Auf dem Weg zur Industrie 4.0

Wird Deutschland einer der weltweit führenden Industriestandorte bleiben, wenn erst das "Internet der Dinge" das Maß der Dinge ist? Nötig dafür ist strategisch integrierte Industriepolitik auf der Höhe der Zeit. Die neue Bundesregierung sollte den angelaufenen Entwicklungsprozess mit Hilfe der "Plattform Industrie 4.0" energisch unterstützen

Einer der wesentlichen Gründe für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands ist seine starke industrielle Basis. Doch dieser Fortschrittsmotor steht vor grundlegenden Herausforderungen, die unter den Stichworten Internationalisierung, Demografie, Rohstoffverknappung oder Klimawandel oft genug beschrieben worden sind. Zugleich ist eine leise Revolution im Gange: Die Wertschöpfungskette verändert sich, an den Industriestandorten im Land entstehen ganz neue Produkte, Techniken und Verfahren.

Beispielsweise wird sich die Produktionsweise in der Automobilbranche künftig vollkommen verändern. Türrahmen und Dächer werden nicht mehr geschweißt, sondern geklebt. Es werden keine Bleche mehr gepresst, sondern Carbongelege verformt. Sichtbar wurde die silent revolution zuletzt bei der Präsentation des neuen BMW i3: Der Wagen fährt nicht nur zu hundert Prozent elektrisch, sondern besitzt zudem eine Karosserie aus carbonfaserverstärktem Kunststoff.

Jetzt kann endlich jeder alles selbst machen

Dies könnten die Anfänge einer vierten industriellen Revolution sein. Viele neue Möglichkeiten ergeben sich und sollten genutzt werden. Schon bald wird der Endkunde unmittelbar profitieren. So könnte das neue Verfahren des 3D-Drucks dazu führen, dass Autowerkstätten Ersatzteile künftig direkt vor Ort passgenau herstellen. Die Wertschöpfung wird sich wesentlich dezentralisieren, und Massenprodukte können individuell angepasst werden. Darüber hinaus treten cyber-physikalische Systeme ihren Siegeszug an und führen beispielsweise über intelligente Stromnetze zu einer Revolution in der Energieversorgung.

„Industrie 4.0“ lautet das dazu passende Schlagwort, häufig wird auch von „Integrated Industry“, „Internet der Dinge“ oder „Industrial Internet“ gesprochen. Die damit verbundenen Entwicklungen können wesentlich dazu beitragen, dass Deutschland erfolgreiche Strategien zur Bewältigung der eingangs beschriebenen aktuellen Herausforderungen entwickelt.

Eine einheitliche Definition für „Industrie 4.0“ existiert zwar nicht, allerdings versteht der überwiegende Teil der Literatur darunter den Wandel von Organisation und Steuerung der Wertschöpfungskette über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg. In der Fabrik der Zukunft – die vielfach schon Realität ist – sind alle am Produktionsprozess beteiligten Elemente über Sensoren oder Netzwerke miteinander verbunden und interagieren. Idee, Auftrag, Entwicklung, Fertigung und Auslieferung werden durch sämtliche Dienstleistungen bis hin zum erfolgreichen Recycling ergänzt. Die erste industrielle Revolution hatte mit der Mechanisierung begonnen. Die zweite wurde durch die Elektrifizierung ausgelöst. Die dritte gab der Industrie mittels Informatisierung neuen Auftrieb. Jetzt läutet der Einzug des so genannten Internets der Dinge eine vierte industrielle Revolution ein. Damit einher geht eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ (Chris Anderson): Von nun an kann jedermann Produkte am Computer entwerfen, direkt produzieren und als Unternehmer vertreiben.

Die Weitsicht der Großen Koalitionäre

Wird Deutschland auch in diesem Bereich einer der führenden Wirtschaftsstandorte und weltweiter Fabrikausstatter bleiben? Die Voraussetzungen dafür sind vorhanden. Neben konkreten Innovationen wie dem BMW i3 ist in keinem anderen Industrieland der Anteil der Wertschöpfung, der auf die Produktion forschungsintensiver Güter und wissensintensiver Dienstleistungen entfällt, höher als hierzulande. Unser industrieller oder industrienaher Mittelstand ist bereits heute überwiegend darauf ausgerichtet, individuelle Kundenwünsche zu befriedigen. Jedoch: Für die Änderung der Wertschöpfungsstruktur benötigt auch die Politik neue Ansätze. Auf der einen Seite geht es um weitere Investitionen in die Breitband-, Energie- und Verkehrsinfrastruktur, auf der anderen Seite muss die neue Bundesregierung industriepolitische Maßnahmen im engeren Sinne entwickeln. Es ist gut, dass sich CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag darauf verständigt haben, „das Feld Industrie 4.0 aktiv zu besetzen“.

