Das Kreuz mit der direkten Demokratie

Die Debatte um die plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes ist nötig. Doch wer sie mit den falschen Argumenten führt, gerät auf Abwege - so wie derzeit die SPD

Es ist kein schlechtes Zeichen für den Zustand eines Gemeinwesens, wenn es sich von Zeit zu Zeit der Qualität seiner Verfassung (der geschriebenen wie der realen) versichert und über Möglichkeiten der demokratischen Fortentwicklung nachdenkt. In der Bundesrepublik tragen die Debatten darüber allerdings bisweilen stark ritualisierte Züge. Ein gutes Beispiel ist die Diskussion um das Amt des Bundespräsidenten.

Wann immer die Wahl oder Wiederwahl des Staatsoberhauptes ansteht, kann man fast sicher sein, dass in der Öffentlichkeit die Forderung erhoben wird, den bisherigen indirekten Wahlmodus durch eine direkte Volkswahl zu ersetzen. An der Regelmäßigkeit ändert es nichts, dass der Vorschlag bislang niemals wirklich verfolgt wurde oder auch nur auf die politische Tagesordnung gelangte. Ein vergleichbares Schicksal erleiden jene, die eine Reform des föderalistischen Systems anmahnen und sich dabei - anders als bei der Direktwahl - auf das übereinstimmende Urteil der meisten wissenschaftlichen Experten stützen können. So gebetsmühlenhaft sie ihre Ideen einer Beschneidung des Verflechtungswildwuchses (und Rückübertragung von Kompetenzen auf die Länder) auch vortragen - gegen das Beharrungsvermögen der bestehenden institutionellen Strukturen richten sie nichts aus. Vielleicht ist es gerade ihre Folgenlosigkeit, die solche Reformdebatten attraktiv macht.

Etwas Ähnliches scheint die Diskussion zu kennzeichnen, die hier zu Lande in regelmäßigen Abständen um die Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene geführt wird. Ein ernsthafter Versuch in dieser Richtung wurde zuletzt Anfang der neunziger Jahre im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat unternommen. Es ist heute fast schon vergessen, dass sich damals nicht nur der größte Teil der befragten Sachverständigen, sondern auch eine Mehrheit der Kommission für die Plebiszite aussprachen. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit konnte jedoch nicht erreicht werden, da die Vertreter von CDU und CSU ihre Zustimmung versagten.1 An dieser Ausgangslage hat sich bis heute im Prinzip nichts geändert. So ist es verständlich, dass die seit 1998 amtierende Bundesregierung keine Eile zeigt, die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Absicht, direktdemokratische Elemente noch in dieser Legislaturperiode in das Grundgesetz einzuführen, in die Tat umzusetzen. Erst am 19. März 2001 hat der Bundesvorstand der SPD ein Eckpunktepapier beschlossen, das die Trias der vorgeschlagenen Beteiligungsrechte - Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid - vorsichtig konkretisiert. Das Papier wurde anschließend von Justizministerin Herta Däubler-Gmelin der Öffentlichkeit vorgestellt. Ein darüber hinaus gehender Referenten- oder gar fertiger Gesetzentwurf aus dem Ministerium steht jedoch aus, so dass die Verwirklichung des Vorhabens in der laufenden Wahlperiode praktisch ausgeschlossen ist. Dies gilt selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Union einer Verfassungsänderung am Ende zustimmen würde.

Es wäre aber falsch, die von der Regierung beabsichtigte Reform als bloß taktisches Manöver abzutun und die Debatte um plebiszitäre Elemente auf ein konjunkturelles Phänomen zu verkürzen. Dagegen spricht nicht nur der Blick auf die europäische Landkarte, wo die Bundesrepublik mit ihrer bisherigen Skepsis gegenüber direktdemokratischen Beteiligungsformen (auf nationaler Ebene) nahezu alleine steht. Dagegen spricht auch die Tatsache, dass Plebiszite an anderer Stelle - in den Bundesländern und in den Parteien - verstärkt eingeführt oder ausgeweitet worden sind. Über den basisdemokratischen Nutzen dieser Entwicklung mag man geteilter Meinung sein. So führen böse Zungen den Siegeszug der direkten Demokratie in den Bundesländern darauf zurück, dass die Volksabstimmungen dort mangels ausreichender Gesetzgebungskompetenzen sowieso ins Leere laufen.2 Selbst wenn man diese Meinung nicht teilt, wäre es allemal sinnvoller, die Demokratisierungsbemühungen auf die Exekutiven zu konzentrieren, nachdem die Länder heute vorwiegend mit Verwaltungsaufgaben betraut sind.

