Charisma.

Auch Willy Brandt brauchte Jahre, bis die Partei ihn liebte

Gewiss, es hat schon schwierigere Zeiten gegeben im Verhältnis der deutschen Sozialdemokraten zu ihrem Gerhard Schröder. Aber eine stürmische Liebesbeziehung ist auch nicht gerade entstanden. Und damit ist in naher Zukunft auch kaum zu rechnen. Zwar trauern nur noch wenige Aktivisten der Partei ihrem langjährigen Leitwolf, dem zuletzt irrlichternden Sozialagitator aus dem Saarland, hinterher. Doch noch immer hadern sie mit der neuen Mittigkeit und den blairistischen dritten Wegen des Kanzlers. Noch immer sind eine Menge Parteisoldaten mindestens im Stillen davon überzeugt, dass mit Schröder das Aus für die gute alte Programm- und Gesinnungsgemeinschaft, der Sieg der opportunistischen Medienpartei und somit das ganze Unheil der Linken begonnen habe. Und hin und wieder sprechen dann einige wehmütig von dem großen Willy Brandt, dem legendären Visionär, Integrator und Anführer der demokratischen Sozialisten in Deutschland.

Denn niemand erinnert sich mehr daran, dass ausgerechnet mit Willy Brandt der sozialdemokratische Sündenfall begann, das erste große Zugeständnis der Partei an die Mediengesellschaft. Das war 1960. Nach vielen bitteren Niederlagen mit dem doktrinären Tribunen Kurt Schumacher und dem biederen Traditionalisten Erich Ollenhauer an der Spitze, orientierten sich die Sozialdemokraten damals neu. Der Wahlerfolg galt nunmehr als die Ideologie. Eben darum nominierte die SPD den jungen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, zum Kanzlerkandidaten. Sie kürte Brandt, weil er Repräsentant der damals zweitwichtigsten Stadt der Republik war. Aber sie entschied sich auch deshalb für ihn, weil er im neuen Medium der neuen Freizeitgesellschaft, dem Fernsehen, besser als jeder andere Sozialdemokrat ankam. Und die Sozialdemokraten trafen ihre Wahl für Brandt, weil er jung und smart erschien, weil er ein wenig an den damals kultigen John F. Kennedy erinnerte, im übrigen auch, weil er in den frühen 60er Jahren noch der Favorit des Axel Cäsar Springer und seiner Presseerzeugnisse war. Kurzum und schließlich zusammen: Die Sozialdemokraten einigten sich auf Willy Brandt, weil er unter allen Führungsfiguren der SPD am entschiedensten in die sich neu sortierende Mitte der Gesellschaft steuerte. Mit Brandt als Wahlkampfführer verließ die SPD das alte sozialistische Milieu und drang allmählich in das neubürgerliche Deutschland vor.

Die SPD hatte sich in der Tat verändert. Telegene Ausstrahlung wog auf einmal schwerer als politische Gediegenheit oder gar programmatische Verlässlichkeit. Überdies hatte Brandt in der ersten Hälfte der sechziger Jahre als Kanzlerkandidat immer wieder deutlich gemacht, dass er sich nicht als Agent des Parteiwillens begriff, dass er sich nicht an Parteitagsbeschlüsse gefesselt fühlte. Die Sozialdemokraten nahmen das zähneknirschend hin, obschon Brandt damit gegen den bis dahin sakrosankten Primat der Partei und ihrer politischen Prinzipien verstoßen hatte. Die alte programmfixierte SPD trat für ein Jahrzehnt von der Bühne. Die neue SPD und ihre Führung ging nun weitaus nonchalanter mit ideologischen Prinzipien um. Sie wechselte die Bekenntnisse je nach Bedarf, Konstellation und vor allem: nach dem demoskopisch ermittelten Mehrheitswillen der Wähler. Brandt und ganz besonders Herbert Wehner, der eiserne Zuchtmeister der Partei, ordneten politische Überzeugungen den Imperativen der Machtstrategie unter. Das war neu in der SPD. Doch am Ende brachte es die notorische Oppositionspartei an die Regierung.


