ konnotiert. Angesichts der gemeinsamen Aufgabe, das Unabänderliche zu meistern, erscheint das Abschmelzen grundlegender ideologischer Differenzen als durchaus erstrebenswert.

Noch deutlicher wird die positive Konnotation im Diskurs der Entpolitisierung. Dieser setzt den Akzent weder auf die Norm der Volkssouveränität noch auch auf das Politische, sondern zuvorderst auf den Policy-Prozess. Freilich wohnt oft auch diesem Begriff eine Kritik an den Machteliten und deren Strategien der politischen Demobilisierung inne. Doch zumindest in der modernen Verwaltungswissenschaft bezeichnet der Begriff Verfahren, mit denen die Transparenz, Effektivität und Legitimität des Policy-Prozesses erhöht werden sollen: Angesichts der stetig wachsenden Komplexität von Interessen- und Problemkonstellationen und der zunehmenden Gefahr der demokratischen Selbstlähmung zielen Strategien der Entpolitisierung auf eine Versachlichung politischer Entscheidungen, indem diese an – mit entsprechender Expertise ausgestattete – Institutionen delegiert werden, die vom demokratischen Prozess abgeschirmt sind. Im Gegensatz zur Rede von der Postdemokratie, deren Vertreter von einer grundsätzlich negativen Entwicklung moderner Demokratien ausgehen, tritt beim Begriff der Entpolitisierung eine positive Wertung in den Vordergrund: Im Interesse der Bürger soll die Sache im Mittelpunkt stehen. Es geht darum, politische Reibungsverluste zu minimieren und den Policy-output quantitativ und qualitativ zu optimieren.

Alles nur eine Folge neoliberaler Deutungsmacht?

Die kurze Besinnung auf einige Kernbegriffe der Diskussion verdeutlicht zweierlei: Erstens können die Phänomene, die mit dem Begriff Postdemokratie angesprochen werden, nicht ausreichend als „Folge neoliberaler Deutungsmacht“ interpretiert werden. Die These vom Neoliberalismus als treibende Kraft und „ideativer Kern des Postdemokratisierungsprozesses“ (Gary Schaal und Claudia Ritzi) ist zwar berechtigt, greift aber dennoch zu kurz. Zweitens wird sichtbar, dass die so bezeichneten Entwicklungen keineswegs nur als negativ und unerwünscht betrachtet werden dürfen, sondern in verschiedener Hinsicht durchaus auch positiv und wünschenswert sind. Eine Untersuchung aus modernisierungs- beziehungsweise subjekttheoretischer Perspektive kann diese Einsichten vertiefen.

Die modernistische Norm des autonomen Subjekts ist die Zentralkategorie der Demokratie. Das demokratische Projekt gründet auf der Vorstellung und zielt darauf ab, diese Norm zu verwirklichen. Immanuel Kant hatte sie aus René Descartes denkendem Subjekt entwickelt. Die bürgerlich-liberale Tradition entwickelte sie zur Idee des identitären Subjekts weiter. Weil die Idee des autonomen Subjekts nicht nur die zentrale Referenznorm der Demokratie, sondern auch der Moderne überhaupt ist, wurde Modernisierung stets auch als die schrittweise Verwirklichung dieser Norm und als demokratische Entfaltung verstanden. Nun blieb aber dieses Ideal des autonomen und identitären Subjekts, dieses normative Herzstück sowohl der Moderne als auch der Demokratie, vom Prozess der fortschreitenden Modernisierung nicht selbst unberührt. Modernisierung bedeutete nicht nur, die für sich selbst unveränderliche Norm schrittweise durchzusetzen, sondern diese auch nach und nach weiterzuentwickeln.

