Auf dem Weg zur anständigen Gesellschaft

Den Deutschen ist ihr Bild von den Niederlanden gehörig ins Wanken geraten. Da gab es auf einmal Regierungskrisen, politische Morde und enorme Wählerwanderungen. Waren die Niederlande nicht gerade erst wegen niedriger Arbeitslosigkeit und "Flexicurity" das "Modell Holland" gewesen? Was passiert da eigentlich? Und wie sollte es weitergehen?

Die Niederlande scheinen so etwas wie ein Labor für politische Stimmungen, Modelle und Moden zu sein – im positiven wie im negativen Sinne. In den neunziger Jahren waren die Niederlande für ihr so genanntes Polder-Modell berühmt, für harmonische Kooperation und Konsens sowohl in den Arbeitsbeziehungen als auch in der Politik. Symbolisch für dieses Modell stand das „Wassenaar-Abkommen“ zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Regierung, mit dem die Arbeitslosigkeit bekämpft werden sollte. Das Polder-Modell war unser bestes Exportprodukt. Es inspirierte etwa Gerhard Schröders „Bündnis für Arbeit“ und brachte den niederländischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen den angesehenen Bertelsmann-Preis ein.

Aber seit 2002 ist Holland zu einem Labor für ethnische Spannungen geworden. Kurz vor den Parlamentswahlen von 2002 wurde Pim Fortuyn ermordert, jener Politiker, der dem Unmut der Bevölkerung über Einwanderung, Islam und Sozialreformen eine Stimme gegeben hatte. Das Land stand unter Schock. Zwei Jahre später erstach ein radikaler Muslim den Filmemacher Theo van Gogh auf offener Straße in Amsterdam.

Daraufhin verhärteten und enthemmten sich die politische Debatte und die Einstellungen der Menschen gegenüber Einwanderung und Integration. Heute scheint Holland weit weniger tolerant zu sein als früher. Das Parteiensystem ist mit einer starken populistischen Bewegung konfrontiert. Was also ist mit Holland los? Um zu erklären, was passiert ist und wie wir auf Veränderungen reagieren sollten, greife ich auf meine Erfahrungen als Bürgermeister von Amsterdam zurück – eine Stadt, die sich selbst als geistesverwandt mit dem kreativen und dynamischen Berlin erachtet.

Amsterdam und Berlin sind beide bekannt für ihre freiheitliche Tradition und ihre Toleranz gegenüber Kunst, unterschiedlichen Lebensweisen und anderen Kulturen. Beide Großstädte sind wie Dampfkochtöpfe, was kreative Dynamik, aber auch Spannungen und Polarisierung angeht. Amsterdam ist eine Stadt mit einer langen Einwanderungstradition, ihre Bewohner stammen mittlerweile aus mehr als 170 verschiedenen Nationen und Kulturen. Diese Vielfalt zu organisieren ist für sozialdemokratische Politiker bereichernd und schön. Aber es gibt auch Schattenseiten. Die Stadt zusammenzuhalten und die sozialen, wirtschaftlichen sowie kulturellen Unterschiede zu überwinden, kann harte Arbeit sein. Entwicklungen wie Globalisierung, Individualisierung, Demokratisierung, Säkularisierung und Privatisierung haben – zusammen mit der Einwanderung – zu einer Gesellschaft geführt, in der sich die Menschen als Fremde begegnen. Die Kriminalität von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der eigenen Nachbarschaft oder im eigenen Bezirk verstärkt Angst- und Entfremdungsgefühle.

Vor sechs Jahren: Der Mord an Theo van Gogh

In diesem Jahr begehen wir den sechsten Jahrestag der Ermordung Theo van Goghs. Wie viele andere erinnere ich mich lebhaft an diesen Tag. Erst kam die Wut – und sofort danach das Misstrauen. Als Bürgermeister von Amsterdam musste ich handeln. Wir haben damals ein Aktionsprogramm „Wij Amsterdammern“ ins Leben gerufen: Wir, die Einwohner Amsterdams, brachten damit zum Ausdruck, dass wir alle gutwilligen Menschen zusammenbringen wollten. Das Programm hatte zum Ziel, erstens die Bindungen innerhalb und die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen zu stärken; zweitens die Minderheiten zu fördern; drittens das soziale Vertrauen zu steigern; und viertens, negativen Bildern und Vorurteilen entgegenzuwirken.

