Aufbruch ins Establishment

Happy Birthday, Familie Grün! Vor 25 Jahren erfand sich die heutige Regierungspartei im Wirrwarr ihres Karlsruher Gründungskonvents. Sie wollten ganz anders sein. Inzwischen sind die Reste früherer Alternativkultur selbst zum Mainstream geworden

Sie wollten anders sein. Und in diesen Tagen feiern sie Jubiläum. Vor 25 Jahren, am Wochenende des 12. und 13. Januar, versammelten sich die Ökologen, Feministinnen und Friedenskämpfer aus den Neuen Sozialen Bewegungen in der Stadthalle in Karlsruhe. Die gut 1.000 Delegierten des ersten Parteitags der Grünen wollten eine neue Organisation als grundlegende Alternative zu den etablierten Parteien gründen. Sie strebten nach einer Gesellschaft, die sich einem automatischen industriellen Wachstum entgegenstellt, ihre Entwicklung vielmehr an der Natur des Menschen orientiert. Wege dahin gab es viele. Daher debattierten und stritten die Delegierten ohne Unterlass – um Doppelmitgliedschaften, die Repräsentanz von Minderheiten und das Verhältnis zum Kommunismus. Nicht Planung sondern Chaos beherrschte die Zusammenkunft. Die Grünen einigten sich darauf, ökologisch und sozial, gewaltfrei und basisdemokratisch zu sein. Hierarchien wollten sie vermeiden, Elitenbildung verhindern, stattdessen das freiwillige Engagement und den Einfluss des Einzelnen stärken. Nicht aus den Zentren wollten sie die Gesellschaft verändern, sondern die Provinz unterstützen und alternative Lebensformen im Alltag praktizieren. Eine neue Kultur jenseits der eingefahrenen Strukturen sollte die Politik bestimmen. Dieser Aufbruch liegt 25 Jahre zurück. Es ist Zeit für ein Resümee.

Mittlerweile sind die Grünen nicht mehr die, die sie einmal waren. Sie sind keine Außenseiter mehr, sondern in Zeiten, in denen den Sozialdemokraten ihre Anhängerschaft wegbricht, ungewöhnlich erfolgreich. Für die Grünen hat sich viel verändert: Das Kind der alten Bundesrepublik hat sich 1993 mit seinem bürgerrechtsbewegten Pendant aus den neuen Bundesländern, dem Bündnis 90, vereint und damit als einzige bundesdeutsche Partei mit der Wiedervereinigung auch einen Bruch in ihrer Organisationsgeschichte durchgemacht. Gut fünf Jahre später wurde die politische Gruppierung, die sich einst von der Sozialdemokratie distanziert und als „Antiparteien-Partei“ präsentiert hatte, bundespolitischer Koalitionspartner. Und Ende Januar 2005 treffen sich die Anhänger und Vertreter von Bündnis 90/ Die Grünen in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg, dem derzeit wohl angesagtesten Stadtteil von Berlin. Wo die SPD der „neuen Mitte“ jeden Sommer ihr vorwärts-Fest feiert, begehen auch die Alternativen ihren Jahrestag. 1980 konnte und wollte sich niemand vorstellen, dass sich die Verfechter neuer Lebensformen gesellschaftlichen Trends unterwerfen, sich in Regierungskoalitionen mit der SPD verbünden und die Gewohnheiten des größeren Partners übernehmen würden. Was hat sich in den vergangenen 25 Jahren eigentlich so sehr verändert?

Aus ParteisprecherInnen wurden Vorsitzende

Viele Vorsätze, mit denen die Grünen in die Parteiendemokratie der Bundesrepublik aufgebrochen sind, haben sich im Wandel der Zeit verändert. Die „Rotation“, nach der ein grüner Abgeordneter nach einer halben Legislaturperiode einem Nachrücker Platz machen musste, gibt es nicht mehr. Das „imperative Mandat“, mit dem die gewählten Bundestagsmitglieder an das Votum ihrer Partei gebunden werden sollten, war mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Mitgliederoffenheit aller Gremien und Sitzungen führte zum Chaos, das Ehrenamt zu politischem Dilettantismus, der Minderheitenschutz zur bisweilen abstrusen Quotierung von Posten, Positionen und Ämtern. Mittlerweile haben sich Begriffe, Aufgabenverteilung und personelle Rekrutierungsmuster der Grünen den Erfordernissen des politischen Tagesgeschäfts angepasst. Aus Parteisprechern wurden Vorsitzende. Deren absolute Amtszeit ist nicht mehr auf ein Jahr oder zwei begrenzt, ihre Autonomie dafür gewachsen. Im Mai 2003 hoben die Grünen die Trennung von Amt und Mandat teilweise auf. Nun dürfen die Vorsitzenden neben ihrer Parteifunktion auch als Abgeordnete im Bundestag sitzen.