Die Direktwahl der Ministerpräsidenten könnte dafür einen Ansatzpunkt bieten. Ihr Vorbild wäre die Direktwahl der Bürgermeister in den Kommunen, die inzwischen mit guten Resultaten in allen Bundesländern praktiziert wird. (Früher war sie nur in Bayern und Baden-Württemberg vorgesehen.) Umso erstaunlicher ist, dass die Chancen, die ein solches Modell auf der Länderebene bieten könnte, an der politischen Debatte bislang fast spurlos vorübergegangen sind.3

Noch nüchterner fällt die Beurteilung des Plebiszits in den Parteien aus. Deren Verhältnis zur Demokratie besitzt bekanntlich eine Innen- und eine Außenseite. Die Innenseite bezeichnet den inneren Zustand der Parteien, von dem Ernst Fraenkel einmal gesagt hat, er entscheide über den Zustand der Demokratie insgesamt.4 Die Außenseite manifestiert sich im Parteienwettbewerb. Mit dem Übergang von der noch stark weltanschaulich geprägten Volkspartei zur modernen "Partei der Berufspolitiker" (Klaus von Beyme) haben sich die Gewichte zwischen beiden Seiten verschoben. Anstelle der Binnenorientierung auf Mitglieder und Funktionäre ist eine zunehmende Außenorientierung der Parteien auf die Wählerschaft getreten, die den plebiszitären Charakter der Politik verstärkt.

Obwohl ihre Einbindung in den Staatsapparat bewirkt, dass sich die Parteien von der Mitgliederbasis auch in organisatorischer Hinsicht "emanzipieren", wird die innerparteiliche Demokratie dadurch nicht überflüssig. Die Mitglieder verlieren zwar an Einfluss auf die inhaltliche Kursbestimmung, erfüllen aber noch immer eine wichtige Legitimationsfunktion, die zur inneren Stabilisierung der Parteien beiträgt. Hinzu kommt, dass die Parteien im Zuge der Außenorientierung ein neues Interesse daran entwickeln, ihre innere Ordnung zu pflegen. Das Bemühen, sich mittels neu eingeführter Urwahlen und Mitgliederentscheide zu demokratisieren, dient also zuerst der Attraktivitätssteigerung nach "draußen". Und auch was die parteiinterne Entscheidungsbildung betrifft, handelt es sich beim Plebiszit eher um ein Instrument der "Politik von oben", das den Parteiführungen hilft, ihre Linie gegen die einflussreiche mittlere Funktionärsebene durchzusetzen.

Das Eckpunktepapier der SPD bietet zur Debatte allen Anlass

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Befürworter der direkten Demokratie ihr Augenmerk heute auf die Bundesgesetzgebung richten. Die SPD will die Debatte darüber in den kommenden Monaten führen. Dazu soll auf dem bevorstehenden Parteitag ein von der Justizministerin eingebrachter Leitantrag beschlossen werden, der sich am Eckpunktepapier des Bundesvorstandes orientiert. Angesichts der ungewissen Realisierungschancen des Vorhabens ist es müßig zu spekulieren, welchen Stellenwert die Debatte politisch entwickeln und wieviel Interesse die Öffentlichkeit ihr entgegenbringen wird. Bislang scheint es eher gering zu sein. Dennoch könnte es sich lohnen, schon jetzt einige der Fragen zu stellen und Probleme in Erinnerung zu rufen, die eine Einführung der Plebiszite aufwerfen würde. Das Eckpunktepapier der SPD bietet dazu - insgesamt und in den Einzelheiten - genügend Anlass.

