Das diffuse Licht der Ampel

Nein, das Heraufziehen eines rot-gelb-grünen "Projekts" ist nirgends zu erkennen. Doch Horizonte künftiger Gemeinsamkeit sind durchaus vorstellbar. Ansatzpunkte dafür bieten vor allem die Kategorien der Teilhabe und der Lebenschancen

Deutschland, 27. September, 18 Uhr. Die Prognosen über den Ausgang der Bundestagswahl blenden in Ziffern, in farbigen Säulen und Kreissegmenten auf den Bildschirmen. Schnell stabilisiert sich die Vorhersage der Wahlforscher in den ersten Hochrechnungen. Ungefähr so könnte das Ergebnis lauten: CDU/CSU: 34,5 Prozent, SPD: 27,5 Prozent, FDP: 13 Prozent, Bündnis 90/Die Grünen: 10 Prozent, Linkspartei: 10 Prozent, Sonstige: 5 Prozent.

Das Fünf-Parteien-System ist fest etabliert. Die FDP ist eine klare Gewinnerin der Wahl, sie hält die Stellung der liberalen Marktwirtschaft und segelt seit der bayerischen und hessischen Landtagswahl im Aufwind. Grüne und Linkspartei " sehr ordentliche Ergebnisse, mit leichten Zuwächsen gegenüber 2005, aber fundamental verschiebt sich da wenig, trotz Wirtschaftskrise. Die Auszehrung der großen Volksparteien aber setzt sich fort. Die Union kann ihr enttäuschendes Ergebnis der letzten Wahl nicht ganz halten; die Erwartung, noch einmal zu "40 Prozent plus X" zurückkehren zu können, ist zerstoben. Über die tiefe Enttäuschung tröstet hinweg " und hält Angela Merkel fest im Sattel ", die SPD nunmehr klar distanziert zu haben. Im Grunde ist es dasselbe Bild wie vier Jahre zuvor: Gegenüber den demoskopischen Tiefs im Frühjahr, als die Sozialdemokratie in den Umfragen teils bei nur 22 oder 24 Prozent lag, hat Steinmeier eine beeindruckende Aufholjagd hingelegt und auch für sich persönlich viel Respekt gewonnen. Aber die Ausgangslage nach den Wirrungen um Kurt Beck und Andrea Ypsilanti war einfach zu schlecht.

Was nun? Natürlich, die Große Koalition bleibt weiter möglich, auch wenn das "Groß" von Mal zu Mal kleiner geschrieben werden muss. Dank der Stärke der FDP wäre ein schwarz-gelbes Bündnis doch noch fast möglich gewesen; die Hochrechnungen kippten immer wieder in diese Richtung, aber am Ende fehlten zwei, drei Mandate zur Mehrheit. Der flotte Gedanke an eine Minderheitsregierung wird schnell wieder verworfen. "Rechnerisch" also eine ganz schmale Mehrheit für das "linke Lager". Aber das ist keine politische Option; die coole Steinbrück-Politik der SPD in der Krise hat den Abstand zum Weltbild der Linken gerade in vermeintlich linken Zeiten sogar größer werden lassen. Neben der Großen Koalition verfügen zwei Dreier-Bündnisse über eine klare parlamentarische Mehrheit: natürlich "Jamaika"; aber auch die "Ampel" aus Rot-Gelb-Grün " das ist auch die Reihenfolge der Prozentanteile " verfügt über einen soliden Vorsprung, mit dem im Prinzip gut regiert werden könnte.