Erst kein Abschluss, dann Berufspolitiker

Die ehemaligen grünen Freizeitpolitiker machten ihr Engagement zum Beruf. Heute repräsentiert Reinhard Bütikofer diesen Typus: Als ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Hochschulgruppe in Heidelberg verließ er die Universität zu Beginn der achtziger Jahre ohne Studienabschluss und kam 1984 zu den Grünen. Er wurde Abgeordneter des baden-württembergischen Landtages, finanzpolitischer Sprecher und Vorsitzender seiner Partei in Stuttgart. Auf der Bundesebene ließ er sich 1998 zum Geschäftsführer wählen, trieb in dieser Funktion die Programmarbeit voran und wurde schließlich Vorsitzender der Bundespartei. Er lernte zu organisieren, zu integrieren, zu vernetzen. Bütikofer ist ein Berufspolitiker. Im Ganzen scheint es, als seien die Grünen in der arrivierten Oberschicht der Bundesrepublik angekommen. Ihre Protagonisten von den sozial- und christdemokratischen Konkurrenten zu unterscheiden, fällt manchmal schwer.

Auch habituell haben sich die Grünen verändert: Statt Strickpullis und Ökolatschen nun Designeranzüge und Klapp-Handys. Die Alternativen radeln nicht mehr zum nächsten Ostermarsch, sondern fliegen urlaubshalber in die Toskana. Dem Protest gegen die Auswüchse der Industriegesellschaft ist gezielter Konsum gewichen – an der Bio-Tankstelle, im Ökoladen oder beim sanften Tourismus. Das provisorische Wohnkonzept der WG löste familiärer Privatismus ab. Auch beruflich sind die Alternativen aufgestiegen. Die von den gebrochenen sozial-liberalen Bildungsversprechen enttäuschten Akademiker der späten siebziger und frühen achtziger Jahre arbeiten heute in verantwortungsvollen Positionen – in Redaktionen, pädagogischen Einrichtungen und natürlich auch in ihrer Partei.

Nach 25 Jahren profilieren sich die grünen Funktionäre nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern sind steuernde Elemente mitten im politischen Prozess. Sie wollen das gesellschaftliche Zusammenleben nicht mehr grundlegend verändern, sondern sind darin integriert und würden den Teufel tun, sich selbst durch fundamentale Umgestaltung den Boden zu entziehen. Dennoch haben die Grünen nach wie vor eigene Vorstellungen von der Gesellschaft: Wichtige Reformen der rot-grünen Bundesregierung tragen eine grüne Handschrift. Homoehe, Atomausstieg und Ökosteuer geben der amtierenden Koalition ein Gesicht.

Der Pazifismus blieb auf der Strecke

Doch hat der grüne Regierungspragmatismus auch Opfer gefordert: Der Pazifismus blieb auf der Strecke. Schon Mitte der neunziger Jahre hatte sich Joseph Fischer als einer der ersten grünen Protagonisten mit einem Papier zum militärischen Eingreifen in Bosnien von der absoluten Gewaltfreiheit distanziert. Als Vorsitzender der Bundestagsfraktion forderte er seine Partei nach dem Morden in Srebrenica zum Umdenken auf. Als Außenminister und „heimlicher Vorsitzender“ konnte er handeln und unterstützte die Luftoffensive der Nato im Kosovokonflikt. Die Partei folgte ihm. Ungern. Wie der Frieden gehörte der Einsatz gegen die Atomenergie von Anfang an zum grünen Gründungsstoff. In den siebziger und achtziger Jahren demonstrierten die Alternativen auf den Bauplätzen von Grohnde und Brokdorf, Gorleben und Wackersdorf. Heute verteidigt Umweltminister Jürgen Trittin die Castortransporte unter Verweis auf die Pflicht zu bundespolitischer Verlässlichkeit.