Die erste Frage betrifft das Verhältnis von direkter und repräsentativer Demokratie. In der deutschen Diskussion wird gelegentlich so getan, als ob beides einander ausschlösse, was aber schon vom Begriff her fragwürdig ist. In einem seiner letzten Aufsätze hat der kürzlich verstorbene Hamburger Politikwissenschaftler Winfried Steffani daran erinnert, dass auch eine Sachentscheidung des Volkes immer stellvertretend für jene getroffen wird, die daran nicht teilnehmen wollen, dürfen oder können. Zu den beiden letztgenannten Gruppen gehören etwa Kinder oder die künftigen Generationen. In der plebiszitären Demokratie sieht Steffani daher nur eine Variante der repräsentativen Demokratie, bei der die Gesetzgebung nicht den gewählten Vertretern, sondern den Wählern selbst obliegt. "Gemäß dieser Auffassung kann es in der Demokratie hinsichtlich der Strukturprinzipien repräsentativer Demokratie auch kein "Außerhalb′, sondern immer nur ein "Innerhalb′ geben."5

Ob die Vertretung besser bei den Wählern oder bei den Abgeordneten aufgehoben ist, steht auf einem anderen Blatt. Das Grundgesetz lässt am Primat der parlamentarischen Repräsentation keinen Zweifel. Von tiefem Misstrauen in die Demokratiefähigkeit der Deutschen geprägt, wollten die Verfassungsväter und -mütter der Verführbarkeit des Volkswillens in der Bonner Republik jeden erdenklichen Riegel vorschieben. Mit Ausnahme der territorialen Neugliederung des Bundesgebietes entschieden sie sich daher gegen die Aufnahme direktdemokratischer Elemente in die Verfassung. Die antiplebiszitäre Weichenstellung ist vor dem Hintergrund der jüngeren deutsche Geschichte gut verständlich. Ob sie eher auf das Trauma des Nationalsozialismus zurück geht oder auf die Erfahrungen mit dem direktdemokratischen Instrument in der Weimarer Republik, bleibt allerdings eine heiß umstrittene Frage. Besonders die Weimarer Geschichte spielt für die Bewertung der Volksentscheidungen bis heute eine herausragende Rolle - und zwar bei Befürwortern und Gegnern gleichermaßen. Der Streit soll und kann hier nicht entschieden werden. Das braucht er auch gar nicht, da uns die Lehren von Weimar in der derzeitigen Situation kaum noch weiter helfen. Selbst wenn man das historische Erbe negativ bewertet, muss doch berücksichtigt werden, dass sich die Bundesrepublik zu einer stabilen und reifen Demokratie entwickelt hat, deren politisch-kulturelle Grundlagen heute nicht weniger gefestigt sind als die ihrer westlichen Nachbarstaaten. Die Fixierung der Debatte auf Weimar mutet da kurios an. Viel sinnvoller wäre es, den Blick über den nationalen Tellerrand hinaus zu richten und die Erfahrungen zu bedenken, die andere Demokratien mit dem plebiszitären Instrument gemacht haben.

Die Unklarheiten fangen schon beim Begriff der Direktdemokratie an

Der internationale Vergleich wird dadurch erschwert, dass es verschiedene Formen der direktdemokratischen Beteiligung gibt, die wiederum in unzähligen Varianten ausgestaltet sein können. Die Unklarheiten fangen bereits beim Begriff an. So wollen die einen unter direkter (oder plebiszitärer) Demokratie nur Entscheidungen über Sachfragen verstehen, während andere den Begriff für sämtliche Abstimmungen benutzen, die außerhalb der regulären Wahlen stattfinden. Diese Sprachregelung ist insofern sinnvoller, als sie auch solche Personalvoten mitumfasst, die - wie das Abberufungsrecht (recall) - vom Volk in eigener Inititative betrieben werden können. Diese Möglichkeit besteht in einigen Bundesländern auf der kommunalen Ebene, in den USA ist sie darüber hinaus auf der einzelstaatlichen Ebene verbreitet.