Einige Probleme aber bereitete es schon. Vor allem hatte Willy Brandt es anfangs schwer, sich Autorität zu verschaffen. Er war zunächst keineswegs der große Parteiführer, als der er in den historischen Erinnerungen seiner Enkel heute verklärt wird. Brandt brauchte Jahre, um sich durchzusetzen, um von der Partei voll akzeptiert zu werden. Wie viel Reserve ihm gegenüber in der SPD anfangs bestand, zeigte sich schon auf dem Hannoveraner Parteitag 1960. Dort nominierten ihn die Delegierten zwar offiziell zum Kanzlerkandidaten der deutschen Sozialdemokratie. Zugleich aber gaben sie ihm bei den Wahlen für den Parteivorstand derart wenig Stimmen, dass er weit abgeschlagen auf dem 21. Platz landete. Der innerparteiliche Rückhalt Willy Brandts war zu Beginn seiner bundespolitischen Karriere äußerst dünn. Brandt war nicht durch die Partei groß geworden, sondern durch sein Amt als Regierender Bürgermeister. Ihm fehlten die innerparteiliche Ochsentour, die Kontakte zu maßgeblichen Funktionären und Delegierten der SPD. Das machte ihn in den ersten Jahren abhängig von Herbert Wehner, dem Drahtzieher und Oberkommandierenden. Wehner galt bis Mitte der sechziger Jahre als der Königsmacher in der SPD, Brandt dagegen firmierte nur als politisches Leichtgewicht.

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Daher wählten die Sozialdemokraten Brandt 1964 mit nicht gerade überschwänglichem Enthusiasmus zum Parteivorsitzenden. Die Skepsis über den neuen Mann an der Spitze war in der Partei weit verbreitet. Zweifel herrschten insbesondere darüber, ob Brandt die Doppelbelastung von Regierungsamt in Berlin und leitender Parteifunktion in Bonn würde schultern können. Sozialdemokratische Parteitradition jedenfalls war das nicht. SPD-Parteiführer hatten sich bis dahin nur um Partei und Fraktion gekümmert und sich zuallererst auf oppositionelle Rhetorik beschränkt. Doch von diesem Image wollten die neuen Strategen der Macht in der SPD weg. Die SPD sollte nicht mehr als die Partei der Opposition, des Neinsagens, des Nörgelns wahrgenommen werden. Sie sollte einen Mann an der Spitze haben, der mit der Würde und Autorität eines herausragenden Regierungsamts seine Partei in der Öffentlichkeit gouvernemental repräsentierte. Deshalb fiel die Wahl auf Brandt. Über ein halbes Jahrzehnt blieb die Grundlage seiner Führungsstellung in der SPD das Regierungsamt, nicht die Parteibasis.

Anfangs aber schienen die Kritiker Brandts recht zu behalten. Brandt hatte Mühe, den Spagat zwischen Berlin und Bonn auszuhalten. Er bekam weder die Partei richtig in den Griff, noch hielt er 1964 den Berliner Senat zusammen. Durch die Doppelbelastung wirkte er ausgebrannt und erschöpft. Er war nicht mehr der jugendlich frische Kandidat, der 1961 den greisen Bundeskanzler Adenauer selbstbewusst herausgefordert hatte. Brandt war 1964/65 eher eine Belastung für seine Partei. Er war keine Zugmaschine mehr, kein ernsthafter Konkurrent zur Wahllokomotive Ludwig Erhard. Als es Erhard bei den Bundestagswahlen 1965 gelang, die Stimmen der Union wieder bemerkenswert zu steigern, schien Brandts bundespolitische Karriere bereits abgelaufen. Für die Öffentlichkeit war er ein Mann ohne Fortune, ein Verlierer. Brandt selbst war psychisch angeschlagen, von Depressionen befallen, resigniert. Er erklärte nach den Wahlen, als Kanzlerkandidat künftig nicht mehr zu Verfügung zu stehen.

Dann aber erlebten Partei und Republik die überraschende Renaissance des Willy Brandt. Von 1966 bis 1969 wurde er zum unumstrittenen Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie, kraft eigener Autorität und nicht durch das machtstrategische Kalkül von Herbert Wehner. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum Führer der SPD und zum Kanzler der Republik wurde Brandt paradoxerweise deshalb, weil er nicht mehr Kanzlerkandidat sein wollte. Der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur befreite Brandt von einer Bürde, die ihn gehemmt und belastet hatte. Danach trat er gelöst und befreit auf, sehr viel offener als in den Jahren zuvor. Er stilisierte sich nicht mehr, gab die gespreizte Würde der frühsechziger Jahre auf, stolzierte nicht mehr wie der deutsche Kennedy durch die politische Landschaft. Brandt spielte jetzt keine der ihm vom politischen Marketing geschriebenen Rollen mehr. Brandt war jetzt er selbst.