Um ein Beispiel aus der Praxis dieses Aktionsprogramms zu geben: Im Jahr 2003 störten einige marokkanisch-niederländische Jugendliche die Feierlichkeiten rund um den Tag der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Anschließend berichteten die Medien über Probleme mit muslimischen Schülern, wenn im Unterricht der Zweite Weltkrieg und die Judenverfolgung behandelt wurden. Auch die Leugnung des Holocaust spielte eine Rolle. Jüdische Männer scheuen immer häufiger davor zurück, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen. Damals herrschte in der jüdischen Gemeinde große Angst. Ihre Vertreter wollten dringend mit Vertretern der marokkanischen Gemeinschaft über diese Themen sprechen. Die vielen Beispiele von Alltagsdiskriminierung gegenüber Muslimen sind ebenso inakzeptabel wie diese Zwischenfälle.

Deshalb entschied ich mich dafür, die Leitung einer Reihe von Gesprächen zwischen Vertretern der jüdischen und der marokkanischen Gemeinschaften zu übernehmen, die in den Jahren 2004 und 2005 stattfanden. Bis auf wenige Ausnahmen hatten sich die an diesen Diskussionen beteiligten Menschen zuvor selten oder nie getroffen. Die Gespräche waren intensiv und offen. Selbst sensible Themen kamen zur Sprache, wie etwa der Konflikt im Nahen Osten, von dem wir alle betroffen sind. Aber obwohl wir unterschiedliche Standpunkte und Meinungen vertraten, war da etwas Stärkeres, das uns verband und am gemeinsamen Tisch sitzen bleiben ließ: die Überzeugung, dass wir zuallererst Bürger von Amsterdam sind, dass wir alle hier leben und deshalb jegliche Form von Diskriminierung ablehnen.

Diese Erfahrungen haben meine Vorstellungen davon, welche Mission die Sozialdemokratie in den kommenden Jahren zu erfüllen hat, maßgeblich beeinflusst. Genau deshalb erklärte ich mich bereit, bei den Wahlen vom 9. Juni 2010 als Spitzenkandidat für die Partij van de Arbeid (PvdA) anzutreten. Die zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie besteht aus meiner Sicht darin, den Bürgern die Perspektive einer anständigen Gesellschaft zu geben, einer Gesellschaft mit sozialem Vertrauen, mit Zusammenhalt und mit gegenseitigem Respekt.

„De Boel bij elkaar houden“

Letztlich handelt die sozialdemokratische Geschichte vom Zusammenbringen, vom Einbeziehen und vom Brückenbauen. „De Boel bij elkaar houden“, wie es in meiner Partei genannt wird. Das sind die berühmten Worte von Joop den Uyl, unserem Willy Brandt der siebziger Jahre. Sie bedeuten so viel wie: „Die Menschen in der Gesellschaft zusammenhalten“ oder „eine sozial integrierte Gesellschaft aufrecht erhalten“. Wir müssen die Individualisierung, die Fragmentierung und die Polarisierung mit all ihren Risiken bekämpfen! Wir dürfen keine großen Ungleichheiten tolerieren, sondern müssen alle Bürger der Gesellschaft miteinander verbinden! Das ist ein Grundgedanke der europäischen Sozialdemokratie und bedeutet zugleich eine Korrektur der politischen Richtung, die wir in den vergangenen Jahrzehnten eingeschlagen haben.

Der Satz ist auch ein Aufruf zur Mäßigung, eine Antwort auf Fanatismus und Hysterie, die sowohl extrem populistische Stimmen als auch abgekoppelte Eliten schüren. Diese bereichern sich, predigen die umfassende Anpassung an die globalisierte Welt – und scheren sich zugleich wenig oder gar nicht um die politischen, kulturellen und sozialen Kosten dieser Anpassung. Genau hier liegt eine der Ursachen für den Populismus von Unzufriedenheit, Angst und Wut.