Bei den Sachplebisziten gilt es zunächst nach der Verbindlichkeit zwischen verpflichtenden und konsultativen Formen zu unterscheiden. Verpflichtend sind die Abstimmungen dann, wenn das Volk ein Gesetz positiv beschließt (beziehungsweise einen Gesetzesbeschluss des Parlaments billigt) oder wenn es ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu Fall bringt. Um ein konsultatives Verfahren handelt es sich, wenn das Parlament vom Volk aufgefordert wird, sich mit einer bestimmten Angelegenheit zu befassen, oder wenn die Regierung beziehungsweise das Parlament dem Volk eine Frage zur Abstimmung vorlegt. In beiden Fällen verbleibt die letzte Entscheidung den gewählten Vertretern. Die andere wichtige Frage lautet, wer überhaupt berechtigt sein soll, einen verbindlichen Volksentscheid auszulösen. Hier lassen sich drei Gruppen von Fällen unterscheiden: (1) Der Entscheid ist von Verfassungs wegen vorgesehen ("obligatorisches Referendum"). Zu dieser Gruppe gehören fast immer die Territorialvoten und - in einigen Ländern - auch das Verfassungsreferendum. (2) Regierung oder Parlament können das Volk zu einer Entscheidung aufrufen ("fakultatives Referendum"). Diese Form des Entscheids ist in der Mehrzahl der westlichen Demokratien anzutreffen. (3) Die Initiative geht vom Volk selbst aus. Dabei kann es sich entweder um eine Vetoinitiative gegen ein bereits beschlossenes Gesetz handeln, oder um das Recht, einen Gesetzesbeschluss positiv herbeizuführen. Nach dem Gegenstand ist zwischen der Verfassungsinitiative und der allgemeinen Gesetzesinitiative zu unterscheiden.6

Das Konzept der SPD verheißt einen radikalen Bruch

Im Eckpunktepapier der SPD wird der zuletzt genannten Volksinitiative klar Vorrang eingeräumt. Eine bloße Volksbefragung lehnen die Autoren mit dem Hinweis ab, dass damit nicht die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern die Gestaltungsmöglichkeiten der regierenden Mehrheit gestärkt würden. Wohl aus demselben Grund sieht der Entwurf auch keine Möglichkeit des Referendums vor, dessen Initiierung ja ebenfalls den staatlichen Organen vorbehalten wäre. Die Volksinitiative stellt nach einhelliger Auffassung das stärkste Mittel der direkten Demokratie dar. Dies gilt besonders dort, wo sie auf ein allgemeines Gesetzgebungsrecht des Volkes hinausläuft. Das SPD-Eckpunktepapier macht zwar bei den Gegenständen der Gesetzesanträge gewisse Einschränkungen - so dürfen Volksinitiativen- und begehren nicht auf die Wahl oder Abwahl von Personen, auf Wahlen oder Wahltermine oder auf die Veränderung von Finanz-, Steuer- oder Besoldungsregelungen gerichtet sein. In allen anderen Fragen jedoch hätten die Bürger die Möglichkeit, als Gesetzgeber an die Stelle des gewählten Vertretungsorgans zu treten. Der bisherige Primat der parlamentarischen Repräsentation wäre gebrochen.

Die Radikalität dieses Konzepts erschließt sich nicht auf den ersten Blick, wenn man bedenkt, dass Volksinitiative und -begehren heute in sämtlichen Länderverfassungen enthalten sind. Sie wird erst bei einem Vergleich auf der internationalen Ebene richtig deutlich. Auffällig ist zunächst, dass selbst im Mutterland der plebiszitären Demokratie direktdemokratische Verfahren nur auf der einzelstaatlichen Ebene zugelassen sind: Die amerikanische Bundesverfassung kennt weder das Referendum noch die Initiative. Föderal verfasste Staaten wie die USA oder Deutschland tun sich offenbar leichter, im nationalen Rahmen auf plebiszitäre Elemente zu verzichten, weil sie das Instrument auf der gliedstaatlichen Ebene vorhalten können. Die Daten zeigen, dass es gerade dort lebhaft genutzt wird. So gehört etwa Kalifornien (neben der Schweiz) zu den Staaten mit der am weitest ausgedehnten Volksgesetzgebung überhaupt.