Denn er hatte nun seine politische Mission gefunden, die ihn authentisch und stark machte und ihm eine politisch ergebene Gefolgschaft verschaffte. Willy Brandt wurde zum kühnen Protagonisten einer neuen Deutschland- und Ostpolitik. Die betrieb er ab 1966 ähnlich entschlossen wie Konrad Adenauer in den frühen fünfziger Jahren seine Westpolitik. Das war dann auch bei ihm Quelle des Charismas, Treibstoff seiner Führungskraft. Willy Brandt brachte mit seiner außenpolitischen Konzeption nun endlich auch die Parteiaktivisten der mittleren und unteren Ebene hinter sich. Die Sozialdemokraten hatten im Laufe der sechziger Jahre viele Zumutungen ihrer Führung ertragen müssen. Sie hatten den drastischen Anpassungskurs der Parteispitze an die Politik der Union zwar hingenommen, aber ideologisch nicht wirklich akzeptiert. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre dürsteten die sozialdemokratischen Funktionäre unterhalb der Spitzenebene nach einer Politik des Kontrasts zum politischen Gegner, nach einer scharf gezeichneten sozialdemokratischen Alternative. Willy Brandt gab ihnen jetzt das, wonach sie verlangten. Mit seinen deutschland- und außenpolitischen Perspektiven konnten sich die Sozialdemokraten kämpferisch identifizieren und von der ungeliebten Union absetzen. Auch in der Großen Koalition, die für viele sozialdemokratische Aktivisten nur schwer auszuhalten war, verfolgte Brandt seine außenpolitische Linie weiter und geriet darüber in ständigen Konflikt mit dem Bundeskanzler Kiesinger. Das festigte das sozialdemokratische Profil stärker als in den oppositionellen Jahren vor 1966; es konsolidierte die Position Brandts in seiner Partei mehr denn je. Er wurde jetzt - und wirklich erst jetzt, sieben Jahre nach seiner ersten Wahl zum Kanzlerkandidaten - zum Helden der sozialdemokratischen Funktionäre und Delegierten. Sein außenpolitischer Entwurf schnitt sich trefflich mit den friedenspolitischen Sehnsüchten der sozialdemokratischen Basis. Reale Außenpolitik und sozialdemokratische Entspannungsvisionen gingen selten zusammen. In dieser Situation trafen sie sich einen kurzen, wohl illusionären Moment lang.

Den Gipfelpunkt unbestrittener Führungsautorität erreichte Willy Brandt 1969 bis 1973. Die Konstellation jener Jahre war geradezu ideal für ihn. Die SPD verjüngte sich radikal, erneuerte sich rundum, zersplitterte und zerstritt sich. Sie benötigte den Integrator, der neue Strömungen und alte Traditionen verknüpfte, der keinen Flügel abstieß. Willy Brandt war dieser Mittler der zerklüfteten SPD. Brandt konnte jetzt seine Mitte der sechziger Jahre entdeckte ostpolitische Mission in Regierungshandeln umsetzen. Dabei hatte er als Kanzler und Parteivorsitzender eine in dieser Frage geschlossene und mobilisierungsbereite SPD hinter sich, was ihm trotz der labilen parlamentarischen Mehrheit eine außerordentlich starke Stellung in der politischen Auseinandersetzung mit der Opposition verschaffte. Aus diesem Grund konnte er sein außenpolitisches Kernanliegen zielstrebig verfolgen, schließlich durchsetzen. Je unbeirrter Brandt dieser Mission nachging, desto größeres Charisma entfaltete der Kanzler und sozialdemokratische Parteivorsitzende.

Indes, Brandt entrückte, und das nicht nur in seiner Partei, vom Außenpolitiker zum großen Friedensstifter und Völkerversöhner. Für weite Teile der Nachkriegsgeneration, vor allem für die damals noch agilen Linksintellektuellen verkörperte Brandt das bessere Deutschland. Brandt hatte die richtige Biografie. Er hatte in den bösen Zeiten auf der Seite der Guten gestanden. Er war dazu berufen, deutsche Schuld zu tilgen, eine Politik der Entspannung überall dorthin zu tragen, wo deutsche Truppen einst kriegerisch gewütet hatten. Brandt war in jenen Jahren ein säkularisierter Heiland des sozial-liberalen Deutschlands, wozu sakrale Symbolik, wie der Kniefall in Warschau und die Verleihung des Friedensnobelpreises, erheblich beitrugen. Sein charismatischer Glanz hatte ihn 1971/72 den Niederungen der Parteiquerelen enthoben. Er stand als Friedensstifter zwischen Ost und West über den kleinlichen Auseinandersetzungen parteiinterner Flügel und Kreise. Keine Gruppe konnte ihn allein für sich reklamieren. In Brandt bündelte sich die sozialdemokratische Gesamtperspektive. Die Basis seiner unumstrittenen Autorität, seiner konkurrenzlosen Führungsstellung in der SPD bis 1972 war das Charisma des Heilsbringers einer neuen Friedensordnung in Europa.

