Aufstand gegen die Bilder

Sind wir am Ende der Ironie?

Es gibt nicht viel zu lachen in Paul Thomas Andersons Film Magnolia, weder für die Figuren noch für die Zuschauer. Der gerade mal dreißigjährige Regisseur zeigt in seinem jüngst viel gelobten Meisterwerk acht parallele Geschichten von Leid, Wut, Angst und Verzweiflung, wie man sie in dieser Dichte schon lange nicht mehr im Kino gesehen hat - und das 180 Minuten lang. Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass wir alle diese Geschichten, in anderer Form, schon hundert mal gehört und dass wir solche und ähnliche Bilder schon tausend mal gesehen haben. Andersons Credo lautet gerade - das lässt er in einer Schlüsselszene auch eine seiner Figuren aussprechen -, dass alle diese Geschichten eben in Filmen vorkommen, weil sie wahr sind, weil sie wirklich passieren. Und deshalb muss man, will man der Wirklichkeit gerecht werden, sie zeigen. Hier stehe ich, so scheint Anderson dem Zuschauer mit dieser Szene wie mit dem ganzen Film zu sagen, und kann nicht anders, als euch mit der Wahrheit zu konfrontieren.

Neu und aufsehenerregend an Magnolia sind also nicht die Inhalte, sondern ist die direkte, ungeschützte und dabei komprimierte Form, in der die großen Gefühle hier (erneut) auf die Leinwand gebracht werden. Obwohl er nur sieben Jahre jünger ist als Quentin Tarantino, scheint Paul Thomas Anderson mit diesem Film doch einer anderen, neuen Generation von Filmemachern anzugehören. Denn Magnolia kann auch als Antwort auf Pulp Fiction verstanden werden und damit als Antwort auf die Selbstreferentialität einer Popkultur, die nur noch aus Zitaten besteht. Mit Magnolia, so hat es Thomas Kniebe in der Süddeutschen Zeitung treffend ausgedrückt, klappt Anderson das "Visier der Ironie wieder hoch, um dem Leben direkt ins Auge zu blicken".

Das Pathos dieser post-ironischen Haltung ist unverkennbar. Es ist auch ein Pathos der Einfachheit, das die Dinge so aussprechen will, wie sie sind. Damit verweigert es sich gerade der Ironie, die Umberto Eco einmal als "metasprachliches Spiel" definiert hat. Nach Eco ist das postmoderne und ironische Lebensgefühl der Haltung eines Mannes vergleichbar, "der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, dass er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe dich inniglich‘, weil er weiß, dass sie weiß (und dass sie weiß, dass er weiß), dass genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind". Für Eco besteht die einzige Lösung dieses Problems darin, dass der Mann zu der Frau sagt: "Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich."

"In diesem Moment," so Eco weiter, "nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, dass man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich dass er sie liebe, aber dass er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe." Anderson dagegen wehrt sich gegen diesen Zwang zur Indirektheit und reklamiert die Unschuld zurück. Er möchte wieder ganz ungeschützt "Ich liebe dich inniglich!" sagen können. Damit repräsentiert er das Lebensgefühl einer jungen Generation, der das Leben in der Postmoderne zu kompliziert geworden ist und die sich von der Mediengesellschaft um die Wirklichkeit betrogen fühlt.

Diesem neuen Ernst der jungen Generation begegnet man nicht nur in den Erzeugnissen der Filmindustrie. In den USA hat im letzten Herbst ein junger Mann mit einem sehr ernsten Buch für einiges Aufsehen gesorgt. In For Common Things. Irony, Trust, and Commitment in America Today wendet sich der 24jährige Harvard-Student Jedediah Purdy gegen den weit verbreiteten Zynismus der Medien- und Börsengesellschaft, wie er ihn sinnfällig in der populären Fernsehshow Seinfeld oder in dem Internet-Magazin Wired verkörpert sieht. Gegen die Vergnügungs- und Karrieresucht der Generation X setzt er die Aufforderung zu mehr Engagement und Vertrauen in die öffentlichen Angelegenheiten. Die Ironie erscheint ihm als ein allzu billiger und egoistischer Weg, sich Probleme vom Leib zu halten. Lösen könne man sie nur, wenn man ihnen ernsthaft entgegen trete.