Richtet man den Blick auf die europäischen Staaten, so ist der Befund noch überraschender. Während die Möglichkeit des nationalen Referendums in den eben unterschiedenen Varianten fast überall gegeben ist, gilt dies nicht für die Volksinitiative. Lässt man Zwergstaaten wie Liechtenstein oder San Marino einmal außer Betracht, räumen überhaupt nur sechs Länder - Italien, Litauen, die Schweiz, die Slowakei, Slowenien und Ungarn - den Bürgern das Recht ein, vom Parlament beschlossene Gesetze mittels Vetoinitiative aufzuheben. Vier davon - Litauen, die Schweiz, die Slowakei und Ungarn - gestehen dem Volk darüber hinaus ein positives Gesetzgebungsrecht zu, das sich allerdings nicht auf alle Materien erstreckt. Am weitesten reicht der Anwendungsbereich in der Slowakei und in Litauen: Hier können mit einer Initiative sowohl Verfassungsänderungen als auch einfache Gesetze (oder Teile davon) zur Volksabstimmung gebracht werden. Die Schweiz kennt die positive Volksgesetzgebung demgegenüber bis heute nur als Verfassungsinitiative.

Die Einführung des Volksbegehrens in der von der SPD vorgeschlagenen Form würde folglich bedeuten, dass sich die Bundesrepublik in Sachen direkte Demokratie an die Spitze aller westlichen Demokratien setzte. Sie wäre, was die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung angeht, selbst der Schweiz voraus. Es ist unwahrscheinlich, dass den Verfassern des Eckpunktepapiers dieser Umstand bewusst gewesen ist. Vielleicht würde sie der Hinweis auch nicht beeindrucken. Dennoch hat der Mannheimer Demokratieforscher Peter Graf Kielmansegg Recht, wenn er die Engstirnigkeit der deutschen Debatte beklagt. "So notwendig es ist, die Vorstellung von einem Entwicklungsrückstand der bundesrepublikanischen Demokratie mit den Fakten zu konfrontieren, so wenig sind diese Fakten an sich schon ein Argument für oder gegen die direkte Demokratie. Sie sind allenfalls eine Mahnung, die Frage nicht einfach beiseite zu schieben, warum Demokratien in ihrer großen Mehrzahl so zurückhaltend gegenüber der unvermittelten Ausübung von Gesetzgebungsgewalt durch das Volk sind."7

Welchen Zielen soll die direkte Demokratie eigentlich dienen?

Damit wendet sich der Blick zur zweiten wichtigen Frage: den Zielen der direkten Demokratie. Politikwissenschaftler halten für deren Vordringen zwei miteinander verbundene Erklärungen bereit. Die eine wertet die Einführung der Plebiszite als Ausdruck eines wachsenden Partizipationsbedürfnisses, die andere sieht darin eine Reaktion auf die Krise der demokratischen Vermittlungsinstitutionen.8 Ursächlich für den Anstieg des Partizipationsbedürfnisses ist neben der neuartigen Qualität politischer Probleme vor allem das gestiegene Bildungsniveau, das sich auch in der Zunahme des politischen Interesses ausdrückt. Sinkende Wahlbeteiligung und die viel zitierte Politikverdrossenheit stehen dem nicht unbedingt entgegen, sondern liegen primär in der Unzufriedenheit mit den vorhandenen Einflussmöglichkeiten begründet. Reichen diese nicht aus, dann suchen sich die Bedürfnisse andere, unkonventionelle Wege, um ans Ziel zu gelangen; den Entscheidungsprozess belasten diese Methoden ("Druck der Straße") womöglich stärker als die direktdemokratische Beteiligung. In einer solchen Situation kann es für das politische System geradezu geboten sein, die Partizipation in plebiszitäre Bahnen umzulenken.

