Auf der Höhe der Zeit

Das Versprechen der freiheitlichen Demokratie bleibt für viele hohl, wenn es nicht durch ermöglichende Instrumente unterlegt ist. Darum ist Ralf Dahrendorfs sozialer Liberalismus heute aktueller denn je. Eine Würdigung zum 80. Geburtstag

"Freiheit darf kein Privileg werden, und das heißt, dass es ein Gebot der Politik der Freiheit ist, mehr Menschen, prinzipiell allen Menschen die Anrechte und das Angebot zu verschaffen, die wir selber schon genießen."

Ralf Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung (2003)

Ralf Dahrendorf, in den sechziger Jahren einer der geistigen Wegbereiter der sozial-liberalen Koalition, beging am 1. Mai seinen 80. Geburtstag. Seine Ideen sind heute aktueller denn je. Obgleich er seinem Selbstverständnis nach Zeit seines Lebens ein Liberaler war, offenbart sein Verhältnis zur Sozialdemokratie mehr Verbindendes als Trennendes. In der Tat ging Dahrendorf stets "über Grenzen" (so der treffende Titel seine Autobiografie) parteipolitischer Natur hinaus. Dafür gab es auch biografische Gründe. Sein Vater Gustav Dahrendorf hatte in der Weimarer Republik als SPD-Abgeordneter dem Reichstag angehört und sich nach 1933 als Widerstandskämpfer dem Nationalsozialismus entgegengestellt; auch Dahrendorfs jüngerer Bruder Frank ist Sozialdemokrat und gehörte als Staatsrat und Senator Landesregierungen in Hamburg und Berlin an.

Mit Willy Brandt teilte Ralf Dahrendorf in den siebziger Jahren die gemeinsame Erinnerung an die Herkunft aus der Arbeiterbewegung. Nach dem Krieg war Ralf Dahrendorf zunächst sogar selbst der SPD beigetreten. Nicht ohne Stolz berichtet er, wie er sich mit dem Hamburger SDS 1948 (damals unter dem Vorsitz von Helmut Schmidt) dafür einsetzte, Arbeiterkinder ohne Abitur zur Universität zuzulassen. Die SPD vertritt diese Position noch heute und fordert den Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte " auch ohne Abitur.

Mehr Lebenschancen für mehr Menschen

Bildung als Bürgerrecht oder, allgemeiner, mehr Lebenschancen für mehr Menschen: Mit diesen Leitmotiven setzte sich Dahrendorf bereits in den sechziger Jahren an die Spitze eines progressiven Diskurses in der Bundesrepublik. Weit früher als andere erkannte er, dass unter den Bedingungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts Bildung die wichtigste individuelle und gesellschaftliche Ressource überhaupt darstellt. Die praktische Verwirklichung der dafür nötigen Chancengleichheit, die Dahrendorf unermüdlich anmahnte, blieb ein ungelöstes Problem für nachfolgende Politikergenerationen.

Schon in seinem 1965 veröffentlichten Werk Homo Sociologicus zeigt Dahrendorf, wie sehr ein gesellschaftliches Umfeld und die daraus resultierenden Erwartungen uns ein gewisses Rollenverhalten aufzwingen. Als Vorsitzender der Zukunftskommission in Nordrhein-Westfalen kam er damals zu dem Schluss, dass gerade Jugendliche aus Einwandererfamilien sowie sozial Benachteiligte aufgrund eben jener Rollenerwartungen nicht in der Lage sind, ihre Lebenschancen so zu verwirklichen, wie es ihnen in einer freien und wohlhabenden Gesellschaft eigentlich zustehen müsste.

Dahrendorfs Freiheitsbegriff geht daher weit über das Minimalverständnis anderer Liberaler hinaus. Wie es der Historiker und langjährige Weggefährte Fritz Stern treffend formulierte, ist Dahrendorf von der Sorge um die Möglichkeit menschlicher Freiheit geprägt. Immer wieder geht es Dahrendorf um die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Freiheit: Wie können Menschen mit denjenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet werden, die überhaupt erst die Grundlage dafür schaffen, dass ein wahrhaft freies, selbstbestimmtes Leben möglich wird?