Besonders wichtig im gegenwärtigen Zusammenhang ist dabei erstens das veränderte Verhältnis zwischen den vorherrschenden Vorstellungen von Subjektivität und dem Markt in modernen Konsumgesellschaften. Zweitens spielt das gewandelte Verständnis von Identität eine Rolle: Nach der bürgerlich-modernistischen Idee waren Subjektivität und Individualität einmal als unbedingte Eigenständigkeit aufgefasst worden. Natürliche Prädispositionen und innere Werte sollten sich selbstbestimmt entfalten. Insbesondere galten Subjektivität und Individualität als grundsätzlich unterschieden und unabhängig vom Markt, der im Sinne der christlichen Tradition mit seinen Verführungen und Äußerlichkeiten für die Bildung von Charakter und wahrer Identität nur hinderlich sein könne. Identitätsbildung und Warenkonsum konnten schon deswegen nichts miteinander zu tun haben, weil der fordistische Markt mehr oder weniger standardisierte Produkte aus industrieller Massenfertigung anbot. Hingegen ging es bei Identität und Subjektivität gerade um individuelle Besonderheit, Originalität und Unterscheidbarkeit. Schon Marx hatte ja betont, dass man Identität nicht kaufen kann, sondern sie im strengen Sinne des Wortes erarbeiten, produzieren muss.

Auch wenn diese christlich-bürgerliche Verachtung des Marktes und der industriellen Massen- und Konsumkultur bis heute in vielfältiger Weise nachhallt, haben moderne Bürger den Konsum längst als wesentliche Form der Selbstverwirklichung für sich entdeckt. Identitätskonstruktion und Selbstartikulation sind ganz wesentlich zu einer Frage von Kaufentscheidungen und Konsumhandlungen geworden. Das Einkaufen und die damit verbundenen Tätigkeiten der Vor- und Nachbereitung sind für viele zur erklärten Lieblingsbeschäftigung und zum zentralen Lebensinhalt geworden. Die Idee, dass die Selbstverwirklichung in modernen Konsumtempeln etwa repressiv sein könnte, mag den meisten Bürgern nicht mehr recht einleuchten. Schließlich eröffnet die postfordistische Ausdifferenzierung der Produktpaletten vielfältige Möglichkeiten zur Identitätsbildung und zum Ausdruck von Individualität. Die zum austauschbaren Job herabgestufte Berufstätigkeit hingegen taugt für immer mehr Menschen kaum noch als primärer Bereich der Identitätsbildung, sondern dient vor allem dazu, die Kaufkraft abzusichern, die zur anderswo verfolgten Selbstverwirklichung erforderlich ist. Angesichts dieser veränderten Muster der Identitätskonstruktion diagnostiziert Zygmunt Bauman den Übergang von der produzierenden zur konsumierenden Gesellschaft.

Bürgerliches Selbstverständnis wird lebenspraktisch kontraproduktiv

Zudem ist das der modernistischen Idee nach identitäre Subjekt im Zuge der fortlaufenden Modernisierung abgelöst worden vom Ideal des vielschichtigen und flexiblen, also gerade nicht mit sich identischen Subjekts. Die bürgerliche Tradition hatte sich den Prozess der Identitätsbildung als ein Lebensprojekt vorgestellt, an dessen Ende im Idealfall eine gerundete und gereifte Persönlichkeit stehen würde. Diese würde sich unter anderem durch ihre stabilen Interessen und Eigenschaften, ihre konsistenten Geschmacks- und Werturteile, ihre verlässlichen moralischen Prinzipien, ihren gefestigten Charakter auszeichnen. Die der Modernisierung inhärente Logik der Differenzierung und Beschleunigung hat die Norm der unitären, in sich schlüssigen und stabilen Identität jedoch fragmentiert und dynamisiert. Unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft ist ein identitäres Selbstverständnis im Sinne der bürgerlichen Tradition lebenspraktisch kontraproduktiv: Der Arbeitsmarkt, der berufliche Erfolg und das Management des privaten Lebens erfordern Flexibilität, Vielseitigkeit, Innovationsbereitschaft und Außenorientierung. Die von den sozialen Bewegungen noch emphatisch eingeforderte Idealvorstellung des identitären Subjekts ist mit all ihren Implikationen von Konsequenz, Selbstdisziplin, Prinzipientreue und Innerlichkeit zur Belastung geworden. Sie beschneidet die Handlungsoptionen und die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung. Daher hat gerade in zukunftsorientierten Teilen der Gesellschaft das traditionelle, identitäre Subjekt an normativem Gewicht verloren, während das komplexe, flüchtige, für Widersprüchlichkeiten offene Selbst zur neuen lebensweltlich begründeten Referenznorm geworden ist.