Etwas anders sieht es mit den Vermittlungsinstitutionen aus. Die Präferenz der direkten Demokratie entspringt hier einer ausdrücklich formulierten Kritik, deren Hauptzielscheibe die Parteien sind. Der Nutzen der direkten Demokratie wird in ihrer Umgehungsfunktion gesehen: Da Parteien und die von ihnen kontrollierten Parlamente dazu neigten, sich von den Interessen des Volkes zu entfernen, müsse dieses seine Geschicke notfalls selbst in die Hand nehmen. Besonders starke Spuren hat die plebiszitäre Demokratieauffassung in den Vereinigten Staaten hinterlassen, wo die Macht der Parteien seit Beginn des Jahrhunderts durch demokratische Reformen sukzessive gebrochen wurde (Direktwahl der Senatoren, Einführung des Gesetzesreferendums und der Initiative in den meisten Bundesstaaten, Durchführung von primaries und anderes). Auch in den europäischen Ländern sind die politischen Systeme an mehreren Fronten demokratisiert worden, allerdings von einer niedrigeren Ausgangsbasis aus. Der Hauptunterschied zu den USA liegt in der letztlich ungebrochenen Rolle der Parteien als Vermittlungsinsitutionen. Wo man den Einfluss der Parteieliten zurückgedrängt hat, geschah dies zumeist aus freien Stücken und weniger aufgrund "populistischen" Drucks. Die überstürzte Einführung von Urwahlen und Mitgliederentscheiden in den deutschen Parteien liefert dafür ein gutes Beispiel.

Die Entmachtung von Parlament und Parteien ist keine Lösung

Die Argumente, die für die direkte Demokratie auf staatlicher Ebene ins Feld geführt werden, lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Die einen betrachten die plebiszitären Elemente primär in ihrem demokratischen Eigenwert, sehen in ihnen eine Möglichkeit, das Interesse und Bewusstsein der Wähler am politischen Geschehen zu befördern. Die anderen knüpfen an sie zusätzlich die Erwartung besserer Problemlösungen. In der politikwissenschaftlichen Forschung sind beide Annahmen gründlich untersucht worden. Ein eindeutiges Ergebnis hat sich dabei aber - kaum verwunderlich - nicht herausgeschält. Hier mag ein Grund dafür liegen, warum die Debatte um direkte Demokratie nach wie vor Züge eines Glaubenskrieges trägt. Die empirischen Befunde nehmen wesentlich unspektakulärer aus.9 So hat sich etwa gezeigt, dass direktdemokratische Verfahren sowohl den beharrenden als auch den veränderungswilligen Kräften nützen können; sie verhalten sich, anders gesagt, ideologisch "neutral." Dasselbe gilt mit Blick auf das cui bono: Mal können die Plebiszite ein Instrument gut organisierter Minderheiten sein, mal versetzen sie eine Mehrheit in die Lage, sich gegen partikulare Interesseneinflüsse zu behaupten. Die im SPD-Eckpunktepapier formulierte Vorstellung, dass das plebiszitäre Instrument die "parlamentarische und repräsentative Demokratie durch verantwortliche, informierte und durchdachte Sachentscheidungen stärke und attraktiver mache, nicht aber anfälliger für häufig wechselnde Stimmungen", ist daher reines Wunschdenken. Die Autoren des Eckpunktepapiers können sie an keiner Stelle begründen.

Bleibt die Bewertung aus institutioneller Sicht. Hier formuliert das Papier die Erwartung, dass die neuen Beteiligungsformen "bei den Bürgerinnen und Bürgern mehr Interesse und Engagement zu verantwortlicher Willensbildung wecken und mobilisieren"; insofern seien sie imstande, "unsere soziale und rechtsstaatliche Demokratie insgesamt zu stärken." Auch dafür gibt es leider empirisch so gut wie keine Anhaltspunkte. Erstens ist das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein direktdemokratischer Beteiligungsformen nur einer von vielen Faktoren, die für die allgemeine Systemzufriedenheit bestimmend sind. Ihre relative Bedeutung zeigt sich bereits bei der tatsächlichen Inanspruchnahme. So korrespondiert etwa die hohe Wertschätzung der direkten Demokratie in der Schweiz mit einer meist nur geringen Abstimmungsbeteiligung, die an der demokratischen Überlegenheit des Instruments zweifeln lässt. Zweitens verkennt das Argument, dass Kritik und Unzufriedenheit dem demokratischen System letztlich inhärent sind, das über seine Vermittlungsinstitutionen ständig neue Forderungen generiert und damit die eigene Unterstützungsbasis aushöhlt.10 Die Lösung des Problems kann nicht darin bestehen, Parlament und Parteien zu entmachten und das Volk regieren zu lassen. Der Schlüssel liegt vielmehr bei den Vermittlungsinstitutionen selbst, die ihrer demokratischen Verantwortlichkeit stärker gerecht werden müssen.