Die Evolution des Parteiensystems

Das Parteiensystem der Bundesrepublik hat sich seit dem Aufkommen der Grünen vor fast drei Jahrzehnten, dann seit der Wiedervereinigung vor 20 Jahren, und noch einmal beschleunigt im zu Ende gehenden Jahrzehnt tief greifend gewandelt " in drei Schüben also. Und es ist noch nicht abzusehen, wie dieser Prozess weiterläuft und ob auf den dritten Schub, der die bundesweite Etablierung der Linkspartei mit sich brachte, ein vierter folgen wird. Stabilität auf dem Niveau des Jahres 2009 jedoch ist nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen sprechen die fundamentalen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, auf denen sich die Oberflächenwellen der Wahlergebnisse bewegen. Zu einer übertriebenen Dramatisierung besteht andererseits kein Grund. Denn für einen totalen Zusammenbruch des Parteiensystems, wie ihn etwa Italien längst erlebt hat, spricht in Deutschland wenig. Es handelt sich eher um evolutionäre Transformation. Sie hat aus dem Zweieinhalb-Parteien-System der alten Bundesrepublik ein Fünf-Parteien-System gemacht. Aus zwei dominierenden Volksparteien, denen zur Hälfte der Mandate auch eine schwache FDP genügte, wie 1969 oder 1983, sind Drittelparteien geworden, die auf Bundesebene kaum noch in einer "kleinen" Zweierkonstellation regierungsfähig werden können. In den Ländern, zumal im Westen, sieht das sehr häufig noch anders aus. Allein in den fünf größten Bundesländern werden über 55 Millionen Menschen von einer klassischen christlich-liberalen Koalition regiert, und diese Situation ist nicht einmal besonders labil, sondern auch in fünf oder zehn Jahren noch gut vorstellbar.

Die Bonner Zeiten kehren nicht zurück

Daraus speist sich immer wieder die Hoffnung, vor allem in der Union, auch in Berlin zu den Bonner Zeiten zurückkehren zu können. Dagegen spricht aber nicht nur das grundlegend andere politische und sozialkulturelle Gefüge der neuen Bundesländer, einschließlich der Hauptstadt Berlin. Dagegen spricht auch die Auflösung der klassischen Partei- und Sozialmilieus in den städtischen Regionen des Westens; dagegen sprechen generationelle Verschiebungen; dagegen spricht die Etablierung von Milieus neuer Art, von denen ganz besonders die Grünen profitiert haben: "Milieu" weniger im alten Sinne des Geflechts von formalen Zugehörigkeiten, der Überlappung von Partei, Gewerkschaft, Sportverein und Wohnungsgenossenschaft wie in der klassischen Arbeiterbewegung. Sondern Milieu im Sinne eines kulturellen Koordinatensystems, einer subjektiv gefühlten Übereinstimmung von Klassenlage, Werthorizont und politischem Weltbild. Die Skala "von Links nach Rechts" ist dabei nur noch eine unter anderen.

Deutschland, 28. September 2009. Am Tag nach der Bundestagswahl beraten sich die Parteispitzen in den Zentralen. Nach ersten internen Gesprächen trifft man sich mit potenziellen Bündnis- und Regierungspartnern, schon um den Anspruch auf Regierungsübernahme deutlich zu machen, der alleine nicht mehr reklamiert werden kann. So beratschlagen Merkel, Seehofer und Westerwelle im Konrad-Adenauer-Haus; Steinmeier und Müntefering haben Künast und Trittin im Willy-Brandt-Haus zu Gast. Das ist eine Reminiszenz an die Lagertheorie, die den Beteiligten umso schmerzhafter klarmacht, dass es für Schwarz-Gelb, wenn auch nur ganz knapp, ebenso wenig gereicht hat wie für Rot-Grün. Angela Merkel simst unter der Tischkante mit Frank-Walter Steinmeier, ob man nicht doch wieder"

Aber die Erfahrung der letzten vier Jahre schreckt, und die kleinen Parteien wollen wieder regieren. Also versucht jede Seite, die kleine Partei des anderen Lagers zu sich herüber zu ziehen: Rot-Grün funkt die FDP an, Schwarz-Gelb die Grünen. So schnell wie 2005, als die "Jamaika-Koalition" für kurze Zeit politische Fantasien blühen ließ, die damals noch ganz neuartig waren, werden sich die Optionen auf Dreier-Bündnisse dieses Mal nicht erledigen lassen. Dass die Vorstellung von einer schwarzen oder roten Ampel weniger Adrenalin fließen lässt als früher, muss dabei gar kein Nachteil sein. Zu einem "Projekt" wird man keine der beiden Konstellationen machen können. Es geht um einen Typus von Regierungsbündnis, der in anderen parlamentarischen Demokratien längst gang und gäbe ist, in der Bundesrepublik aber erst noch gelernt werden muss: das pragmatische Zweckbündnis auf Zeit.