Obwohl die Grünen bisweilen Grundpfade ihrer Politik verlassen haben, bescheinigen ihnen Meinungsforscher heute beste Umfragewerte: Seit Ende des letzten Bundestagswahljahres liegt die Partei in den Umfragen regelmäßig oberhalb der Zehn-Prozent-Marke. Zwar gibt es noch immer belastende Querschläge von Seiten der traditionellen Linken um Christian Ströbele, doch insgesamt scheint es, als agierten die Grünen geschlossener, professioneller und zielorientierter denn je. Sie haben einen Status erreicht, gegen den sie sich einst gewehrt haben. Sie haben Teile ihrer Prinzipien und Ideologien über Bord geworfen. Und trotzdem üben die Grünen im derzeitigen Parteienspektrum eine große Anziehungskraft aus. Wie ist das zu erklären?

Regierungswillige und Fundamentalisten

In der Tat ist die Geschichte der Grünen eine Geschichte der Veränderungen. Das einstige facettenreiche Konglomerat aus Vertretern der Bürgerinitiativen, bunten Listen und K-Gruppen hat im Lauf der Zeit seine Kanten abgeschliffen: Als die grünen Delegierten im März 1980 über das Saarbrücker Grundsatzprogramm abstimmten, verabschiedeten sie sich damit gleichzeitig von einem ihrer wertkonservativen Gründungsväter. Herbert Gruhl waren die neuen Leitlinien zu liberal. Er zog sich aus der Partei zurück. In den achtziger Jahren bildeten sich Pole innerhalb der Partei. Regierungswillige Realpolitiker standen dogmatischen Fundamentalisten gegenüber. Die Auseinandersetzungen eskalierten und führende Flügelvertreter wie Otto Schily und Jutta Ditfurth verließen die Organisation – Schily konvertierte zur Sozialdemokratie, Ditfurth suchte die Nähe zu den gesellschaftlichen Bewegungen. Eine weitere Austrittswelle folgte 1999 mit dem militärischen Eingreifen auf dem Balkan.

Bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen ging es spätestens seit 1982 mit der Regierungstolerierung und späteren -beteiligung in Hessen immer wieder um das Spannungsfeld zwischen Realpolitik und Ideologie. Welche Kompromisse konnte die Partei auf dem Weg in eine alternative Gesellschaft verkraften? In welchem Verhältnis standen Lebensschutz und Gewaltfreiheit zueinander? Sollte ein gesellschaftlicher Wandel „ganzheitlich“ erfolgen oder schrittweise mit Bündnispartnern vorbereitet werden? Wo die einen den radikalen Umbruch forderten, argumentierten die anderen realpolitisch-pragmatisch und konsensorientiert. Da ein Ausgleich der Positionen ausblieb, blockierte sich die Partei in den achtziger Jahren und verlor jegliche Außenorientierung. 1990 büßte sie ihren Platz im Bundestag ein und kam gezwungenermaßen zur Besinnung. Zwar bestanden die zentralen Streitpunkte und Pole grüner Politik auch in den neunziger Jahren fort, doch sicherte die Furcht vor der politischen Bedeutungslosigkeit einen konstruktiven Pragmatismus. Die Grünen nutzten das Jahrzehnt, um sich auf die bundespolitische Regierungsbeteiligung vorzubereiten.

Aus dem eigenen Chaos bezogen sie ihre Kraft

Nachdem die fundamentalen Koalitionsgegner die Partei verlassen, die Grünen ihren Machtwillen und ihre Regierungsfähigkeit schon in den verschiedensten Bundesländern, in Hessen, Berlin und Niedersachsen erprobt hatten, standen sie nun auch bundespolitisch in den Startlöchern. 1998 war es so weit: 18 Jahre lagen zwischen Gründung und Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. 18 Jahre, in deren Verlauf immer wieder das Ende der Partei prophezeit worden war – weil man sie für bewegungsunfähig hielt, als bloße Generationenpartei analysierte und deren natürliches „Ergrauen“ vermutete. Oder weil Joseph Fischer als einzige Führungsfigur die mediale Berichterstattung dominierte. Diese Zeit zwischen dem Gründungsparteitag in Karlsruhe und der Bundestagswahl 1998 führten zeitweise durch das Chaos, die Partei blockierte sich bisweilen selbst. Für Außenstehende war es manchmal schwer, die Ziele grüner Politik zu erkennen. Doch eben aus dieser Unordnung, den Blockaden und ihrer zeitweiligen Unbestimmtheit zogen die Grünen ihre Kraft.