Zygmunt Baumans Modell der flüchtigen Moderne stellt diese Umdeutung des modernistisch-bürgerlichen Ideals des autonomen und identitären Subjekts ins Zentrum der soziologischen Theoriebildung. Die flüchtige Moderne erhebt die Zerstreuung des Subjekts, die Blockade der Sammlung, die Verhinderung des Zu-sich-selbst-Kommens, geradezu zum Programm. Doch während die bürgerlich-kritische Tradition hier vor allem Verfall und Entfremdung diagnostiziert, kann man angesichts sich neu eröffnender Freiheiten und Möglichkeiten ebenso gut auch von einer Emanzipation aus zu eng gewordenen Zwängen sprechen.

Macht sich ein »neues antidemokratisches Gefühl« breit?

Für die Demokratie bedeutet dieser Wandel von Verständnissen der Subjektivität und Mustern der Selbstverwirklichung freilich eine erhebliche Herausforderung. Denn die traditionellen Formen von demokratischer Partizipation, Repräsentation oder Legitimation beruhten fest auf der Vorstellung des Bürgers als Subjekt klar definierbarer, in sich konsistenter und relativ stabiler Werte, Bedürfnisse und Interessen, die sinnvoll politisch artikuliert, organisiert und repräsentiert werden können. Entsprechend erfordert die modernisierungsbedingte Uminterpretation des autonomen und identitären Subjekts, dass auch diese Kategorien neu interpretiert werden müssen. Beispielsweise könnte man bezogen auf die Repräsentation überspitzt sagen, dass nach der Verflüssigung und Verflüchtigung des identischen Subjekts letztlich gar nichts Greifbares und Stabiles mehr da ist, was im traditionellen Sinne des Wortes authentisch repräsentiert werden könnte.

Insgesamt wird es für demokratische Institutionen immer schwieriger, die zunehmend fragmentierten und dynamisierten Werte und Interessen moderner Bürger abzubilden. Dementsprechend werden sie für moderne Bürger immer weniger attraktiv. Das gilt nicht nur für die politischen Organisationen, die nun als zu schwerfällig, eindimensional und wenig responsiv wahrgenommenen werden, sondern auch für demokratische Prinzipien und Verfahren. Sie erscheinen dem erfolgreichen Lebensmanagement in heutigen Konsum- und Wettbewerbsgesellschaften nicht mehr unbedingt zuträglich.

Tatsächlich lässt sich, ebenso wie am Übergang zur postindustriellen Gesellschaft eine gewisse Sättigung in Bezug auf materielle Sicherheitsbedürfnisse beobachtet wurde, die dann zu einer Priorisierung so genannter postmaterieller Werte führte, in heutigen, hoch ausdifferenzierten Konsumgesellschaften eine gewisse demokratische Sättigung feststellen: Angesichts ihrer Erwartungen an die Politik, Probleme zu lösen, des Wettbewerbs um sich verknappende gesellschaftliche Ressourcen, ihres Interesses an einem den modernen Selbstverwirklichungsmustern entsprechenden Konsumgüterangebot und ihrer sich stetig beschleunigenden und verdichtenden persönlichen Lebensstile, erscheinen den Bürgern demokratische Strukturen nicht mehr unbedingt als effizient. Vielmehr werden solche Strukturen, zum Beispiel wegen ihres hohen Zeitaufwands, der mit ihnen verbundenen Kosten oder wegen ihrer Orientierung auf sozialen Ausgleich schnell zur Belastung. Ein „neues antidemokratisches Gefühl“ (Jacques Rancière) oder zumindest ein Gefühl von peak democracy keimt auf, von einem Scheitelpunkt, jenseits dessen das Verhältnis zur Demokratie ambivalent wird. Bei den Statthaltern des ehemaligen Bewegungsprojekts neue Politik löst das Versuche aus, einen irgendwie gearteten Green Democratic Reboot hinzubekommen, wie ihn die Green European Foundation fordert. Joachim Raschke stellt lakonisch fest: „Demokratie als Struktur ist ausgereizt.“ Und weiter: „In der Demokratie lässt sich Partizipation nicht unbegrenzt maximieren ohne negative Folgen für Transparenz und Effizienz.“ Auch das Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit lässt sich bekanntlich nicht unbegrenzt maximieren, ohne negative Folgen für die Freiheit und Selbstverwirklichung des Einzelnen zu haben.