Genau hier steckt nach Ansicht des Soziologen Claus Offe die eigentliche Bedeutung der plebiszitären Elemente: "Ähnlich wie die verteilungspolitischen Wirkungen des Streikrechts sich nicht vornehmlich dadurch entfalten, dass hier und da gelegentlich gestreikt wird; und wie die verteidigungspolitische Funktion nuklearer Sprengköpfe sogar ausschließlich darauf beruht, dass sie immer einsatzbereit sind, aber nie eingesetzt werden, so könnte auch der Haupterfolg direkt-demokratischer Mitwirkungsverfahren nur darin gesehen werden, dass sie als Handlungsmöglichkeit der Bürger in Reserve stehen. Die Tatsache, dass das so ist, würde im günstigsten Falle die politischen Eliten dazu veranlassen, ihr legislatives Handeln und Unterlassen so sorgfältig argumentativ zu unterfüttern und zu vermitteln, dass sie mit unangenehmen Überraschungen vom Typus des dänischen Europa-Referendums nicht rechnen müssen. Und umgekehrt könnte das bloße Vorhandensein von plebiszitär-demokratischen Mitwirkungsformen bei den Bürgern die - sei es zynische, sei es nur bequemliche, auf jeden Fall aber populistisch ausbeutbare - Auffassung überwinden helfen, man sei den politischen Eliten ohnehin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Nicht in der tatsächlichen Benutzung, sondern in der bloßen Existenz plebiszitärer Verfahrensregeln läge allenfalls ihre heilsame Wirkung. Deshalb muss das Instrument so ausgebaut sein, dass es weder zur leichtfertigen Benutzung einlädt noch aber abschreckend hohe Hürden aufbaut."11

Die Bürger konkurrieren mit ihrem Parlament. Das ist das Problem

Führt man die normativen Begründungen der direkten Demokratie auf ein realistisches Maß zurück, dann ergibt die Ausgestaltung des Instruments in der von der SPD vorgeschlagenen Form keinen Sinn. Die Trias von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid würde sich ja nicht auf die Funktion eines Frühwarnsystems beschränken, das die politischen Akteure mahnt, die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung bei ihren Entscheidungen stets im Auge zu behalten. Sie würde vielmehr den Bürgern die Möglichkeit geben, in bestimmten Bereichen der Gesetzgebung selbst an die Stelle des gewählten Vertretungsorgans zu treten. Unter Demokratiegesichtspunkten lässt sich ein solcher Vorschlag kaum begründen. Erstens ist es nicht ausgemacht, dass ein positives Gesetzgebungsrecht des Volkes zu inhaltlich besseren Ergebnissen führt. Da den plebiszitären Verfahren die deliberativen Momente eines parlamentarischen Entscheidungsprozesses fehlen, dürfte eher das Gegenteil eintreten.12 Zweitens stellt sich die Frage nach der Kompatibilität mit dem parlamentarischen System. Rechtlich gesehen sind die vom Volk beschlossenen Gesetze genauso verbindlich wie ein Gesetzesbeschluss des Parlaments. Politisch wird ihnen jedoch häufig eine höhere demokratische Qualität zugebilligt, obwohl sich an den Volksabstimmungen in der Regel weniger Bürger beteiligen als an den regulären Wahlen. Die Plebiszite schaffen also eine neue Legitimationsquelle, die in Konkurrenz zu der Legitimation der gewählten Vertreter tritt. Genau darin steckt das Problem.

