Das Nationalkarussell dreht sich weiter

Rückblick auf eine deutsche Erregung - und Ausblick auf die nächste

Am 12. März war es wieder so weit. Jürgen Trittin beging einen Fehltritt, ihm unterlief eine seiner berüchtigten verbalen "Entgleisungen". Die orientierungslose Opposition hatte wieder ein Thema, die verstörte Nation eine Debatte. Trittin hatte dem Generalsekretär der CDU, Laurenz Meyer, in Anspielung auf dessen spärlichen Haarwuchs bescheinigt, nicht nur das Äußere, sondern auch die Mentalität eines Skinheads zu besitzen. Die Behauptung stützte er mit dem Hinweis, Meyer habe seinen Stolz bekundet, ein Deutscher zu sein. Damit begebe er sich im "geistigen Tiefflug" auf das Niveau von "rassistischen Schlägern".

Nun war die Opposition empört und forderte den Rücktritt des Ministers. Sie tat dies nicht nur aufgrund der Titulierung ihres Generalsekretärs als Skinhead, welche die "Gefahr durch rechtsradikale Gedanken und Gewalttaten in unverantwortlicher und unerträglicher Weise" instrumentalisiere und "durch die An-wendung auf den politischen Gegner" verharmlose. Vielmehr prangerte die Union die ganze Geisteshaltung an, die sich hinter der Äußerung verberge. Denn in den Augen der CDU/CSU und, wie sich herausstellte, auch der Liberalen hatte Trittin nicht nur durch den Skinheadvergleich "den Grundkonsens der Demokraten in Deutschland verlassen". Bereits der Umstand, dass er den Satz "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" ablehnte, genügte, ihm die Eignung für das Ministeramt abzusprechen. Wer "so hasserfüllt über Deutschland" rede wie Trittin, dekretierte Friedrich Merz, "der kann nicht gleichzeitig Mitglied der Bundesregierung Deutschlands sein".

Stimmungsmache im Wahlkampf

Darauf oblag es den Koalitionsmitgliedern, die impertinenten Forderungen der Opposition zurückzuweisen. Zwar hielten auch sie Trittins Äußerung mehrheitlich für falsch und unangemessen. Aber Trittin habe sich entschuldigt; und jedenfalls verbitte man sich die Anmaßung der Opposition, eine Art "Gesinnungs-TÜV" für Regierungsmitglieder einführen zu wollen.

Jetzt schaltete sich der Bundespräsident in die Diskussion ein und ließ wissen, auch er könne mit dem Satz vom Stolz auf das Deutschsein nicht viel anfangen. Man könne nur auf etwas stolz sein, was man selbst zuwege gebracht habe. Mithin sei er froh, Deutscher zu sein, nicht aber stolz darauf. Und Patriotismus sei von Nationalismus zu unterscheiden. Als daraufhin auch Rau von der Opposition angegriffen wurde und der CSU-Generalsekretär Goppel darüber nachdachte, ob ein Bundespräsident ohne Nationalstolz "die 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger seines Landes angemessen vertritt", fiel es der SPD und den Grünen nicht mehr schwer, die Anwürfe aus der Union und aus Teilen der FDP als das zu entlarven, was sie waren: durchschaubare Stimmungsmache in Wahlkampfzeiten.

Die Sehnsucht der Desolaten

Die Posse um den Nationalstolz endete denn auch nach den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz - auf deren Ausgang sie im Übrigen keinen erkennbaren Einfluss nahm - mit einer Bundestagssitzung, in deren Verlauf sich Koalition und Opposition gegenseitig Scheinheiligkeit und die Instrumentalisierung des Rechtsradikalismus vorwarfen. Dann verschwand das Thema von der Tagesordnung und es schien fast, als hätten Union und FDP den Rat von Wirtschaftsminister Werner Müller beherzigt, sich wieder auf die Sacharbeit zu konzentrieren, "damit man in Deutschland auch auf die Opposition stolz sein kann".

