Berlin ist näher, doch größer und kälter.

Trotzdem blicken die Magyaren zuversichtlich gen Norden

Etwas eigenartig mutet es für uns hier im noch immer wirtschaftlich und mental von "Europa" abgelegenen und nicht gerade in materiellem Wohlstand schwelgenden Ungarn schon an, wenn man sich im wohlhabenden Deutschland jahrelang - demokratisch - darüber streitet, wo denn nun die Regierung des Landes ihren Sitz haben soll.

Für unser kleines Land könnte es eigentlich nebensächlich sein, wo sich der Bundesadler niederlässt. Obwohl: Berlin ist ja was anderes. Es war schließlich Hauptstadt des Deutschen Reiches, dann die (gewählte) Hauptstadt der Weimarer Republik, später Hauptstadt des "Tausendjährigen Reiches" und schließlich die (selbst ernannte) Hauptstadt der DDR. Logisch also, dass man nach der Wiedervereinigung dort anknüpft, wo man in der deutschen Demokratieentwicklung nahezu 50 Jahre unterbrochen und territorial beschnitten war.

Der Ungar dieser Generation blickt mit gemischten Gefühlen Richtung Berlin. Wie bekannt, war die einmalige Verbindung der schlimmsten preußischen Eigenschaften mit Theorie und Praxis eines stalinistischen Sozialismus etwas, das sogar manche ungarischen Genossen abgeschreckt hat. Die einzige Hauptstadt des Lagers, wo die Verwüstungen des Krieges noch nach Jahrzehnten zu sehen waren, ein kafkaeskes Regime, wo die Losungen an den Mauern dieselben waren, wie bei uns. In Budapest verschwanden sie jedoch 1956, in Berlin-Ost sah man sie bis zum bittersüßen Ende.

Das andere Berlin war glitzernd, doch in den Nebengassen erfuhr man eine ähnliche Öde und Entfremdung wie drüben. Ein Ungar konnte sich in diesem schizophrenen Berlin kaum wirklich wohl fühlen.

Allerdings: Man veröffentliche viele (gute) ungarische Bücher im Osten, während die andere Seite ein Refugium der unruhigen ungarischen Seelen wurde. "Dissidenten" wie György Konrád, Istvén Eörsi und andere genossen hier jahrelang echte Gastfreundschaft, nachdem sie aus der Heimat herausgeekelt worden waren. Auch in der Zwischenkriegszeit waren viele ungarische Intellektuelle in diese pulsierende Stadt gekommen, so viel größer und - bis zu den Zeiten des österreichischen Gefreiten - so viel toleranter, als Budapest. Unsere Schriftsteller, Filmemacher, Künstler hat Berlin dann freilich verloren, sie zogen weiter, nach Amerika.

W enn alles gut geht, wird Berlin wieder eine Rolle spielen wie in den zwanziger Jahren. Europas größtes, reichstes Land, mit solider Demokratie, kann wieder ein wirtschaftlicher und geistiger Mittelpunkt dieses Teils Europas werden.

Bonn war sehr weit weg, nach Berlin kann man durchfahren. Bonn die schläfrige Kleinstadt am Rhein als Hauptstadt war eine raffinierte, elegante Art zu erklären: The New Germans sind anders, hier ist eine Demokratie entstanden. Berlin, wieder als Hauptstadt, mit seiner symbolträchtigen Vergangenheit, ist ein schwerere PR-Aufgabe. In Bonn war fast alles klein, in Berlin ist fast alles groß. Man kann es den Deutschen nach all den Jahren kaum übel nehmen, dass sie die Renaissance ihres Landes auch durch den weiß Gott großzügigen Ausbau ihrer alt-neuen Hauptstadt demonstrieren wollen. Diese für unsere Begriffe unheimlich große Stadt wird - zumindest für die Ungarn - wahrscheinlich noch weniger durchschaubar. Wenn auch imposant.

Wichtig aber wird sein, wie nunmehr die Berliner Republik funktioniert. Auch der Durchschnittsungar weiß heute ziemlich genau, dass das Schicksal seiner Heimat durch die Deutschen wesentlich beeinflusst wird. Zehn Jahre nach der Grenzöffnung hört man von diesen noch immer Worte des Dankes, der Verbundenheit, privat und hochoffiziell. Weniger offiziell entsteht schon mal der Eindruck, dass die seinerzeit, in den euphorischen Tagen versprochene rasche Integration letztlich viel länger als gedacht dauern kann. Nicht, weil das kleine Ungarn nicht vorbereitet genug wäre. Der eben umgezogene Bundestag wird - hoffentlich - diese Ängste zerstreuen können. Auch jene, dass die neue Regierungsmehrheit an der Osterweiterung weniger interessiert wäre als die frühere. Nachrichten, dass der Bundestag sich entschieden für die zügige EU-Aufnahe führender Reformländer einsetzt, würden die Popularität der neuen Berliner Republik in Ungarn sehr rasch erhöhen. Dann könnte man sich hier damit abfinden, dass die Hauptstadt der Deutschen von der sonnigen Rheingegend in den kalten Norden gerutscht ist und dass die fürchterlichen Wohnblocks der Stalin-Allee erhalten bleiben.

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