Mit diesem Appell liefert Purdy ein weiteres Indiz dafür, dass der Kommunitarismus in Amerika endgültig bei der jungen Generation angekommen ist. Denn dass er mit seiner Anklage gegen die Unverbindlichkeit der ironischen Gesellschaft eine weit verbreitete Stimmungslage getroffen hat, zeigen nicht zuletzt die vielfältigen Reaktionen, die sie hervorgerufen hat. "Just turning 22," schreibt ein Leser in einer Internet-Diskussion über das Buch, "I wasn′t aware of what made me feel uncomfortable about my generation until I read Jedediah′s book. [...] Jed put words to what many of us feel, although maybe some won′t admit it." Ein anderer schreibt ganz einfach: "Like Jed Purdy, I am a student who is looking for truth in the world."

In Deutschland feiert sich die Spaßgesellschaft auf der Love Parade noch weiterhin jährlich selbst. Doch auch hier scheint sie erste Risse zu bekommen und ausgerechnet Jürgen Möllemann könnte ihr letzter Vertreter sein. Dass die Zugehörigkeit zur ernsten Generation dabei nicht in erster Linie eine Frage des Alters ist, zeigt auch die selbst ausgerufene Generation Berlin der heute zumeist Mitte Dreißigjährigen. Denn was ihr von anderer Seite als Spießigkeit vorgeworfen wird, versteht die Generation Berlin selbst als Ernsthaftigkeit. Die Zeit, in der Politik mit vielleicht aufregenden, dafür aber nicht minder wolkigen Visionen gemacht werden konnte, sei vorbei. Die gegenwärtigen Aufgaben seien unspektakulär, wie etwa Susanne Gaschke in der Zeit schreibt, die Lage deshalb aber nicht weniger ernst. Dass ihr das als Struktur- und Wertekonservatismus ausgelegt wird, ist in den Augen der Generation Berlin nicht ihre eigene Schuld. Schuld am Niedergang des Gemeinsinns seien vielmehr die 68er, die zunächst in einer lebensfrohen Revolte die Verhältnisse auf den Kopf gestellt hätten und sich heute, nach dem langen Marsch durch die Institutionen, in einem abgeklärten Machtzynismus um die Verantwortung für das Allgemeinwohl drückten.

Anlässlich der Veröffentlichung des Homevideos von Bill Clinton, in dem er sich angesichts seines baldigen Ausscheidens aus dem Amt selbst als Hausmann auf den Arm nimmt, bemerkte wiederum Susanne Gaschke in der Zeit, dass die 68er der nachwachsenden Generation nun auch noch den ironischen Umgang mit sich selbst vorgemacht und dadurch weggenommen hätten. In dieser sicher ironisch gemeinten, aber erstaunlich ernst daher kommenden Randbemerkung offenbart sich womöglich der Kern des Problems, das die Generation Berlin und andere Vertreter einer neuen Ernsthaftigkeit umtreibt: Es ist das Trauma der Nachgeborenen, denen alles schon vorgemacht worden ist und für die es im eigentlichen Sinn kein "erstes Mal" mehr gibt.

Das neue Unbehagen an der Ironie offenbart sich gleichzeitig als Unbehagen in der Mediengesellschaft, in der alles schon bekannt und nur mehr das Spiel der Zitate übriggeblieben ist. Indem sich die ernste Generation diesem selbstbezüglichen Spiel verweigert, begibt sie sich auf die Suche nach einer neuen Authentizität, bei der es um die Sache selbst gehen soll, statt nur um das eigene Verhältnis zu ihr. Für den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht ist Ironie immer verbunden mit einem "Gestus der Irrealisierung" und damit einem "Gestus des ‚als ob‘". Der Ernst dagegen impliziert das "Verbot einer Entkopplung von Bewusstsein und Kommunikation" und damit gerade das "Verbot des ‚als ob‘". Dieses Verbot des "als ob" bedeutet nicht nur, dass man meinen soll, was man sagt. Es bedeutet auch einen Aufstand gegen den Schein der Medienwelt, einen Aufstand gegen die Bilder, hinter denen kein Wirkliches mehr lagert. Die ernste Generation probt diesen Aufstand.