Vom Nutzen der Prävention: Was dennoch für Plebiszite spricht

Die präventiven Wirkungen würden sich dagegen bereits bei einer "abgespeckten" Version der Volksgesetzgebung einstellen, die auf folgende Elemente beschränkt bleiben könnte: Erstens die Möglichkeit der Volksinitiative gegen ein bereits beschlossenes Gesetz so wie in der Schweiz und Italien; die Ausschlussgegenstände müssten dabei nicht ganz soweit gefasst werden wie bei einer positiven Gesetzesinitiative. Zweitens die Möglichkeit der Volksinitiative als Gesetzesantrag (wie im SPD-Entwurf vorgesehen); die abschließende Entscheidung obliegt den Vertretungskörperschaften. Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob man das obligatorische Referendum nicht über den heutigen Anwendungsfall des Art. 29 GG (territoriale Neugliederung) hinaus auf Art. 23 ausdehnt, der die Kompetenzübertragung auf supranationale Organisationen regelt. Denkbar wäre auch ein Verfassungsreferendum, dessen Anwendungsbereich sich allerdings nur auf die Art. 1 bis 20 GG erstrecken dürfte. Die beiden letztgenannten Optionen sind in dem von der SPD vorgelegten Papier bezeichnenderweise nicht enthalten.

Auch bei einem so reduzierten Modell stellt sich natürlich die Frage, wie die vorgeschlagenen Beteiligungsrechte in das vorhandene parlamentarische System eingebettet werden können. Dabei geht es vor allem um die Folgen für den Parteienwettbewerb, dessen demokratische Funktionslogik ja auf einem festgelegten Rollenverständnis von Mehrheit und Minderheit beruht. Die vom Wähler bevollmächtigte Regierung trägt danach das Vorrecht (und die Bürde) der politischen Verantwortung, während die Opposition bestrebt ist, sich durch Kritik und das Aufzeigen von Alternativen als "Regierung im Wartestand" zu empfehlen. Diese Logik würde beeinträchtigt, wenn es der parlamentarischen Opposition gestattet wäre, über den Umweg der Volksbeteiligung ein von der Mehrheit beschlossenes oder geplantes Gesetz zu Fall zu bringen. In Italien und der Schweiz ist das kein Problem, weil der Dualismus von Regierung und Opposition hier entweder nicht funktioniert hat (wie in Italien bis Mitte der neunziger Jahre) oder durch ein System der immerwährenden Proporzregierung suspendiert wurde (Schweiz). In der Bundesrepublik hat die parlamentarische Demokratie ihre Funktionsfähigkeit hingegen bis zuletzt bewiesen. Welche Gründe könnte es geben, diesem bewährten System ein plebiszitäres Instrumentarium überzustülpen?

Eine erste Antwort deutet sich an, wenn man bedenkt, dass der Parteienwettbewerb auch hierzulande zahlreichen Begrenzungen unterliegt. Schon heute gibt das Grundgesetz der Opposition machtvolle Instrumente an die Hand, um die Regierung zu einer Änderung ihrer Politik zu zwingen: Bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes kann sie das Verfassungsgericht anrufen. Daneben hat sie die Möglichkeit, über die Landtagswahlen eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat herbeizuführen. Aus demokratischer Sicht sind beide Strategien fragwürdig. So werden beim Weg über das Gericht verfassungsrechtliche Fragen oft nur vorgeschoben, wo es in Wahrheit um politische Fragen geht. Die Verfassungsrichter könnten dem Einhalt gebieten, wenn sie bei der Behandlung der Streitfälle zwischen rechtlichen und politischen Aspekten stärker trennten. An der dazu nötigen Zurückhaltung hat es ihnen aber in der Vergangenheit gefehlt. Im Fall der Landtagswahlen liegt das Problem in der Vermischung der politischen Ebenen. Als einzige Gelegenheit für den Wähler, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Bundesregierung während der laufenden Legislaturperiode kundzutun, haben die Landtagswahlen immer mehr den Charakter von "Zwischenwahlen" angenommen. Da sie in der Regel zu Stimmengewinnen für die jeweilige Opposition führen, erhält diese die Gelegenheit, ihre Position im Gesetzgebungsprozess gleichsam durch die Hintertür zu verbessern. Gegenläufige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sind in der Bundesrepublik fast schon zum Regelfall geworden. Das bedeutet nicht, dass auch Blockade und Stillstand im Regierungsgeschehen die Norm wären. Die Ausnahmen sind aber schwerwiegend genug, um Zweifel an einem System zu wecken, in dem die Parteien, wie es Fritz Scharpf einmal ausgedrückt hat, gleichz

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