Warum der Neoliberalismus selbst massive Krisen überlebt

Peak democracy bedeutet nun freilich weder das Ende der Demokratie, noch der Politik. Doch die postdemokratische Wende führt bei beiden zu einem tiefgreifenden Formwandel, der eben nicht bloß von der „monomanischen Ideologie“ des Neoliberalismus (Gary Schaal und Claudia Ritzi) erzwungen ist, sondern ebenso sehr auf einen modernisierungsbedingten und durchaus als emanzipatorisch verstehbaren Wertewandel zurückgeht.

Genau dieser demokratische Wertewandel erklärt auch das, wie Colin Crouch schreibt, „befremdliche Überleben“ des Neoliberalismus jenseits der massiven Krisen, die er seit der Finanzkrise 2008 herbeigeführt hat. Entscheidend zum Verständnis der sich nun herausbildenden neuen Erscheinungsform der Demokratie ist allerdings, dass die beschriebene neue Skepsis gegenüber der Demokratie nur die eine Seite der postdemokratischen Wende ist. Denn für moderne Konsumgesellschaften ist es charakteristisch, dass sich zwar das Vertrauen in und die Erwartungen an die institutionalisierte Demokratie wesentlich vermindert haben, die Ansprüche auf demokratische Repräsentation, Partizipation und Legitimation zugleich aber signifikant gestiegen sind. Schon Colin Crouch hatte sehr richtig betont, dass die so genannte Postdemokratie mitnichten antidemokratisch sei. Im Gegenteil blähen sich die Selbstbestimmungsansprüche moderner Bürger trotz – oder gerade wegen – der sich wandelnden Subjektivitätsnormen immer weiter auf.

Diese Gleichzeitigkeit der Emanzipation vom demokratischen Projekt einerseits und radikalisierter Subjektivierungsansprüche andererseits kann als das postdemokratische Paradox bezeichnet werden. Es entsteht daraus, dass der fortschreitende Prozess der Modernisierung einerseits das Fundament der traditionell verstandenen Demokratie zersetzt und die postdemokratische Wende einleitet, andererseits aber – qua Modernisierung – die Freiheits-, Selbstbestimmungs-, Selbstverwirklichungs- und Zentralitätsansprüche der Individuen immer maßloser aufbläht. Moderne Bürger verlangen immer selbstbewusster und kompromissloser nach Partizipation, Repräsentation und Responsivität. Sie verstehen sich immer unbedingter als Mittelpunkt ihrer Welt. Für die politischen Institutionen ergibt sich daraus das Dilemma, dass sie sich im Interesse ihrer Handlungsfähigkeit und Effizienz von den flüchtigen Bürgern emanzipieren, sie aber gleichzeitig als Prinzipal ihres Handelns betrachten müssen. Umgekehrt ergibt sich für die Bürger das Dilemma, dass sie sich einerseits als politischer Souverän betrachten und als solcher anerkannt werden wollen, andererseits aber im Interesse ihrer aktualisierten Subjektivitätsverständnisse und Selbstverwirklichungsmuster die Verbindlichkeiten des älteren Bürgerschaftsideals gerne abschütteln und politische Verantwortlichkeiten möglichst an geeignete Dienstleister deligieren möchten.

