Das dicke Ende kommt erst noch

Die Ergebnisse der Pisa-Untersuchung bedeuten einen herben Schlag ins Kontor des deutschen Bildungssystems. Wenn erst die Daten der Bundesländer vorliegen, könnten die alten Schulkämpfe aufleben - zum Schaden der Schüler

Jede Epoche sucht sich ihre eigene Bildungsreform. Schlüsselereignisse gehören dazu. In den sechziger und siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der Ost-West-Auseinandersetzung, stimulierte der Sputnik-Schock von 1957 die Mobilisierung von Bildungsreserven in den Vereinigten Staaten und schließlich auch beim treuesten Verbündeten, der Bundesrepublik Deutschland. Die Kennedy-Johnson-Ära brachte in Amerika das Head-Start-Program - milliardenschwere Investitionen zur Verbesserung der Bildungsinstitutionen und zur Aufwertung der sozialen Integration. In der Bundesrepublik gab es 1964 den Weckruf von Georg Pichts Buch Die deutsche Bildungskatastrophe, 1965 die Gründung des Deutschen Bildungsrates, den Bildungsgesamtplan von 1973 und den Bildungsaufbruch der Minister Hans Leussink und Klaus von Dohnanyi in der Ära Brandt-Scheel. Konkrete Initiativen für die vorschulische Pädagogik, die Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems - unter anderem mit der Gesamtschule - sowie die Förderung von behinderten Kindern und Jugendlichen kamen voran. Das Berufsbildungsgesetz, das Hochschulrahmengesetz und Hochschulbauförderungsgesetz sowie das BAFöG geben Zeugnis von dieser bisher fruchtbarsten Zeit deutscher Reformpolitik für Bildung und Chancengleichheit.

Was ist das Neue an Pisa?

Der Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satelliten und die Dominanz der internationalen Kapitalmärkte, der Multis und der neuen Internet-Wissensgesellschaften markieren den gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel weg von der Systemkonkurrenz, hin zur globalisierten pluralen Politik. PISA, die größte Bildungsstudie, die jemals erarbeitet wurde, hat gute Chancen, Indikator für diesen Paradigmenwechsel und zugleich Katalysator eines neuen Aufbruchs zu werden. Im globalen Wettbewerb der Standorte um Qualifikationspotentiale, um Zukunftsfähigkeit und Produktivität interessiert der weltweite Vergleich von Voraussetzungen, Strukturen und Leistungen der jeweiligen Schulsysteme der verschiedenen Staaten und Gesellschaften mehr denn je. Die Möglichkeit zum globalen Bildungsvergleich beflügelt das Interesse am eigenen Zustand, der Auseinandersetzung im vergleichenden Wettbewerb und der Aufarbeitung von best practice. Nachdem es bislang bereits kleinere nationale oder auf wenige Nationen beschränkte Bildungsvergleiche gab, bringt Pisa jetzt eine neue Quantität und Qualität in die internationale Diskussion.
Was ist das Neue an Pisa? Dieses Programme for International Student Assessment steht für die zyklische Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generationen. Sie wird von der OECD durchgeführt und von allen Mitgliedsstaaten gemeinsam getragen. In 32 Staaten nahmen im Frühsommer 2000 rund 180.000 Schüler und Schülerinnen im Alter von 15 Jahren an dieser Untersuchung teil. In Deutschland bestand die repräsentative Stichprobe aus etwa 5.000 Schülern und Schülerinnen von 219 Schulen. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag im Jahr 2000 auf der Lesekompetenz. Im Jahr 2003 wird es um die mathematische Grundbildung gehen, 2006 um die naturwissenschaftliche.