So gesehen war Big Brother eine sehr ernste Angelegenheit. Denn was anderes verbarg sich hinter dem Versprechen, das "echte Leben" zu zeigen, als ein Versprechen von Authentizität? Jenseits der zurecht für Kritik sorgenden Dimensionen von Entprivatisierung und Überwachung, die in diesem Echtzeit-Menschenversuch enthalten waren, lag die Attraktivität von Big Brother sicher in dieser Utopie des authentischen Lebens.

Interessanterweise sollte die Unverfälschtheit des Lebens im Container ausgerechnet durch die völlige Abgeschlossenheit von der Außenwelt garantiert werden. Das bedeutet: durch die gänzliche Abwesenheit von Medien. Ohne die Möglichkeit, sich durch Fernseher, Radio, Zeitung oder Internet in ein indirektes Verhältnis zu ihrer Umwelt und zu ihren Mitmenschen zu setzen, waren die Containerbewohner auf die reine und unmittelbare soziale Interaktion zurückgeworfen. Sie befanden sich gleichsam im Auge des Mediensturms. In seinen Strudel gerieten sie erst, als sie nach und nach aus dem Container ausschieden und von Stefan Raab zu Harald Schmidt weitergereicht wurden.

Big Brother war aber nicht nur ein Beispiel für die ernste Suche nach Echtheit und Unverfälschtheit. Es offenbarte auch in augenfälliger Weise die dilemmatische Struktur dieser Suche. Denn im Kern war Big Brother natürlich nichts anderes als eine grandiose mediale Inszenierung. Die versprochene Authentizität wurde wieder nur medial vermittelt und eine Lebenssituation könnte kaum widernatürlicher sein als die im Container. Das ganze war, was es ja zunächst auch von sich selbst behauptete: ein (Gewinn-)Spiel. Ein Spiel allerdings, das bewusst mit dem weit verbreiteten Bedürfnis kalkulierte, dass endlich wieder Ernst sei. In weniger deutlicher Weise liegt dieses Dilemma auch allen anderen Bekundungen eines neuen Ernstes zugrunde, denn auch diese finden ja wieder in den Medien statt. Ist also auch der neue Ernst wieder nur ein Medienereignis? Ist der Aufstand gegen die Bilder vergeblich?

Eine beeindruckende Kombination von Bilderwucht und heiligem Ernst findet sich in der jüngsten Hollywood-Parabel auf die Mediengesellschaft. "Unterhalte ich euch nicht?" ruft der Gladiator in Ridley Scotts Monumentalfilm der Menge zornig entgegen, nachdem er sein blutiges Handwerk in der Arena allzu schnell und lieblos verrichtet hat, nur um am Ende doch zu lernen, dass er das Spiel der Unterhaltung mitspielen muss, wenn er seine Rache üben will. Auch dieser Film spielt nicht ironisch mit seinen Genregesetzen, sondern vollstreckt sie im vollen Bewusstsein seiner pathetischen Monumentalität. Doch damit scheint er schon eine Reflexionsstufe weiter als Magnolia, denn deutlicher als dieser zeigt er, dass es keinen Ausgang aus der Bilderwelt gibt. Der Ernst ist ganz im Bild. Er ist selbst ein Produkt der Inszenierung. Nicht nur scheint die Mediengesellschaft also in der Lage zu sein, die Angriffe gegen sich immer wieder in ihr eigenes System zu integrieren. Wie beim Hasen und beim Igel sind die Bilder immer schon da, egal wie oft man sie überholt hat.

Der Mensch, so lautet jedenfalls eine Einsicht des Anthropologen Helmuth Plessner, scheint zu einem indirekten Verhältnis zu sich und seiner Umwelt verdammt zu sein. Seine "exzentrische Positionalität" belässt ihm das Authentische und Ungebrochene nur als Gegenstand der Sehnsucht. Der Ernst wäre dann - ironische Wendung - die Fassade und die Ironie das Eigentliche.

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