Ausgerechnet Kassel

Wolfgang Schroeder analysiert die Faktoren, die die »graue Maus« Kassel zu einer der dynamischsten Städte in Deutschland gemacht haben

Kassel: Eine graue Maus unter den deutschen Mittelstädten – so dachten bis vor wenigen Jahren viele in Deutschland. Bei nicht wenigen ist dieses Bild auch heute noch tief im Unterbewusstsein verankert. Ausgerechnet Kassel als Beispiel einer Stadt der Transformationen? Aber erinnern wir uns an Erstaunliches, an Geschehnisse, die aufmerken ließen:

2011 wird Kassel von der Bertelsmann-Stiftung zur „dynamischsten Stadt Deutschlands“ unter den Mittelstädten gekürt. Seitdem hält sich Kassel in diesem Ranking beharrlich in der Spitzengruppe.

Nur zwei Jahre später die nächste Überraschung: 2013 wird der Bergpark Wilhelmshöhe mit Herkules und Wasserspielen in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Die Besucher strömen daraufhin nach Kassel.

Wo die Brüder Grimm zu Hause waren

2015 schließlich erregte die „Grimmwelt“ internationale Aufmerksamkeit. In diesem Ereignismuseum wird das Wirken von Jacob und Wilhelm Grimm lebendig: Grimms Märchensammlungen, das „Deutsche Wörterbuch“ und die „Deutsche Grammatik“ sowie auch Jacob Grimms Beitrag zur Paulskirchenverfassung von 1848. Das geistige Zentrum dieser Werke lag in Kassel, wo die Gebrüder Grimm in der Hochzeit ihres Schaffens 30 Jahre lang arbeiteten. Ihre handschrift­liche Fassung der „Hausmärchen“ gehört bereits seit Jahrzehnten zum Weltdokumentenerbe der Unesco.

Und dass die documenta, das global bedeutendste Ausstellungsereignis der Gegenwartskunst, in einer nordhessischen Mittelstadt beheimatet ist, sorgt in der weltweiten Kunstgemeinde schon länger für ungläubiges Staunen. Längst hat die documenta die sechzig Jahre ältere Biennale in Venedig überstrahlt.

Für Wolfgang Schroeder, Professor an der Universität Kassel, und seine Co-Autorinnen und Co-Autoren sind dies hinreichende Gründe, um Kassel exemplarisch als Stadt der Transformationen zu untersuchen. Die Autoren ziehen lange Linien, beginnend mit Kassels Entwicklung zur Industrie- und Arbeiterstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei unterschied sich Kassel nicht von den meisten deutschen Mittelstädten, in seiner Vorprägung als Residenz- und Verwaltungsstadt aber schon.

Kennzeichnend für Kassels Wirtschaft war die Rüstungsindustrie im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie die erfolgreiche Umstellung auf die Produktion ziviler Güter nach dem Krieg. Die tiefe Krise am Ende der Weimarer Zeit hat ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Krise seit Mitte der sechziger Jahre. Infolgedessen verschwanden fast alle Großbetriebe aus Kassel. Die Folgen waren eine lang anhaltende finanzielle Notlage und steigende Arbeitslosigkeit. Noch vor anderthalb Jahrzehnten betrug die Arbeitslosenrate in Kassel 20 Prozent; beim Anteil der Sozialhilfeempfänger nahm die Stadt bundesweit einen Spitzenplatz ein.

Und heute? Die Arbeitslosenquote konnte bis 2015 halbiert werden, die Zahl der Hartz-IV-Empfänger sinkt und die städtischen Finanzen weisen im dritten Jahr in Folge einen steigenden und zuletzt sogar beträchtlichen Überschuss auf.

Kassel zieht kreative Köpfe an

Was sind die Ursachen dieser positiven Transformation und wie nachhaltig ist sie? Wolfgang Schroeder und seine Co-Autoren machen drei Ursachen aus: Die erste und wichtigste ist die 1971 gegründete Universität. Deren immer intensivere Verflechtung mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt und der nordhessischen Region hat eine durchgreifende Modernisierung der verbliebenen traditionellen Wirtschaft bewirkt und sie zu neuer Blüte geführt. Zugleich sind zahlreiche Ausgründungen aus der Universität heraus entstanden, vor allem auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Die Arbeitsplätze, die in Kassel geschaffen werden, sind größtenteils hochwertig. Kassel konnte Industriestadt bleiben, weil ihre industriellen Branchen äußerst innovativ sind. Der größte Zuwachs im Dienstleistungssektor geht auf das Konto der Universität, daneben ist der Gesundheitssektor von wichtiger Bedeutung.