Also Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Angesichts des schnellen Versiegens der Debatte mag man sich zwar damit trösten, dass diese vor allen Dingen dem desolaten Zustand der CDU geschuldet war, welche damit - wie schon mit der Leitkulturdebatte und dem Streit um Fischers Putzgruppengeschichte - forsch über ihre Konzeptionslosigkeit hinwegzutäuschen versuchte. Aber das ist nicht der wichtigste Aspekt. Denn diesen drei jüngsten Versuchen der CDU, der rot-grünen Regierung eine Diskussion über das rechte Verhältnis zu Nation und Staat aufzuzwingen, liegt gleichermaßen die Sehnsucht nach der alten Selbstverständlichkeit zugrunde, mit der sich die deutschen Konservativen einst mit "ihrem" Staat identifizieren konnten - und mit der sie die Linken stets von dieser Identifikation ausschlossen.

Seit dem Kampf gegen die Sozialdemokratie im Kaiserreich und deren Verleumdung als "vaterlandslose Gesellen" nahmen Nationalliberale und Konservative für sich in Anspruch, den Patriotismus gepachtet zu haben. Seitdem stand auch die Linke, wollte sie an der Lenkung des Landes teilhaben, immer wieder unter dem Zwang, ihre "nationale Zuverlässigkeit" zu beweisen. Dieses alte Druckmittel wollte die CDU gegen eine SPD mobilisieren, die sich gerade erfolgreich aus dieser Mechanik befreit hat und nun ihrerseits selbstbewusst den Platz in der Mitte der Gesellschaft reklamiert. Wie Peter Struck erkannte, ging es der Union darum, die "Deutungshoheit über Begriffe wie Nation, Staat, Geschichte, Leitkultur, Vaterland" zurückzuerobern und in diesen Dingen einen "Alleinvertretungsanspruch" geltend zu machen.

Neu an diesen Vorstößen im Kampf um die kulturelle Hegemonie über das Nationale war allerdings nicht nur der höchst fragwürdige Einsatz parlamentarischer Mittel, wie er sich etwa im Ruf nach einem Untersuchungsausschuss wegen Fischers Vergangenheit oder nach einer Sondersitzung des Bundestages wegen Trittins Gegenwart äußerte. Neu war auch, dass die FDP, zumeist in Gestalt von Guido Westerwelle, auf den nationalen Zug aufsprang. In Sachen Nationalstolz bekundete Westerwelle in der Frankfurter Allgemeinen (warum eigentlich auf Englisch?): "I′m proud to be a German."

Die nationale Normalität bleibt aus

Schon die Begriffseierei, mit welcher der liberale Hoffnungsträger das von ihm verlangte "gesunde Maß an Stolz auf unser Land" zu rechtfertigen versuchte, macht allerdings die Gratwanderung deutlich, zu der sich Westerwelle da aufmachte. Dass man den Rechtsextremismus mit Erfolg bekämpfen kann, indem man dessen Begriffe benutzt, ist ja keineswegs erwiesen. Die NPD in Rheinland-Pfalz jedenfalls schien es nicht besonders zu stören, dass sie sich ihren Stolz auf das Deutschtum neuerdings mit Christoph Böhr teilen musste.

Genau darum geht es. An der in dieser Debatte zutage tretenden Hilflosigkeit gegenüber dem Rechtsextremismus, dessen Instrumentalisierung, Verharmlosung oder gar Beförderung sich die Parteien gegenseitig vorwarfen, wird deutlich, dass hier nicht nur eine fadenscheinige Taktik der Opposition zu besichtigen war. Die jüngsten Leitkultur-, Vergangenheits- und Nationalstolz-Debatten ordnen sich vielmehr ein in die nicht erst seit der Wiedervereinigung geführte Nationalismus-Diskussion, in der die nationale "Normalität" immer genau so lange ausbleibt, wie sie beschworen wird. Der Vorwurf des "gestörten Verhältnisses" zur Nation, der diese Diskussion kennzeichnet, und der dauernde Aufruf zur "Unverkrampftheit" im Umgang mit dem Deutschen an sich und seiner Vergangenheit sind selbst Zeichen genau jener Verkrampfung, die hier diskursiv gelöst werden soll.