Diese Grundbildungsarten definieren sich dabei nicht nur als Beherrschung des vorgesehenen Lernstoffs. Sie zielen auch auf wichtige Kenntnisse und Fähigkeiten, die man als Erwachsener benötigt. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Beherrschung von Prozessen, auf dem fächerübergreifenden Verständnis von Konzepten sowie auf der Fähigkeit, innerhalb eines spezifischen Bereiches mit unterschiedlichen Situationen umzugehen. PISA mit seinem literacy-Konzept ist damit mehr als ein bloßes Testinstrument. Es setzt gleichzeitig Normen im Sinne eines Bildungsverständnisses, das Schlüsselqualifikationen, problem- und handlungsorientiertes Lernen sowie die Ausprägung von Bildungskompetenz betont. Indem hier das ehrgeizige Ziel einer weltweiten Indikatorensammlung verfolgt wird, muss sich PISA notgedrungen von einer Fixierung auf einen nationalen Wissenskanon, auf landesspezifische Lernkultur und spezialisierte Fähigkeiten verabschieden. Sinnvoll war, dass die Lesekompetenz zum Inhalt der ersten großen Untersuchungswelle gemacht wurde. Hiermit hat die OECD das Fundament von Bildbarkeit in den Mittelpunkt gerückt.

Jeder Fünfte kann kaum lesen

Umso schwerer wiegen die ersten Ergebnisse, die Die Zeit auf Deutschland bezogen nicht ohne Grund als "lehrreiches Desaster" bewertet hat. So liegt Deutschland hinsichtlich der erbrachten Leistungen generell unter dem Durchschnitt. Der Abstand nicht nur zur Spitzengruppe, sondern selbst zum Mittelfeld der an dem Vergleich beteiligten Länder ist alarmierend. Dramatisch für Deutschland ist der hohe Anteil von über 20 Prozent der Schüler, die bei der Lesekompetenz die niedrigsten Leistungsstufen erreichen. Insgesamt streuen die Schülerleistungen in Deutschland sehr breit, die Leistungshomogenität ist gering. Demgegenüber gibt es Staaten, die sowohl hohe Durchschnittswerte als auch eine hohe Leistungshomogenität erzielen.

Das deutsche Schulsystem ist offenbar nicht in der Lage, allen Jugendlichen eine solide Grundbildung zu vermitteln. Die Ergebnisse von Pisa I deuten darauf hin, dass die Leistungsdifferenzen in Ländern mit sehr selektiven Schulsystemen besonders stark sind. Mehr als anderswo ist in Deutschland noch immer die soziale Herkunft für Bildungsweg und Leistung entscheidend. Die Entkopplung zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung ist im Vergleich zu anderen Staaten vollkommen unzureichend. Besonders bei der Gruppe der nicht in Deutschland geborenen Jugendlichen wirkt das deutsche Schulangebot nicht ausgleichend und fördernd.

Krass bestätigt PISA frühere Teilstudien, warnende Hinweise von Bildungsforschern sowie das weit verbreitete Unbehagen bei Praktikern in Bildungswesen und Berufswelt. Mancher hatte es nicht wahrhaben wollen. Die föderativ bedingte Konzentration auf die Konkurrenz der Bundesländer mochte dazu verführen, Deutschland im internationalen Vergleich zu überschätzen. Spätestens jetzt sind Verdrängung, Beschönigung und die Reaktivierung alter Frontstellungen nicht mehr angebracht. Die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange hat Recht: Nötig ist die "unaufgeregte" Verarbeitung der Untersuchungsergebnisse. Lesekompetenz ganz im Sinne von Pisa ist jetzt gefragt - nämlich Rezeption, Reflektion und dann die "Doppelstrategie von den vielen kleinen Schritten, aus denen der Alltag besteht und neue Visionen für die große Fahrt des Bildungsdampfers" (Reinhard Kahl).