So bringt die postdemokratische Konstellation sowohl für die politischen Institutionen als auch für die Bürger fundamentale Dilemmata. Zu den widersprüchlichen Phänomene gehört beispielsweise die Tatsache, dass Protestbewegungen lautstark mehr Demokratie einfordern, ohne jedoch schlüssig formulieren zu können, was genau ihre Forderungen sind, und ohne wirklich partizipieren und sich in die Verantwortung nehmen lassen zu wollen. Umgekehrt versprechen Regierungen lautstark zivilgesellschaftliche Machtbeteiligung und die Entscheidungsträger bemühen sich angestrengt um mehr Bürgerbeteiligung, setzen aber zugleich konsequent auf Verfahren der Entpolitisierung. Politiker versprechen vollmundig, Verantwortung übernehmen und die Gesellschaft gestalten zu wollen, sind aber gleichzeitig jederzeit bereit, sich als bloß ausführende Organe übergeordneter Zwänge darzustellen, die ihnen nur geringe Handlungsspielräume und Steuerungsfähigkeit ließen.

Diese Widersprüchlichkeiten kennzeichnen die postdemokratische Konstellation. Gerade weil sich die so genannte Postdemokratie nicht einfach als Projekt und Folge des Neoliberalismus erklären lässt, sondern auch das Ergebnis des emanzipatorischen Projekts ist, erscheint weder die Hoffnung auf eine „massive Eskalation des Protests und des Widerstands“ wirklich plausibel, noch ist das Dilemma durch herkömmliche Demokratiereformen wirklich zu lösen. Dennoch muss das postdemokratische Paradox politisch-praktisch bewältigt und gesellschaftlich irgendwie erträglich gemacht werden.

Welche Strategien zum Management des postdemokratischen Paradoxes gibt es?

Wie genau kann das gelingen? Welche Strategien zum Management des postdemokratischen Paradoxes gibt es? Wie schaffen es heutige Konsumentendemokratien, gleichzeitig demokratische Normen und eine Agenda der Entpolitisierung, Ungleichheit und Exklusion aufrecht zu erhalten? Wie gelingt es, die normative Ordnung der modernen Gesellschaft zu stabilisieren und gleichzeitig eine politische Praxis zu verfolgen, die den tradierten demokratischen Normen diametral widerspricht?

Die kritische Sozialwissenschaft tut sich bisher schwer damit, solche Fragen zu bearbeiten. Sie fürchtet die „normative Affirmation“ der so genannten Postdemokratie, wie Gary Schaal es ausdrückt. In der Tat laufen Wissenschaftler bei dem Versuch, sich solcher Fragen anzunehmen, stets Gefahr, missverstanden oder sogar ideologisch vereinnahmt zu werden. Wenn sich aber die kritische Sozialwissenschaft die differenzierte Analyse der Logik der Postmodernisierung verbietet, und stattdessen eindimensional bei den sehr viel bequemeren Schuldzuweisungen an den Neoliberalismus verharrt, trägt sie letztlich nur dazu bei, das zu schützen, was sie eigentlich aufzubrechen versucht.

Das von mir entwickelte Modell der simulativen Demokratie geht hier einen Schritt weiter. Es leistet einen Beitrag zur Theorie des derzeitigen Demokratiewandels und weist die Richtung für entsprechende empirische Untersuchungen. Zudem bietet es auch einen Ansatz zur Analyse des neo-demokratischen und neo-sozialen Diskurses, der die Tendenzen der Entdemokratisierung, Entpolitisierung und sozialen Exklusion orchestriert. Auffällig an diesem neo-demokratischen und neo-sozialen Diskurs ist, dass er keineswegs nur von neo-liberaler Seite betrieben, sondern von einer breiten Allianz gesellschaftlicher Akteure getragen wird. Er bedient die widersprüch­lichen Bedürfnisse sowohl der Regierenden als auch der Regierten. Und er bildet die Grundlage für new forms of governance, die im Namen der Werte und Prinzipien der einstigen neuen Politik eine Agenda der neuen Grenzziehung und Exklusion verfolgen.

2013 veröffentlichte Ingolfur Blühdorn sein Buch „Simulative Demokratie: Neue Politik nach der postdemokratischen Wende“ im Suhrkamp Verlag. Es hat 304 Seiten und kostet 20 Euro.

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