Das Europa der SPD - aus der Inselperspektive

Es ist sehr klar, dass die britische und die deutsche Regierung höchst unterschiedliche Visionen der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union verfolgen

Die Große Koalition in Berlin legt großes Gewicht auf die Annahme des Verfassungsvertrags. In Großbritannien hingegen wird dieses Dokument mit Vorsicht, wenn nicht sogar mit einigem Widerwillen behandelt. Zum Teil ist das eine pragmatische Reaktion auf die überwältigende Europaskepsis der britischen Wähler; die Labourregierung hat sich auf ein Referendum über die Verfassung festgelegt, von dem sie weiß, dass es nicht zu gewinnen ist. Zum Teil gehört es in Großbritannien aber auch fast zur genetischen Prädisposition, sich der Vorstellung zu widersetzen, die EU sollte als jenes grand projet fortgesetzt werden, als welches sie einst von Jean Monnet und Robert Schuman entworfen wurde. Innerhalb der Regierung besteht indes ein Unterschied zwischen Tony Blair und Gordon Brown. Jedenfalls gilt als Tatsache, dass der bisherige Premierminister der Eurozone kurz nach deren Gründung beitreten wollte, während der Schatzkanzler mit seinen inzwischen berühmten „fünf Prüfkriterien“ für die Euro-Mitgliedschaft weiterhin zum Lager der Skeptiker zählt.

Auf der Seite der britischen Konservativen bleibt Feindschaft gegenüber der EU sowieso eine Herzensangelegenheit. Ungeachtet aller Bemühungen des jungen Parteichefs David Cameron, einen irgendwie netteren und freundlicheren Konservatismus zu entwerfen, bleibt seine Partei ohne Wenn und Aber gegen die Verfassung eingestellt und will den Ausstieg Großbritanniens aus dem „Sozialkapitel“ erneuern. Dies würde natürlich entweder erfordern, dass sich die anderen 26 Mitgliedsstaaten bereit erklären müssten, den Vertrag zu revidieren – oder Großbritannien hätte die Union zu verlassen. Selbstverständlich ist weder die eine noch die andere Option praktikabel. Möglicherweise lässt David Cameron sie nur deshalb als „Totems“ im Raume stehen, um seine eigene Parteirechte ruhig zu stellen. Andererseits aber bleiben angesichts dieser Lage kaum Möglichkeiten, auf konstruktive Weise mit Angela Merkel oder – gegebenenfalls – einer von der SPD-geführten Regierung in Berlin ins Geschäft zu kommen. Die großen deutschen Parteien in Deutschland bleiben auch weiterhin deutlich enthusiastischer im Hinblick auf die Europäische Union als die britischen.

Ein ausgezeichnetes Dokument

Es sollte Klarheit über diesen Kontext herrschen, wenn die SPD die Debatte über ihren Bremer Entwurf fortsetzt. Um Zweifeln vorzubeugen sollte ich hier vielleicht sagen: Die Positionen, die in diesem Entwurf im Hinblick auf die EU-Erweiterung, auf Sozialpolitik und die Demokratisierung Europas vertreten werden, würde ich persönlich allesamt unterstützen. Der Entwurf ist ein ausgezeichnetes Dokument, das genau das enthält, was jede pro-europäische Partei der linken Mitte zur Zukunft des europäischen Projekts zu sagen haben sollte. Nur wäre der Schluss irreführend, dass sich deshalb für diese Sichtweise innerhalb der britischen Labour Party nennenswerte Zustimmung finden lassen könnte – von den anderen Parteien ganz zu schweigen. Der britische „Exzeptionalismus“ bleibt eine mächtige Kraft.

Beispielsweise gibt es in Großbritannien Widerstand gegen die Weiterentwicklung einer europäischen Verteidigungsstreitmacht außerhalb der Strukturen der Nato – in den britischen Debatten wird dies als Schaffung einer „europäischen Armee“ charakterisiert. Die über alle Parteigrenzen hinweg stark atlantizistische Tendenz in der britischen Politik bleibt verbunden mit einer engen Allianz mit den Vereinigten Staaten – ungeachtet aller Unpopularität von Präsident Bush und der katastrophalen Folgen des Irak-Kriegs.

