Aufbruch oder Strohfeuer?

Anmerkungen zum neuen Optimismus der Sozialdemokraten

<>Rot-Grün am Anfang des Jahres 2000: Nach einem Jahr der Wahlniederlagen, nach dem Lafontaine-Rücktritt, "handwerklichen Fehlern", erbittertem SPD-Richtungsstreit im Sommer und anderen Tiefschlägen herrscht nun plötzlich Optimismus aller Orten. "Rot-Grün kann′s doch" überschrieb die Journalistin Tissy Bruns einen Kommentar im Berliner Tagesspiegel im Dezember 1999. Wer hätte das einen Monat zuvor erwartet? Doch woran lag es, dass sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete entgegen ständiger Übung geradezu fröhlich in die Weihnachtspause gingen? Hatten Sie euphorisierende Drogen genommen? Lag es am Holzmann-Coup? Am Berliner Sammlungsparteitag? Am return of the fabulous Müntefering? Am durchgesetzten Eichelschen Zukunftsprogramm? Am Steuerbefreiungsschlag für Bürger und Unternehmen? An erfreulichen Prognosen für Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt? Oder ganz einfach daran, dass bei der CDU und bei Ex-Kanzler Kohl zur Zeit alles "wie geschmiert" läuft? Ganz simple Gemüter meinen gar,
dass es dem gesammelten deutschen Journalismus einfach zu langweilig geworden war, Kanzler Schröder und seine Truppe ständig in Grund und Boden zu schreiben.

Der neue Optimismus hat, wie die Probleme zuvor, sicherlich viele Ursachen. Im Gegensatz zum Sommer scheinen vier Faktoren zu stimmen: Politische Projekte werden für alle erkennbare Wirklichkeit (zum Beispiel Steuerreform, Haushaltskonsolidierung); die politische Performance und das Setzen von Symbolen klappen (zum Beispiel Holzmann, SPD-Bundesparteitag); die notwendige innerparteiliche Geschlossenheit scheint da zu sein (Schröders Wahlergebnis auf dem Parteitag, Zustimmung zum Leitantrag). Die politische Krise des Hauptgegners CDU (Kohls "Bimbes-gate") kommt dazu.

Also alles in Butter? Erst einmal ja, weil jetzt die Grundlage dafür gelegt wurde, dass die SPD wieder Tritt fast. Gute Voraussetzungen für die Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW. Doch "Tritt fassen" (und auch im Tritt bleiben!) ist nur eine Voraussetzung dafür, dass man gemeinsam laufen kann. Darüber hinaus muss die SPD noch deutlicher machen, wo sie langfristig hinlaufen will. Auch dafür ist zumindest der Grund gelegt. Es ist vor allem Hans Eichels Verdienst, dass auf den zentralen Feldern der Finanz- und Wirtschaftspolitik sich heute klarer abzeichnet, was die Bundesregierung konkret damit meint, einen Mix aus angebots- und nachfrageorientierter Politik gestalten zu wollen, um damit Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Der private Konsum , die "Nachfrage", wird durch die Steuerreform, die Familienentlastung und die Abgabensenkung stimuliert. Die Angebotsseite der Unternehmen und damit ihre Investitions- und auch ihre internationale Konkurrenzfähigkeit sollen durch die Unternehmenssteuerreform gestärkt werden. Zudem wird durch eine strikte Politik der Haushaltskonsolidierung deutlich, dass Sozialdemokraten auch künftig auf einen handlungsfähigen Staat setzen. Das alles ist gut und notwendig. Und doch bewegt es sich noch im Rahmen der Aufarbeitung dessen, was die Regierung Kohl an Reformstau hinterlassen hat. Dass dies nach nur einem Jahr schon eine ganze Menge ist, ist nur die eine Seite der Medaille. Es gilt darüber hinaus für die SPD, ein politisches Leitbild zu entwickeln, aus dem sich Antworten auf die großen Herausforderungen ergeben, die vor uns liegen.

Der frischgewählte niedersächsische Ministerpräsident Siegmar Gabriel weist mit seinem Credo "mehr Politik wagen" auf die Notwendigkeit eines solchen Leitbildes hin. Die SPD muss die Frage beantworten, welche politischen Ziele sie künftig im sich abzeichnenden digitalen Kapitalismus verwirklichen will und kann. Anders gefragt: Wie sieht die deutsche Variante der "Dritten Weges" jenseits von sozialdemokratischem Etatismus der sechziger und siebziger Jahre auf der einen und schierem Neoliberalismus auf der anderen Seite aus?