Als Koalitionen noch "Projekte" waren

Die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik ist in besonderer Weise und über viele Jahrzehnte durch Regierungskonstellationen vom Typus "Projekt" geprägt worden. Damit ist mindestens zweierlei gemeint: erstens ein Zukunftshorizont des gemeinsamen Gestaltens von Politik und Gesellschaft; das Gefühl, gemeinsam ein Ziel anzuvisieren, dessen letzte Begründung irgendwie noch mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie verknüpft war. Das gilt nicht nur für die "linken" Projekte der sozialliberalen und der rot-grünen Koalition, sondern auch für die Wende-Emphase Helmut Kohls von 1982. Zweitens wuchsen die Projekte auf einem je zeittypischen soziokulturellen Nährboden, aus einer Übereinstimmung von Milieu, Generation und jenem Zeitgeist, der sich in mehr oder weniger deutlichen Pendelschwüngen bewegte. Ein eher konservatives Klima fand über kurz oder lang " immer mit charakteristischer Verzögerung " Ausdruck in einer entsprechenden Regierung, ebenso wie ein eher linkes Klima.

Auf welchen Pendelschwung warten wir?

Beide Voraussetzungen sind inzwischen in sehr fundamentaler Weise nicht mehr gegeben. Die emphatischen Zukunftshorizonte der Moderne sind abgeschmolzen, die Ziele pragmatisiert und eher defensiv ausgerichtet: Energie sichern, Frieden so weit wie unter schwierigen Bedingungen möglich, die Folgen des Klimawandels begrenzen, den sozialen Frieden bewahren. Darauf aber kann man sich prinzipiell mit den Grünen so gut verständigen wie mit der CDU, mit der SPD so gut wie mit den Liberalen. Und auf welchen Pendelschwung warten wir im Moment eigentlich? Nicht nur wegen der Großen Koalition ist diese Frage kaum mehr zu beantworten. Während für die Linke in der Finanz- und Wirtschaftskrise die Dominanz von Neocon und Neolib zu Ende geht, wartet das "bürgerliche Lager" auf die von ihm ersehnte, 2005 verpasste Gegenbewegung zu Rot-Grün. Beide Erwartungen werden notwendigerweise enttäuscht werden.

Das heißt aber nicht, dass es nicht weiterhin politischen Wechsel im Sinne der demokratischen Ablösung von Regierung und Opposition geben wird und geben sollte. Aber die Konstellationen, in denen sich dieser Wechsel vollzieht, werden anders aussehen als in der Vergangenheit. Die zunehmende Auflösung der klar definierten politischen Lager ist nicht nur unvermeidbar; sie ist letztlich " auch wenn der Verlust der klassischen politischen Hegemonialblöcke schmerzt " im Interesse aller demokratischen Parteien. Auch in einem Fünf-Parteien-System, auch mit verkleinerten Volksparteien bleibt es wichtig, wenn zeitweise die Union und zeitweise die SPD die Hauptrichtung der Regierungsarbeit bestimmt und die andere große Partei sich währenddessen in der Opposition wiederfindet (und wieder findet).

Die These vom historischen Ende der "Projekte" heißt ebenso wenig, dass es nicht mehr lohnen würde, nach programmatischen Schnittmengen, nach der inhaltlichen Substanz möglicher Regierungsbündnisse zu fragen. Im Gegenteil, hier hat sich in den vergangenen Jahren ein Defizit des Nachdenkens bemerkbar gemacht. Wenn die früheren Automatismen der politischen Zuordnung nicht mehr funktionieren, nach denen die eine Partei quasi naturgesetzlich einer anderen zugeordnet ist, wird der Blick auf eine neue politische Agenda, auf veränderte gesellschaftliche Konfliktlinien, auf Verschiebungen in Milieus und Werthorizonten umso wichtiger. Bei einer ernsthaften Prüfung dieser Kriterien träte, doch das nur am Rande, auch die fundamentale Differenz zwischen SPD und Linkspartei viel klarer hervor als es die Beschwörung einer gemeinsamen "linken" Familie suggeriert.