Und obgleich einige Politiker der Labour Party in jüngerer Zeit etwas mehr Enthusiasmus für die Idee des „sozialen Europa“ an den Tag gelegt haben (vor allem Wirtschaftsstaatsekretär Ed Balls, ein enger Vertrauter von Gordon Brown), bleibt doch unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Balls hat zwar öffentlich erklärt, es sei ein Fehler der britischen Regierung gewesen, sich der EU-Richtlinie „Information und Konsultation“ zu widersetzen. Aber über diesen – wenn auch wichtigen – Ausdruck des Bedauerns hinaus gibt es nur wenige ähnliche Aussagen.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Labour-Regierung gegen jede europaweite Regelung von Streikrecht und kollektiven Tarifverhandlungen eintreten würde. Tatsächlich hat sich die Regierung solchen Vorschriften bereits widersetzt, als sie in den Entwurf des Verfassungsvertrages hineingeschrieben wurden. Alles, was das nach-thatcheristische britische Arbeitsrecht verändert, würde in Großbritannien enorme Kontroversen auslösen, und die Labour Party möchte sich nicht in der Lage wiederfinden, eine „Charta zum Schutz von Streikenden“ verteidigen zu müssen. Auf genau diese Weise nämlich würde jegliche Veränderung des britischen Arbeitsrechts in den Medien dargestellt werden.

Es mag dem gesunden Menschenverstand entsprechen, dass das Europäische Parlament Legitimität besitzen sollte und – angesichts einer Gemeinschaft von 27 Staaten – angemessene Kompetenzen besitzen muss, um Kommission und Rat zur Rechenschaft zu ziehen. Doch es ist erneut dasselbe: In Großbritannien wird jeder hochgradig vernünftige Vorschlag dieser Art durch die Linse der britischen Europaskepsis gefiltert und dann als Verlust von Souveränität und als Anschlag auf die demokratischen Rechte „frei geborener Engländer“ interpretiert – selbst wenn nichts dergleichen geplant sein sollte.

Ich weise nicht auf diese Zusammenhänge hin, um der SPD den Rat zu geben, ihren Programmentwurf umzuschreiben; ich bin sogar der festen Überzeugung, dass sie dies nicht tun sollte. Aber die deutsche Öffentlichkeit sollte zumindest verstehen, dass das Thema Europa in der britischen Politik heute eine derartig neuralgische Angelegenheit darstellt, dass es buchstäblich unmöglich geworden ist, irgendeine abgewogene Diskussion über den weiteren Weg der EU zu führen.

Man könnte daher zu dem Schluss kommen, dass die einzige Option in „variabler Geometrie“ und einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ besteht. Dann wäre es wenig mehr als eine fromme Hoffnung, dass eine neue Achse London-Berlin-Paris zum Dynamo der Union werden könnte. Dem bisher Gesagten zum Trotz bin ich jedoch gar nicht so pessimistisch. Auch Labourpolitiker finden den Gedanken einleuchtend, dass die Herausforderung des globalen Klimawandels sinnvollerweise nur auf europäischer Ebene angegangen werden kann. Dasselbe gilt für das Feld der Außenhandelspolitik, auf dem die EU bereits Kompetenzen besitzt. Und es gilt auch hinsichtlich der Zuwanderungspolitik: Es ist fast allen klar, dass Großbritannien allein nicht mit den enormen Bevölkerungsbewegungen fertig werden kann, die angesichts niedriger Fertilitätsraten und demografischer Engpässe voraussichtlich vor uns stehen. Auch der Kampf gegen die globale Armut erfordert das Handeln der EU und der G8. Diese Fragen werden zwar in anderen Teilen des Bremer Entwurfs behandelt, sie lassen sich aber ohne Weiteres in ihrer europäischen Dimension betrachten.

Insgesamt gilt: Die SPD sollte ihren gegenwärtig eingeschlagenen Kurs halten. Sie muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass am Ruder ab und zu leichte Korrekturen vorgenommen werden müssen, damit sichergestellt werden kann, dass das – nicht ganz so schnelle – britische Schiff in dieselbe Richtung fährt.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

zurück zur Ausgabe