Zur Entwicklung dieses Leitbildes ist die Debatte um ein neues SPD-Grundsatzprogramm dringend notwendig. Dafür hat der Berliner Parteitag den Weg zumindest formal frei gemacht. Nur über einen solchen Prozess der programmatischen Selbstverständigung kann die politische Neuorientierung nach Innen gelingen, die für eine Partei notwendig ist, um eine solche Orientierung nach Außen geben zu können. Nur so kann verhindert werden, dass sich die Partei binnen kürzester Zeit wieder im tagespolitischen Durchgewurschtel verliert.

Aufgabe des politischen Managements an der Spitze von Partei, Regierung und Bundestagsfraktion wird es sein, diese Debatte in organisierter Form stattfinden und nicht in der politischen Selbstzerfleischung enden zu lassen, wie wir es im Sommer 1999 erlebt haben. Die (Selbst-)Etikettierung von "Modernisieren" und "Traditionalisten" war dabei in Folge der Diskussion um das Schröder-Blair-Papier ein entscheidender Fehler. Wie soll denn eine programmatische Neuorientierung gelingen, wenn dem einen Teil der Partei ganz grundsätzlich die Zukunftsfähigkeit abgesprochen wird, während der andere dem permanenten Verdacht ausgesetzt ist, "Verrat an den sozialdemokratischen Grundwerten" zu verüben?

Tatsache ist: Es gibt heute in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen in der SPD Klärungsbedarf. Entscheidend wird sein, welche Rolle die SPD ganz grundsätzlich staatlichem Handeln zumisst. Anders gefragt: Was muss, was kann der Staat tun, was nicht, und in welcher Weise handelt er? Zuspitzen wird sich die Debatte künftig immer wieder an der Frage der Regulierung beziehungsweise Deregulierung der Arbeitsmärkte. Dabei sollte es für Sozialdemokraten auch in Zukunft selbstverständlich sein, dass menschliche Arbeit sozialen Schutz genießen muss. Zur Debatte steht, ob sich durch die rasante Veränderung der Arbeitsmärkte die Notwendigkeit ergibt, den rechtlichen und sozialen Schutz der Arbeit so umzugestalten, dass Arbeitsplätze überhaupt entstehen können, die bisher durch Überregulierung noch nicht entstanden sind. Die vom Bündnis für Arbeit beschlossenen Modellversuche zum sogenannten "Niedriglohnsektor" weisen dabei in eine richtige Richtung. Zentral ist die Diskussion um die Rolle des Staates zur Durchsetzung sozialdemokratischer Politikziele auch für die Frage, auf welcher staatlichen Ebene was zu entscheiden ist. Gerade die Debatte um ein neues Regelwerk für die internationalen Kapitalmärkte macht deutlich, dass die sozialdemokratische Programmdebatte nicht allein im nationalstaatlichen Zusammenhang geführt werden darf.

Wenn es darum geht, für den Anspruch der fortgeltenden sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eine Programmatik zu finden, die auf der Höhe der Zeit ist, bietet es sich für die SPD an, politikfelderübergreifend den Begriff der "Generationengerechtigkeit" zu verwenden. Sowohl für die Haushalts- als auch für die Renten- und die Umweltpolitikpolitik kann die Fairness zwischen den Generationen künftig für die Sozialdemokraten ein zentrales Projekt werden.

Durch den anstehenden Programmprozess haben wir aber die Chance, am Beginn des nächsten Jahrhunderts wieder ein ausstrahlungsfähiges Leitbild, wenn man so will: eine politische Vision zu bekommen. Wir müssen uns aber beeilen. Zudem darf die SPD im Überschwang des neugewonnen Optimismus jetzt nicht in den Fehler verfallen, die programmatische Erneuerung hintanzustellen oder gar unter dem DZwang zur Geschlossenheit die notwendigen Debatten abzuwürgen.

Die Krise der CDU wäre für die Zukunft der SPD langfristig keine tragfähige Erfolgsbasis, zumal die Gefahr besteht, dass sich die Kohlkrise zu einem Glaubwürdigkeitsproblem der Politik insgesamt entwickelt. Ein weiteres Problem ist für die SPD, dass ihr möglicherweise zukünftig ihr Koalitionspartner wegsterben könnte. Auch im Hinblick auf die sozialdemokratischen Perspektiven in Ostdeutschland bestehen noch eine Reihe von ungelösten Problemen. Zudem muss es der Parteiführung gelingen, dass Regierungshandeln und Programmdebatte sich nicht konterkarieren. Zugegebenermaßen keine leichten Aufgaben. Doch wie sagt unser Kanzler so schön: "Wenn es einfach wäre, könnten es auch die anderen machen."

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