Die zweite Ursache ist die 1989 wiedergewonnene Einheit Deutschlands. Kassels zentrale Lage in Deutschland und seine gute Verkehrsanbindung geben dem Tagungstourismus starke Impulse, die von der Stadt konsequent genutzt werden.

Die dritte Ursache: Die traditionelle, aus Kassels Residenzstadtzeiten stammende Hochkultur, die seit Gründung der Universität stark gewachsene Alternativkultur und die kreative Szene schaffen ein reichhaltiges kulturelles Leben, das Kassel für kritische und innovative Köpfe sehr attraktiv werden lässt. Das Ganze wird gekrönt durch den neuen Status als Weltkulturerbe, vor allem aber durch die documenta, die Kassel als Hauptstadt der globalen Gegenwartskunst ausweist.

Diese Ursachen sind vor zwei, drei und sechs Jahrzehnten entstanden, ihre Wirkungen wurden jedoch erst nach der Jahrtausendwende richtig sichtbar – dann aber mit voller Wucht.

Soziale Integration bleibt wichtig

Also alles bestens, Kassels blühende Zukunft ist sicher? Dieser Auffassung sind die Autoren nicht. Zwar sei der eingeschlagene Weg richtig, die Gefahr der sozialen Spaltung der Stadtgesellschaft jedoch noch nicht gebannt. Darauf verweist die noch immer hohe Zahl der Hartz–IV-Empfänger. Soziale Integration bleibt also eine Hauptaufgabe der Stadt. Zudem müssten in Kassel noch mehr hochqualifizierte Arbeitsplätze entstehen als bisher, damit noch mehr Uniabsolventen in Kassel bleiben können und das vergleichsweise niedrige Durchschnittseinkommen weiter steigt.

Auch der demografische Wandel und die Anpassung an den Klimawandel bleiben ständige Herausforderungen, mit Digitalisierung und Verkehrswende kommen neue hinzu. Zudem darf Kassel – fügt der Autor dieser Zeilen hinzu – nicht aus lokalen Gründen in die Weltkunstausstellung documenta eingreifen. Die einmalige Freiheit der documenta, die Grundlage und Bedingung ihrer Weltbedeutung ist, muss erhalten bleiben. Nur so kann ihre Strahlkraft gesichert werden.

Was lässt sich am Beispiel Kassels lernen? Gelingende Transformation setzt die Bereitschaft zur Innovation voraus. „Kassel kann geradezu paradigmatisch für eine solche Stadt der Innovationen herangezogen werden“, ist Wolfgang Schroeder überzeugt. Die erste rot-grüne Kooperation in einer deutschen Mittelstadt, die tatsächlich „partizipationsorientierte Inklusion“ von Migrantinnen und Migranten wie auch die konsequente Gleichstellungspolitik für Frauen seien hierfür gute Belege.

Damit Transformation gelingt, müssen zunächst Kommunalpolitik und Stadtverwaltung bereit und willig sein, „die Lernprozesse verschiedener anderer Teile der Stadtgesellschaft“ einzubeziehen. Eine gelungene Transformation ist immer das gemeinsame Produkt von Stadtpolitik und Stadtgesellschaft. Kassel 4.0 richtet sich an alle, die in Kassel leben und die künftigen Handlungsmöglichkeiten der Stadt aufgezeigt bekommen möchten. Das Buch ist aber ebenso lesenswert für alle kommunalpolitisch Interessierten. Das Kasseler Beispiel zeigt, unter welchen Bedingungen die Transformation dort gelungen ist und wie sie vielleicht auch in anderen Städten gelingen könnte.

Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Kassel 4.0: Stadt der Transformation, Marburg: Schüren Verlag 2015, 272 Seiten, 19,90 Euro

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