"Ich fürchte mich am meisten vor den Personen, die jetzt genau wissen, was zu tun ist", erklärt Jürgen Baumert, der deutsche Projektleiter von Pisa und Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Deshalb wird der erste und wichtigste Schritt nun darin bestehen, im Lichte der Untersuchung eine Verständigung über die zentralen Aufgaben herbeizuführen. Drei Sachverhalte stellt PISA ins Zentrum: Erstens, über 20 Prozent junge Menschen mit vergleichsweise sehr gering ausgebildeten Fähigkeiten in der Schlüsselkompetenz Leseverständnis sind ein gravierendes gesellschaftliches und die Zukunftsfähigkeit bedrohendes Problem. Zweitens, die geringe soziale Durchlässigkeit unseres Bildungssystems wirft die Frage nach der kompensatorischen Leistungsfähigkeit der Schule auf und stellt zugleich deren gesellschaftliches, familiäres und soziokulturelles Umfeld auf den Prüfstand. Drittens, in einer Gesellschaft, die auf Zuwanderung angelegt ist, muss die Bildungsintegration der nachwachsenden Generationen besser gelingen.

Schulpolitische Prioritäten vorgeblicher "Modernisierer" - die Verkürzung der Schulzeit, der Vorrang für die Förderung von Hochbegabung, die Systemdifferenzierung und die Vertiefung der Selektion - geraten somit in den Hintergrund. Ins Zentrum treten dagegen die Verbesserung der Qualität des Unterrichts, die innere Differenzierung der Schule, die Verstärkung ihrer Durchlässigkeit, die Integration und Kooperation im Schulsystem, die Gestaltungsfreiheit der einzelnen Schule, deren Milieuverbundenheit und Praxisnähe.

Reformen statt Länderkonkurrenz

Mit dem Forum Bildung, einer Initiative von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, sind seit zwei Jahren parteiübergreifende Vorarbeiten geleistet worden, die den durch PISA aufgeworfenen Reformbedarf geradezu antizipieren. Gerade weil das Bildungswesen in Deutschland in seiner föderativen Struktur tendenziell auf Wettbewerb angelegt ist, gerade weil es in der Gefahr parteipolitischer und ideologischer Fixierungen steht, ist dieser neue kooperative und konsensuale Pragmatismus besonders wichtig. Alte Streitfragen können dabei umso leichter zurücktreten, je mehr sich der Blickwinkel auf das einzelne Kind und den einzelnen Jugendlichen, dessen Voraussetzungen und Bildungspotentiale richtet. Nach Pisa war die Kultusministerkonferenz relativ schnell in der Lage, einen Sieben-Punkte-Katalog gemeinsamer Handlungsziele aufzustellen. Das belegt die prinzipielle Bereitschaft, das im Grundsatz rückschrittliche Wettbewerbsmodell zwischen den Bundesländern durch einen kooperativ angelegten, auf Gemeinsamkeit ausgerichteten Reformprozess zu ersetzen. Die Parzellierung der schulischen Bildung in Deutschland stünde im Widerspruch zu den globalen Konvergenzen.

Mögliche positive Effekte des Wettbewerbs sind auch deshalb obsolet, weil nicht zuletzt die PISA-Studie den weltweiten System- und Strukturvergleich ermöglicht. Hieran muss sich die deutsche Bildungsreform erst einmal abarbeiten. Statt in übersteigerte Länderkonkurrenz auseinanderzufallen, muss der gemeinsame Prozess der Schulreformen unbedingt fortgeführt werden, so wie er vom Forum Bildung mit seinen Kooperationsstrukturen zwischen Bund und Ländern, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Bildungsbeteiligten angelegt ist. Es wäre nur zu begrüßen, wenn hieraus ein neuer Bildungsrat und ein nationaler Bildungsplan erwüchsen wie in den siebziger Jahren. Sollte das die Kooperationsfähigkeit der Beteiligten überfordern, hat das Forum Bildung immerhin schon ein Dutzend wichtige Handlungsfelder definiert, die durch PISA nachdrücklich bestätigt worden sind.

