Charisma macht müde Demokratien munter

Julia Encke hofft auf die Erneuerung unseres Gemeinwesens aus der Kraft des »demokratischen Charisma«. Es dürfte bei der Hoffnung bleiben

Könnten Politiker mehr öffentliches Interesse, Leidenschaft und Begeisterung für Politik wecken, wenn sie charismatischer wären? Die Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Julia Encke ist davon überzeugt. Auf knapp 200 Seiten macht sie fehlendes Charisma als Leerstelle unserer politischen Landschaft aus. Dabei widmet sie sich ausführlich der Charisma-Debatte seit der Nachkriegszeit und bemängelt die anhaltende Angst vor dem charismatischen Verführer – einem Politiker, der die Massen kraft seiner Ausstrahlung für seine politische Agenda instrumentalisiert. Die Autorin plädiert stattdessen für eine positive Definition des Charisma-Begriffs in der Politik.

Die Suche nach dem positiven Charisma

Als Beispiele stellt Encke unterschiedliche Politiker wie Willy Brandt, Petra Kelly, Richard von Weizsäcker, Joschka Fischer oder Marina Weisband nebeneinander. Ihre These: Diese Persönlichkeiten hätten „demokratisches Charisma“ für ihre politische Arbeit genutzt. Charisma also, das sich „positive Wertverwirklichung im Dienste der Gesamtheit“ zum Ziel setze.

Bedauerlicherweise folgt die Autorin dieser ebenso engen wie positiven Definition sklavisch. Anstatt Charisma in seiner Ambivalenz zu betrachten, blendet sie seine negativen Wirkungen einfach aus. Darunter leidet der Erkenntniswert ihrer Analyse erheblich. Schließlich ist es nur ein schmaler Grat zwischen gemeinwohlorientierter und antidemokratischer Mobilisierung. Wo Persönlichkeit und politische Vision zu einem begeisternden Ganzen verschmelzen, ist der Missbrauch nicht weit.

Guttenberg wird aussortiert

Die Schwächen von Enckes eng umhegter Perspektive auf die Bedeutung von Charisma im politischen Raum zeigen sich am stärksten in den Passagen über Karl-Theodor zu Guttenberg. Die Deutschen seien ihrer Adelsbegeisterung auf den Leim gegangen, befeuert durch eine fast beispiellose mediale Hochschreiberei des ehemaligen Ministers. In Wirklichkeit sei zu Guttenberg gar nicht charismatisch gewesen, sondern habe lediglich Manieren gehabt. Im Übrigen habe sein politisches Wirken nicht auf gemeinwohlorientierten Werten basiert, die in Enckes Definition von Charisma aber zwingend enthalten sind.

In dieser äußerst subjektiven Wertung zeigt sich die analytische Schwäche des Buches. Guttenbergs politischem Handeln jedwede Gemeinwohlorientierung abzusprechen, schießt über das Ziel hinaus – sein politisches wie persönliches Versagen hin oder her. Es scheint, als müsse die Autorin derlei subjektive Setzungen nutzen, um das Charisma des Politikers dekonstruieren zu können. Nur so gelingt es ihr, den ausschließlich positiven Fokus auf die „Gnadengabe“ Charisma beizubehalten.

Tatsächlich beruhte Guttenbergs Popularität nicht auf politischer Leistung, sondern auf der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person. Deshalb ist er ein hervorragendes Beispiel dafür, wie charismatische Persönlichkeiten die Öffentlichkeit in die Irre führen können. Das Faszinierende und Gefährliche an dem CSU-Politiker war ja gerade, dass die Öffentlichkeit ihn als charismatisch und wertgebunden wahrgenommen hat. Dies anzuerkennen ist die Voraussetzung, um das destruktive Potenzial von Simulations-Politikern wie Guttenberg erkennen zu können. Erst dann ist es möglich, ihr Wirken zu analysieren und abgeklärt damit umzugehen. Anstatt hierfür ein Beispiel zu geben, schließt die Autorin Guttenberg schlankerhand aus ihrer Charisma-Analyse aus. Ein akademischer Taschenspielertrick, der nicht überzeugt und den Erkenntniswert ihrer Analyse erheblich schmälert.

Trotzdem lohnt es sich, Enckes Buch zur Hand zu nehmen. Insbesondere die Diskussion des Charisma-Begriffes nach Max Weber ist aufschlussreich. Die Autorin zeigt auf, wie geschichts- und kontextvergessen der deutsche Soziologe heutzutage zitiert wird. Nun ist das erst einmal keine große Überraschung: Die Inflation von Weber-Zitaten ist schließlich nicht nur der Qualität seines Werks geschuldet, sondern vor allem der Abneigung des politischen Raumes gegenüber dem Lesen abseits des Pflichtkanons. Doch Encke erläutert, dass Charisma nach Weber eben nicht nur etwas ist, das man hat oder nicht. Vielmehr ist Charisma ein Initial, das Begeisterung zündet. Es kann aber nur durch eine Kombination aus politischer Leistung und charismatischem Auftreten am Leben gehalten werden. Charisma ohne politischen Erfolg ist immer nur Strohfeuer.

Es ist bedauerlich, dass Encke diese Erkenntnis nicht weiterdenkt. In Zeiten der Mediendemokratie versteckt sich gerade hier die Gefahr des Charismatischen in der Politik. Wo Charisma und Leistung nicht korrespondieren, bleiben schnell Desillusionierung und politische Apathie zurück. Der von Encke immer wieder angeführte Barack Obama ist ein gutes Beispiel. Fraglos gelang es dem damaligen Präsidentschaftskandidaten mit seiner Erlösungsrhetorik im Jahr 2008 die Massen zu mobilisieren, die zuvor nicht Teil des politischen Prozesses der Vereinigten Staaten gewesen waren. Doch je höher die Flughöhe, desto härter der Fall: Wenn Charismatiker wie Obama ihre Visionen nicht in die Tat umsetzen können, ist die Enttäuschung ihrer Gefolgschaft enorm.

Der Missbrauch liegt stets in der Luft

Der Fall Obama mahnt also zur Vorsicht: Wo Leidenschaft und Mitmachbereitschaft an eine charismatische Persönlichkeit geknüpft sind, ist die Partizipation immer extrem fragil. Wo Charisma begeistert, liegt dessen Missbrauch in der Luft. Enckes Buch hätte an Tiefe gewonnen, wenn sie diese Risiken ehrlich in ihre Diskussion mit einbezogen hätte.

Letztlich bleibt nach dem Lesen des Buches vor allem die Frage, wie man die Öffentlichkeit wieder für politische Themen begeistern kann, anstatt auf die Anziehungskraft politischer Persönlichkeiten zu hoffen. Zudem entsteht der Gedanke, inwiefern charismatische Persönlichkeiten – deren Visionen zwingend abseits des Klein-Klein des politischen Alltags stattfinden – heute zum systematischen Scheitern verurteilt sind.

Der Umgang mit dem Unabsehbaren, mit dem weder Lenk- noch Planbaren, gehört für Legislative wie Exekutive mehr denn je zum Alltag. Ebenso wie das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts politischer Aufgaben, die den Einflussbereich des Einzelnen bei weitem übersteigen. Vielleicht haben Techniker der Macht, deren Blick nur das Machbare umfasst, in dieser Situation einfach die besseren Erfolgsaussichten als jeder Charismatiker.

Julia Encke, Charisma und Politik: Warum unsere Demokratie mehr Leidenschaft braucht, München: Hanser Verlag 2014, 176 Seiten, 17,90 Euro

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