Themen und Gemeinsamkeiten der "Ampel"

In der letzten Ausgabe der Berliner Republik (1/2009) hat Jens Hacke alle Gedanken an ein neues "sozialliberales Projekt" beiseite gewischt. Die SPD müsse "ohne Westerwelle auskommen", denn die gemeinsamen Themen als Basis einer gemeinsamen Regierung seien von ferne nicht zu erkennen. In seiner kritischen Diagnose einer FDP, die sich gefährlich verengt und von intellektuellen Milieus isoliert hat, ist ihm weithin zuzustimmen. Eines neuen rot-gelben Projekts aber bedarf es nicht, um beide Parteien an denselben Kabinettstisch zu führen. Welche andere, im Herbst 2009 realistische mehrheitsfähige Konstellation hätte denn ein Projekt vorzuweisen? Sicher nicht die Große Koalition, und selbst für Schwarz-Gelb mag man das nach der Entwicklung der letzten Monate füglich bezweifeln. Nur zwei andere Koalitionen wären derzeit politisch überhaupt möglich, nämlich die Dreierbündnisse Jamaikas und der Ampel. Über beide lohnt es sich nachzudenken. Wo könnten denn die Themen und Gemeinsamkeiten einer Ampelkoalition liegen? Wer würde sie unterstützen, wer steht ihr skeptisch oder gar ablehnend gegenüber?

Versucht man sich mit Hilfe einer Tabelle Klarheit zu verschaffen, die für die drei möglichen Koalitionspartner der "Ampel" jeweils zwischen Parteiführung/Parteieliten, Parteibasis (hier könnte man genauer nach Mitgliedern und Wählern fragen) und intellektuellem Unterstützermilieu unterscheidet, zeigt sich die vermutlich größte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Sie sind auf die Ampel als Ausweg aus der Großen Koalition besonders dringend angewiesen; wenn dieses strategische Kalkül die Parteispitze nicht antreiben würde, hätte sie ihre Aufgabe verfehlt. Die SPD müsste zudem in einer solchen Konstellation vorderhand am wenigsten um ihre Identität fürchten; sie wäre der größte Partner " aber eventuell nur noch knapp größer als die beiden Kleinen zusammen! " und besetzt zudem auf der konventionellen Rechts-Links-Skala die Mitte, mit den Grünen links und der FDP rechts von ihr. Gleichwohl würde die Zustimmung eine verunsicherte SPD-Basis gegenwärtig vor eine harte Probe stellen. Das liegt vor allem an einer tiefen Abneigung gegenüber der FDP, deren Wurzeln im Grunde bis in den Regierungswechsel von 1982 zurückreichen " man kann das inzwischen schon eine historische Entfremdung nennen. Das intellektuelle Umfeld der SPD dagegen scheint pragmatischer, zumal seit sein linker Flügel teilweise in die Unterstützung der Linkspartei abgewandert ist. Hier hat die alte, das Projekt von 1969 tragende Idee einer Versöhnung von Arbeiterschaft und liberalem Bürgertum in veränderter Form, jetzt das neue Bürgertum der Grünen einschließend, durchaus eine gewisse Strahlkraft bewahrt.