Walser, Wehrmacht, Leitkultur

Die Einsicht in die dilemmatische Struktur des deutschen Nationalismusproblems, das andere Länder angeblich nicht kennen, war angesichts der Stolz-Debatte schnell wieder aufgerufen. Auch die Einordnung in die Reihe der bisherigen Nationalismusdebatten ließ nicht lange auf sich warten. Der Spiegel enthüllte gar eine Zeittafel "Deutscher Emotionen", die mit dem Historikerstreit der achtziger Jahre begann und über Goldhagen, Walser und Wehrmacht bis zur Leitkultur reichte. Der zugehörige Text verfolgte das Problem sogar bis zum Beginn der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Andere führten die deutsche Schwierigkeit mit Nationalismus und Patriotismus nicht allein auf das schwere Erbe des "Dritten Reiches" zurück, sondern allgemeiner auf die - nun ebenfalls gern in Erinnerung gerufene - "verspätete Nation", die bekanntlich schon im vorvorigen Jahrhundert ihren verspäteten Anfang nahm.

Das Erlebnis des Déjà vu vor allem dürfte die Frustration der publizistischen Beobachter erklären, die in vielen Kommentaren über die "dümmste Debatte der Saison" (Herbert Riehl-Heyse) und die "allerdümmste politische Gegenwartsfrage" (Jürgen Kaube) zu spüren war. Denn einen Erkenntnisgewinn brachte sie für niemanden. Stattdessen wurde überdeutlich, dass sie nur von den wirklich anstehenden politischen Fragen ablenkte. Doch das ist wiederum das Dilemma (allerdings nicht nur) der Intellektuellen: Allein die Einsicht verändert noch nicht die Realität, und das bessere Argument prallt zuweilen wirkungslos am Gegenüber ab.

Zwar war die ganze Debatte sowohl in der Intention ihrer Initiatoren als auch im Gehalt ihrer Argumente hochgradig durchschaubar. Doch änderte das rein gar nichts an ihrem Verlauf. Man musste schon froh sein, dass das Politische selbst diesmal der Debatte ein relativ schnelles Ende bescherte. Die Landtagswahlen im deutschen Südwesten wurden eben nicht mit Nationalstolz, sondern mit landesväterlicher Sachpolitik gewonnen. Damit ist die CDU aber noch nicht von der Versuchung geheilt, es beim nächsten Mal wieder mit der Nation zu versuchen. Und genau darin liegt die Gefahr des Spiels mit den rechten Begriffen in Wirklichkeit: Je hohler die Argumente, je verzweifelter die Lage derer, die mit ihnen hantieren, umso dumpfer die Ressentiments, die mobilisiert werden.

Alles gesagt und nichts geklärt

Bereits zu Beginn der Nationalstolzdebatte warf Stefan Dietrich in der Frankfurter Allgemeinen Jürgen Trittin eine "pathologische Ablehnung alles Nationalen" vor. Wirklich pathologisch ist jedoch die ganze Debatte als solche. Denn Kennzeichen eines pathologischen Defekts ist es gerade, dass er sich auch durch bessere Einsicht nicht aus der Welt schaffen lässt. So gesehen ist zu erwarten, dass unserer pathologischen Nation noch einige dieser Debatten bevorstehen. Wir mögen sie immer besser und schneller in ihrem Charakter erkennen, wir mögen sie auch einzuordnen verstehen - erübrigen werden sie sich dadurch leider nicht.

Die einzige wirklich offene Frage ist deshalb, wie mit einer Konstellation umzugehen ist, in der zwar eigentlich schon alles gesagt ist, in der zugleich das Nationalismus-Karussell von einschlägiger Seite aber dennoch immer wieder eine neue Runde weiter gedreht werden kann. Man sollte sich diese Frage zügig stellen - schon bald wieder dürfte es so weit sein.

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