Freiheit bedeutet deshalb für Ralf Dahrendorf immer "tätige Freiheit" und " in Anlehnung an Amartya Sen " "Entwicklung": "Es gibt keine größere Aufgabe einer Politik der Freiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts als die Lebenschancen der Erfolgreichen möglichst allen in den OECD-Ländern und vielen in aller Welt verfügbar zu machen", schreibt Dahrendorf. Es ist auffällig, dass dieser dynamische Freiheitsbegriff, ausgerichtet auf die Ermöglichung von mehr Lebenschancen für mehr Menschen durch die Ausbreitung ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen, im Diskurs der FDP heute keine nennenswerte Rolle mehr zu spielen scheint. "Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es an", postulierten 1971 die Freiburger Thesen der FDP. "Mehr Lebenschancen für mehr Menschen", forderte damals FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach. Dies spiegelte die Wirkungsmacht Ralf Dahrendorfs im deutschen Parteiliberalismus der damaligen Zeit wider. Kein Zweifel, innerhalb der gegenwärtigen FDP ist der Traditionsstrang des "Lebenschancen-Liberalismus" Dahrendorfscher Prägung ziemlich versiegt.

Wie viel Dahrendorf steckt noch in der FDP?

Anderswo indessen steht Dahrendorfs sozialer Liberalismus umso höher im Kurs. In den vergangenen Jahren hat beispielsweise die sozialdemokratische Programmatik aus guten Gründen eine Akzentverschiebung hin zu einem stärker vorsorgenden und in die Entwicklungspotenziale der Menschen investierenden Sozialstaat erfahren. Dieser Ansatz trägt nicht zuletzt der Überlegung Rechnung, dass das Freiheitsversprechen der liberalen Demokratie für allzu viele Menschen hohl bleibt, wenn es nicht durch handfeste ermöglichende Instrumente unterlegt ist. Denn, um noch einmal das Freiburger Programm der FDP von 1971 zu zitieren: "Freiheit und Glück des Menschen sind " nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte." Dieses Postulat bleibt richtig. Moderne Sozialdemokraten bekennen sich daher selbstbewusst dazu, dass auch Ralf Dahrendorf zu ihren intellektuellen Stichwortgebern zählt. Hingegen ist ein Einfluss der Ideen Dahrendorfs auf den ideenpolitischen Kosmos der FDP derzeit mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Der Qualität des freidemokratischen Diskurses in den vergangenen Jahren hat das nicht gutgetan.

Als Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik wünschte sich Dahrendorf, letztere sollte öfter vom Recht auf Irrtum und Selbstkorrektur Gebrauch machen " so wie es sein Mentor Karl Popper praktizierte. Gilt Ähnliches auch in Bezug auf Dahrendorfs bekanntes Verdikt, das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts stehe bevor? Der Epochenbruch der gegenwärtigen Wirtschaftskrise lässt dies vermuten. Wir können jetzt die politischen Weichenstellungen treffen, um " in freiheitlicher Absicht " eine neue Ära der sozialen Demokratie einzuläuten.

Auch bei diesem notwendigen Aufbruch verdanken wir Dahrendorf nützliche Hinweise. Immer wieder hat er in den vergangenen Jahren " und lange vor dem akuten Ausbruch der gegenwärtigen Krise " auf die Grenzen hingewiesen, die freie Gesellschaften wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit setzen müssen. Weitsichtig wusste er vor dem ungebändigten Profitstreben und der Gier einzelner Manager, wenn diese die Lebenschancen der Mehrheit gefährden: "Lebenschancen haben nur dann einen Sinn, wenn die Optionen eingebettet bleiben in Koordinaten der Solidarität, der Zugehörigkeit und der Zusammengehörigkeit", mahnte Ralf Dahrendorf bereits 2003. "Wenn die Gesellschaft zerfällt und Anomie einsetzt, werden alle Wahlmöglichkeiten zunichte." Dies sind die Einsichten eines Zeitgemäßen.

Dieser Beitrag erscheint auch in der Online-Ausgabe der Zeitschrift "Liberal".

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