Eine fundamentale Milieufremdheit

Die Grünen bringen der Ampel insgesamt größere Skepsis, auch eine tiefere innere Zerrissenheit entgegen, welche die alten Spannungen zwischen linkem und realpolitischem Flügel spiegelt. Diese Spannung und Spaltung ist im intellektuellen Milieu, wo man eher auf Grundsatzfragen Wert legen kann und nicht auf pragmatische Politik blicken muss, wohl am stärksten ausgeprägt. Die skeptische Haltung des linken Flügels der Grünen überwiegt vermutlich auch an der Basis. Sie wurzelt in ähnlichen Affekten gegenüber den Liberalen, wie sie für Teile des SPD-Milieus typisch sind und die mit der folgenden Formel etwas plakativ, aber treffend ausgedrückt sind: Nicht mit den gegelten neoliberalen Karrieristen! Es ist diese fundamentale Milieufremdheit, die einer rot-gelb-grünen Ampelkoalition wahrscheinlich mindestens ebenso sehr im Wege stünde wie jede programmatische Differenz über die Steuer- oder Energiepolitik. Während junge CDU- und Grünen-Abgeordnete schon zu Bonner Zeiten die "Pizza-Connection" aufbauten und Wolfgang Schäuble aus seiner Sympathie für Grüne wie Antje Vollmer keinen Hehl machte, hat sich der Milieugraben zwischen der FDP einerseits, den Grünen und auch Teilen der SPD-Basis andererseits im Generationswechsel eher noch verstärkt.

Das beruht auf Gegenseitigkeit, womit wir bei der Perspektive der Westerwelle-Partei sind. Aus gelber Richtung ist die Ampel gegenwärtig wohl am schwersten vorstellbar. Das gilt für die tiefe Skepsis der Parteispitze " oder regt sich da doch etwas neben, hinter dem Vorsitzenden? " in zweierlei Hinsicht eindeutig: programmatisch und emotional; in einer dritten Hinsicht: nach Strategie und Machtkalkül, freilich nur bedingt. An der Basis der FDP sieht es kaum anders aus; auch hier mangelt es an einem Nährboden der wechselseitigen Empathie, wie er sich vielerorts zwischen CDU und Grünen in Großstadtbezirken herausgebildet hat und ohne den etwa die Hamburger Koalition nicht vorstellbar wäre. Impulse für neue Brücken könnten von intellektuellen Vordenkern ausgehen, die der FDP zugleich ihr seltsam antiquiertes Weltbild der Eindeutigkeit ein Stück weit austreiben müssten, das noch wie aus den siebziger Jahren zu stammen scheint und " außer bei der Linkspartei " kein Gegenstück bei einer anderen Partei findet: Wohl keine Partei ringt in zentralen Fragen der nachklassischen Moderne, ob es um den Sozialstaat geht oder um Wertefragen, so wenig mit sich selbst wie die FDP. Doch über ein intellektuelles Milieu, auch an den Universitäten, verfügen die Liberalen nicht mehr; Jens Hacke hat das ausführlicher dargelegt.

Ansatzpunkte zum Weiterdenken

Die Frage nach thematischen Schnittmengen, gar nach einer programmatischen Überlappung der drei möglichen Ampelpartner mag vor diesem Hintergrund müßig erscheinen. Sie lohnt dennoch eine kurze Probebohrung, denn aus einer Farbskala ergibt sich noch keine Regierungsarbeit; und sitzt man einmal zusammen, sollte man vorher wissen, womit man das Gespräch beginnt und womit besser nicht. Dass besonders die Grünen und die FDP in zentralen und "harten" Politikfeldern wie Haushalt, Finanzen und Steuern, aber auch Energie weit auseinander liegen, würden auch enthusiastische Ampelaner nicht bestreiten können. Aber gerade diese Beispiele zeigen auch die Ansatzpunkte zum Weiterdenken. In der Haushalts- und Finanzpolitik hat sich bei den Grünen längst eine Position durchgesetzt, die vor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit und der sozialen Nachhaltigkeit strikter auf Schuldenkontrolle und ausgeglichene Haushalte setzt, als das der SPD oft lieb ist. In der Steuerpolitik liegt ein gemeinsamer Bezugspunkt in einer wesentlich individualistischen Auffassung vom Steuersubjekt. Auf eine Abschmelzung des Ehegattensplittings zum Beispiel, die im familienorientierten Gesellschaftsbild der Union große Bedenken hervorruft, müssten sich die liberalen Individualisten von FDP und Grünen einigen können, wenn auch beide im Einzelnen unterschiedliche Gründe anführen würden.