Denn Industriepolitik war lange Jahre verpönt, ihr wurde Wirkungslosigkeit unterstellt. Neuere Studien belegen allerdings, dass gezielte Unterstützungsmaßnahmen in wissensintensive Branchen Wachstumsimpulse auslösen und positive Effekte auf Produktivität und Innovationen haben können, gerade in wettbewerbsintensiven Branchen. Für solche positiven Wirkungen bedarf es eines strategischen Staates, der eine aktive Wachstumspolitik betreibt.

Innovationen entstehen heute vor allem in erweiterten Kompetenznetzwerken, also in strategischen Allianzen über Unternehmensgrenzen hinweg. Solche Wertschöpfungspartnerschaften entwickeln gemeinsam Komponenten und Produkte. Rund 70 Prozent der mittelständischen Wachstumschampions in Europa – definiert als die 10 Prozent der am schnellsten und profitabelsten wachsenden Unternehmen – setzen auf die enge Einbindung von Netzwerkpartnern im Innovationsmanagement. Exakt darin besteht die Hauptaufgabe eines strategischen Staates für die „Industrie 4.0“: Er agiert als Partner, der Innovationsmanagement anbietet und organisiert.

In der vergangenen Legislaturperiode haben Bundesregierung, Wissenschaft, Industrie und Gewerkschaften darüber beraten, welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und technischen Maßnahmen erforderlich sind, um auf die bahnbrechenden Änderungen entlang der Wertschöpfungskette zu reagieren. Das Ergebnis der „Plattform Industrie 4.0“: Wertschöpfungsketten und erweiterte Kompetenznetzwerke können mit Strategien zur Ressourcenproduktivität und -effizienz stetig verbessert werden. Die technischen Entwicklungen fördern nicht nur eine „Demokratisierung“ der Produktion, sondern auch den Beschäftigungsstandort Deutschland. Die neuen Technologien können Arbeitsabläufe demografie-sensibel ausgestalten, indem sie Routinearbeiten übernehmen und es somit älteren Arbeitnehmern ermöglichen, länger in ihren Bereichen tätig zu sein. Dafür bedarf es allerdings aufgrund des schnellen technischen Wandels in der Industrie einer höheren Weiterbildungsquote. Zudem ermöglicht die zunehmende Digitalisierung – bei allen durchaus auch kritischen Entwicklungen wie der dauerhaften Erreichbarkeit – die Möglichkeit, Familie und Beruf besser zu vereinbaren.

Kommunikation, nicht staatliche Planung!

Aus diesen Ergebnissen müssen nun Zukunftsperspektiven für die einzelnen Industrien und ihre Beschäftigten entwickelt werden. Die dafür notwendigen Handlungsfelder hat der Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 für die Bundesregierung benannt. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, regionale Dialoge durchzuführen, die den Mittelstand einbinden. Darauf aufbauend sollten regional- und branchenspezifischen Entwicklungsziele abgestimmt werden und in einen „Aktionsplan Industrie 4.0“ münden. Dabei ist klar: Der Markt gibt die Richtung der Entwicklung vor. Es handelt sich um eine Entwicklung, die von verfügbaren Technologien getrieben wird – und nicht um am Reißbrett entworfene politische Ideen. Deshalb wird die „Industrie 4.0“ auch nicht durch einen politisch oktroyierten Modernisierungsprozess entstehen (so etwas geht immer schief), sondern in einem evolutorischen Prozess. Das gemeinsame Ziel der beteiligten Akteure – Unternehmen, Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbände und Politik – muss es sein, Informations- und Kommunikationstechnologie mit klassischer Hochtechnologie zusammenzuführen und Deutschland auf diesem Gebiet strategisch zu positionieren. Es geht darum, Ausbildungsberufe stärker auf die neuen Prozesse auszurichten, Forschungsinstitutionen und Hochschulen einzubinden sowie Weiterbildungsangebote für ältere Beschäftigte anzubieten. Die Menschen müssen fit gemacht werden für die Demokratisierung der Produktion.

Aus diesen Gründen sollte die bestehende „Plattform Industrie 4.0“ dauerhaft gesichert werden. Hier könnte das Kommunikationszentrum entstehen, das die oben beschriebenen Foren zusammenführt, welche sich um die innovativen industriellen Kerne im Land bilden. Der Staat sollte den industriellen Entwicklungsprozess begleiten und mittels gezielter Förderung und Projekte unterstützen. Nur dann können wir das Produktionspotenzial der deutschen Wirtschaft langfristig sichern und gut bezahlte Beschäftigungsverhältnisse langfristig halten.

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