Allerdings strahlt ein Charismatiker nur so lange, wie er die grundlegenden historischen Probleme zu lösen verspricht. Beginnt die politische Kleinarbeit der Regierung, setzt nach den geschichtlichen Großereignissen der spröde Alltag ein, dann endet die charismatische Wirkung. Diesen Verschleiß des Charismas haben alle großen deutschen Kanzler seit 1870 erleben müssen. Und auch auf Brandt kam diese bittere Erfahrung nach seinem grandiosen Wahlsieg 1972 zu. Die großen ost- und deutschlandpolitischen Verträge waren ratifiziert und verabschiedet, nun ging es lediglich um die sperrige und oft kleinkarierte Übersetzung der Vertragstexte in die politische Realität. Die Ostpolitik verlor ihre Faszination; Kanzler Brandt büßte seine besondere Aura ein. 1973/74 regierte er sichtlich lustlos und ohne Energie. Defizite in der Führung der Partei wurden jetzt deutlich. Brandt moderierte die Partei, aber er führte sie nicht; er prägte ihr nicht seinen Willen auf. Es gelang ihm nicht, Partei, Bundestagsfraktion und Regierung zu einer Handlungseinheit zusammenzuschweißen. Die politischen Positionen der SPD entfernten sich in den frühen siebziger Jahren immer mehr von den praktischen Möglichkeiten der Regierungspolitik. In diesen Jahren entstand die Spannung zwischen Partei und Regierung, die zu chronischen Frustrationen, schließlich zu einer Art oppositioneller Distanz der jungen sozialdemokratischen Aktivisten zur eigenen Regierung führte. Brandt trat dieser Entwicklung nicht energisch entgegen. Programmatisch äußerte er sich nur vage und wolkig, so dass sich alle Gruppen in der SPD auf ihn beziehen und dadurch legitimieren konnten, selbst die linken Ideologen bei den Jungsozialisten, deren marxistische Terminologie und Sozialisierungsprojekte die wenige Jahre zuvor als Wähler gerade erst gewonnenen Mittelschichten von neuem verschreckten. Brandts Rhetorik übertünchte die innerparteilichen Konflikte, löste sie aber nicht.

Dabei hätte Willy Brandt eine realistische sozialdemokratische Politik in den Debatten der Partei sehr viel schärfer und energischer konturieren müssen. Er hätte Grenzen markieren, administrative und personelle Konsequenzen gegen die mitunter bizarren Auswüchse des linken Radikalismus ziehen müssen. Davor aber schreckte Brandt meist zurück. So untergrub er selbst das Fundament seiner Regierungsführung. Die Kultur- und Generationenkämpfe in der SPD stießen immer mehr Wähler ab. Die Beschlüsse der Partei waren nur schwer mit der Regierungspolitik zu vermitteln. 1973/74 geriet die SPD in ein Tief. Die Mehrheitsfähigkeit der sozial-liberalen Regierung stand in Frage. Darüber, unter anderem, stürzte der Kanzler. Der reformistische Frühling in der Republik war am Ende. Seither trauern, verklären und nostalgisieren die deutschen Sozialdemokraten.

Denn zurück bleibt der Mythos Brandt. Er hing den Sozialdemokraten ein Vierteljahrhundert wie Ballast am Hals. Dabei fanden Brandt und seine Sozialdemokraten auch erst nach langem Fremdeln und auch dann erst in der Regierung zusammen. Aus dieser Geschichte könnte Schröder eigentlich Hoffnung schöpfen. Aber Brandt hatte es im Grunde einfach. Er hatte mit der Entspannungspolitik, in einer dafür einmalig günstigen weltpolitischen Konstellation, das sozialdemokratische Thema, das die Genossen mobilisierte. Seither ist es weit schwieriger geworden mit den identitätstiftenden, integrativen sozialdemokratischen Erzählungen. Eben deshalb scheiterten bisher die sozialdemokratischen Parteivorsitzenden serienweise. Doch auch diese Geschichte, die Geschichte des Verlusts und der schweren Niederlagen der Linken, fing bereits mit Willy Brandt an. Allmählich dämmert das den Sozialdemokraten. Die Sehnsucht nach alten oder neuen Charismatikern ist geringer geworden. Darin liegt Schröders Chance.

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