Sachlichkeit und die Orientierung am Konsens wären auch deshalb hilfreich, weil die eigentliche Nagelprobe für die Qualität der deutschen Bildungsdiskussion erst noch bevorsteht: Zum zweiten Halbjahr 2002 kommen die Ergebnisse der Pisa-Deutschland-Studie heraus, bei der die Lesekompetenz von 50.000 Schülern in Deutschland nach den gleichen Kriterien in der globalen Pisa-Studie betrachtet werden. Damit sind dann auch Vergleiche der Bundesländer, der Schularten und der Schulen möglich, so dass insgesamt ein differenziertes Bild über Strukturen und ihre Effekte in Deutschland selbst erkennbar wird. Die Gefahr ist groß, dass diese nationale Vergleichsstudie alte schulpolitische Kämpfer aus ihren Rückzugsgräben hervorholen wird. Damit wären die Chancen von Pisa vertan.

Die Mysterien des Bildungsbürgertums

Umso wichtiger ist es, die Reformidee des Forums Bildung jetzt aufzunehmen, zu festigen und in finanziell untermauerten Schritten zu verwirklichen. Das zentrale Handlungsfeld muss dabei die Qualifizierung der frühkindlichen Pädagogik in Kindertagesstätten und Grundschulen werden. Es bleibt sonst ein Mysterium deutsch-bildungsbürgerlicher Gymnasialpolitik, dass die im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Ausstattung der deutschen Oberstufe kontrastiert wird durch die besonders schlechte Ausstattung von Grundschulen und vorschulischen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Dass die Kindertagesstätten kein Schulersatz werden, ist klar. Doch ebenso klar ist, dass spielerisches, kindliches Lernen besser gefördert werden kann - gerade mit Blick auf die Ausbildung von Sprachkompetenzen, Lernhaltung und Lernfreude.

Pisa hat gezeigt, dass diejenigen Länder sehr gute Plätze im internationalen Schulranking belegen, die eine gewachsene Ausstattung von Ganztagsschulen und ein System des gemeinsamen Unterrichts für alle Schüler betreiben, das ohne frühzeitige schulische Separation in unterschiedliche Bildungswege auskommt. Zwar wurde diese Frage im Forum Bildung bewusst ausgespart, um nicht den konsensualkonstruktiven Prozess zwischen den Parteien schon am Anfang ins Stolpern zu bringen. Dennoch muss an dieser Frage unter dem Vorzeichen von Integration und Kooperation weiter gearbeitet werden - nicht im Sinne der vergifteten Debatte um die Gesamtschule als System, sondern mit dem Leitgedanken der differenzierten Schule und der Differenzierung in der Klassengemeinschaft selbst. Mit Recht weisen Fachleute darauf hin, dass hier auch der Schlüssel zu einer stärkeren Förderung von Benachteiligten wie den Kindern von Einwanderern liegt.

Wie machen sie es eigentlich in Rovaniemi?

Für deutsche Bildungsreformer liegt jetzt angesichts von Pisa der Blick auf die erfolgreichere europäische Nachbarschaft nahe, nicht zuletzt der kulturellen Nähe wegen. Wir sollten uns nicht zu schade sein, Wissenschaftler und Praktiker in diese Länder ausschwärmen zu lassen, um zu erkunden, wie dort vor 10 oder 15 Jahren die Weichen gestellt wurden. Und wir sollten eine europäische Initiative von Schulforschung, Lehrerausbildung und Lehreraustausch starten, die Europa insgesamt durch learning by visiting im OECD-Vergleich voran bringt. Finnland, Schweden, England, um nur ein paar Länder aus dem oberen Spektrum von Pisa zu nennen, haben vorgemacht, wie zielgerichtete Bildungsanstrengungen, die Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Lern- und Leistungsfähigkeit verbinden, zu signifikant positiven Ergebnissen führen können. Grund zur Hoffnungslosigkeit besteht also nicht. Die gute Botschaft von Pisa laute: "Man kann Schule besser machen", hat Werner Lange, Beauftragter für Pisa in der Deutschen Kultusministerkonferenz, die Ergebnisse von Pisa I kommentiert. In anderen Länder habe man schon vor Jahren damit begonnen, die Lesefähigkeit der Schüler zu verbessern - jetzt zeichneten sich erste Erfolge ab. "Die Mühe lohnt sich also", sagt Lange. Wir werden sie uns allerdings machen müssen.

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