Die grünen Funktionäre, Abgeordneten und Delegierten haben viel diskutiert, auf Parteitagen und auch sonst. Sie gingen als Visionäre in die Politik und haben auch heute noch ganz eigene Vorstellungen davon, wie eine lebenswertere Gesellschaft aussehen kann. Sie kombinieren die ökologischen Grundwerte mit individualistischen Lebensentwürfen. Mit ihrem neuen Grundsatzprogramm akzeptierten die Grünen die Anwendung rechtsstaatlicher und völkerrechtlich legitimierter Gewalt in Ausnahmefällen. Sie lösten sich von alten Prinzipien, setzten sich mit Begriffen wie dem der Generationengerechtigkeit auseinander und schafften auf diese Weise den Sprung in die Gegenwart.

Ihr Antrieb ist ein hedonistischer

Gewiss, das ideologische Pendel der ehemaligen Antiparteien-Partei ist in Richtung Realpolitik ausgeschlagen. Die Grünen scheuen nicht mehr vor der Verantwortung zurück, sie wollen regieren. Doch bewahren ihre Grundsatzdebatten um Kriegseinsätze, Naturschutz und Globalisierung ideenpolitische Lebendigkeit. Sie verleihen der Partei Strahlkraft. Die Suche nach Werten und Orientierungen vor dem Hintergrund einer individuellen Lebensweise passt zum Zeitgeist. Außerdem ist die liberal-bürgerliche Anhängerschaft vergleichsweise offen für die derzeit anstehenden Reformen. Daher können die Grünen vielleicht sogar vorübergehend noch neue Wählerschichten erschließen.

Doch möglicherweise müssen sie gar nicht aktiv an einer Ausweitung ihrer Anhängerschaft arbeiten. Denn die Alternativkultur ist selbst Establishment geworden. Gesellschaftlicher Protest und Integration haben sich miteinander verwoben. Im Prenzlauer Berg, dort wo die Grünen nun ihr Jubiläum feiern, tragen gut verdienende Akademiker, junge Mütter, jobbende Studenten und gelegentlich arbeitende Lebenskünstler Mode im Stil der achtziger Jahre. Statt wie ihre Vorgänger gegen die Ungerechtigkeiten der Welt oder die Zerstörung der Natur zu demonstrieren („Der Wald ist so krank wie niemals zuvor“, war im vergangenen November in den Zeitungen zu lesen; Anlass also gäbe es durchaus), organisieren sie sich mit Secondhandläden und Kinderhorten ein eigenes Milieu. Ihr Antrieb ist ein hedonistischer. Sie flanieren sonntags durch die Kastanienallee, trennen aber trotzdem ihren Müll, essen vegetarisch oder kaufen ihr Neulandfleisch im Bioladen. Selbstlose Weltverbesserer können und wollen sich einen solchen Lebensstil nicht leisten.

Stehen den Grünen goldene Zeiten bevor?

So hat sich die Alternativkultur etabliert. Jeder ist ein wenig rebellisch und individuell, gleichzeitig ein wenig wie die Eltern und ein wenig wie die anderen. Die für Teile der Bundesrepublik noch unangepasst wirkende Lebensart ist schon längst zentraler Bestandteil der Gesellschaft geworden. Die Grünen erzielen in einigen Bezirken in der Nähe des Helmholtzplatzes weit über 40 Prozent der Stimmen. Christian Ströbele gewann im Wahlkreis Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg-Ost 2002 als erster Grüner ein Direktmandat für den Bundestag. Stadtsoziologen vermuten in diesen Bezirken vorsichtig Trendsetter neuer Lebensformen. Stehen den Grünen goldene Zeiten bevor?

Für solch ein Fazit ist es viel zu früh. Zunächst vergehen bis zur nächsten Bundestagswahl noch über 18 Monate, in denen die unsteten Stimmungswinde leicht wieder drehen können. Die Gesellschaft wandelt sich. Eine Konsequenz der Individualisierung ist eben auch, dass Parteibindungen immer unstabiler werden. Und politische Wahlen werden letztlich doch nur zu geringen Teilen von jungen Großstädtern entschieden. Außerdem: Auch der Anteil der Nicht-Wähler liegt in den genannten Berliner Ost-Bezirken über dem Bundesdurchschnitt – teilweise über 40 Prozent, Tendenz steigend. Gerade dort also, wo die Grünen stark sind. Nicht nur die „Altparteien“, sondern auch die ihrerseits in die Jahre gekommenen Grünen müssen aufpassen. Sonst könnten auch sie den Anschluss an diese Teile der Gesellschaft verlieren.

zurück zur Ausgabe