Lebenschancen für alle als Leitmotiv

Das Stichwort "Energie" steht für eine andere Annäherung und damit exemplarisch für weite Bereiche einer künftigen Wirtschafts- und Technologiepolitik. Die oft theatralisch hoch gehängte Frage der Kernenergie darf man dabei getrost abrüsten. Ob man es bedauert oder begrüßt, Deutschland hat sich kulturell seit den achtziger Jahren aus der Atomenergie verabschiedet, mag es damit einen Sonderweg gehen oder nicht. Wenn die Grünen sich dazu durchringen könnten, ihren in der Realität und in der Parteiführung durchaus vorhandenen marktwirtschaftlichen Pragmatismus nicht ständig aus Kotau vor den romantisch-antikapitalistischen Sehnsüchten der Basis zu verleugnen, würde umgekehrt der FDP die Einsicht leichter fallen, dass Wachstum und Ressourceneffizienz, kreatives Unternehmertum und ökologisches Wirtschaften, Selbstständigkeit und Nachdenklichkeit zusammen gehören können. Sicher, auch eine schwarz-grüne Koalition wäre in der Lage, das Leitbild einer ökologischen Marktwirtschaft praktisch-politisch weiter zu entwickeln. Aber deshalb wird die FDP noch lange nicht dauerhaft darauf verzichten können.

Statt von programmatischen Schnittmengen zu sprechen, die schwer erwartbar sind und für eine Regierungskonstellation "nach den Projekten" auch gar nicht nötig " für ein "Jamaika-Bündnis" gilt nichts anderes ", sollte man eher auf die Suche nach Horizonten der Zukunft gehen, die auch von unterschiedlichen Standpunkten aus erkennbar werden. Das Feld der Gesellschaftspolitik könnte einen weiteren solchen Horizont bilden, dem sich postklassische linke Konzepte von "Teilhabe" ebenso zuordnen lassen wie das liberale, vor drei Jahrzehnten von Ralf Dahrendorf entwickelte Modell der "Lebenschancen"1. Lebenschancen und Teilhabe für alle können nur im Ausgleich gefunden werden: nicht im Ausgleich als einem billigen Egalitarismus, sondern in einem Ausgleich zwischen den Ansprüchen der Schwächeren auf faire Teilhabe und den Erwartungen der Stärkeren, ihre erarbeitete Leistung auch genießen zu können.

Darin könnte der Ansatzpunkt für eine zeitgemäße Reformulierung dessen liegen, was 1969 noch pathetisch, und ganz im Sinne der klassischen Industriegesellschaft, das Bündnis von Bürgern und Arbeitern war. FDP und Grüne stehen sich auch deshalb emotional so schroff gegenüber, weil sie zwei Flügel des Bürgertums repräsentieren, die in vieler Hinsicht " weit über diese beiden Parteien hinaus in der ganzen Gesellschaft " den Kontakt und die Sprachfähigkeit verloren haben: hier die neuen Formen des "Besitzbürgertums" der Selbstständigen, der Unternehmer, der wirtschaftsnahen Berufe und Mentalitäten; dort die neuen Gestalten des "Bildungsbürgertums", der Akademiker vor allem in staatlichen oder staatsnahen Diensten, in pädagogischen und kulturellen Berufen. Ob sich in dieser Konstellation der Horizont einer "neuen Bürgerlichkeit" erkennen lässt, bleibt eine offene Frage. Wie sich die SPD in diesem Wettstreit der bürgerlichen Brüderfeinde positioniert, wäre ein anderes, grundlegendes Problem der Ampel. Darin spiegelt sich die historische Zerreißprobe der SPD wider, die die Schwächsten nicht aufgeben darf, aber auch nicht zur Partei der Schwachen werden kann.

1 Vgl. Ralf Dahrendorf, Lebenschancen: Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt 1979.

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