Bei der heutigen Botschaft der PvdA geht es um genau dieses verbindende Narrativ. Es geht mir um eine inklusive Gesellschaft, nicht um eine exklusive. Wir müssen endlich die polarisierenden Tendenzen in unserer Gesellschaft angehen. Schließlich fordert uns ja nicht nur die kulturelle Fragmentierung heraus – verschiedene Lebensstile, extreme Individualität und ethnische Segregation. Infolge des neoliberalen Dogmas und der Krise des Kasino-Kapitalismus haben wir es auch mit wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten und Schieflagen zu tun. Zwischen den immer reicheren oberen Schichten und dem prekären Unten liegt eine zersplitterte Mittelschicht. Dazu kommen die polarisierenden Tendenzen innerhalb unserer Demokratie: Immer weniger Bürger haben Vertrauen in die Politik und die öffentlichen Institutionen; sie sind dabei, den Anschluss an den demokratischen Prozess zu verlieren.

Das Prinzip Volkspartei bewahren

Sozialdemokratische Parteien müssen sich um die Sorgen ihrer Wähler kümmern. Und sie müssen auf diese polarisierenden Tendenzen mit einem Programm reagieren, das zu weniger sozioökonomischer Ungleichheit führt, eine aktive Bürgergesellschaft fördert und kulturelle Differenzen überbrückt. Ich nenne das die „Alles-zusammenhalten-Mission“. Sorgen bereitet mir, dass auch die Sozialdemokratie selbst zu fragmentieren droht. Eine unserer Aufgaben besteht darin, die sozialdemokratische Anhängerschaft beieinander zu halten, das Prinzip der Volkspartei pars pro toto für die europäischen Wohlfahrtsgesellschaften insgesamt zu bewahren. Und es stört mich, dass besser gebildete Menschen zu den Grünen und den sozialliberalen Parteien abdriften – alles eher Akademikerparteien als Parteien mit einem breiten und inklusiven Anspruch.  

Ohne Zweifel hat die Finanz- und Wirtschaftskrise unsere Gesellschaften hart getroffen. Aber sie hat auch Möglichkeiten eröffnet, unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung neu zu gestalten. Wie gesagt: Entscheidend wird es in den nächsten Jahren sein, den Zusammenhalt und das Brückenbauen zu fördern. Wir teilen ein gemeinsames Schicksal und stehen vor einer gemeinsamen Zukunft unserer Gesellschaft, unserer Demokratie und unserer Wirtschaft. Nation für Nation – und europaweit.


Gesellschaft. Um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft wiederzugewinnen, müssen wir das Vertrauen zueinander und den Respekt füreinander erneuern. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Menschen als „Heimat“ empfinden können. Drei grundlegende Bestandteile sind dafür notwendig. Erstens brauchen wir Empathie und Verständnis für die Position des Anderen. Zweitens brauchen wir klare Grenzen, die auf der Verfassung und Rechtsstaatlichkeit gründen – und diese Regeln und Gesetze müssen auch durchgesetzt werden. Drittens brauchen wir Partizipation in der Zivilgesellschaft, in der Politik und in der Wirtschaft. Diese Neuausrichtung braucht Zeit und ist eher auf lokale Initiativen und Interventionen angewiesen als auf nationale. Vor allem auch unsere städtischen Regierungen müssen vorangehen und positive Kräfte mobilisieren.

Eine neue Art von Klebstoff muss her


Demokratie. Die Stärkung unserer Demokratie basiert auf drei grundlegenden Kategorien: auf einem selbstbewussten Staat, auf dem öffentlichen Interesse und auf dem Prinzip der citizenship. Bürgersinn ist notwendig für eine Gesellschaft mit stärkerem Zusammenhalt, aber auch, um unsere demokratischen Werte und Praktiken zu verbessern. All die verschiedenen Menschen aus so vielen verschiedenen Kulturen zusammenzuhalten, erfordert in den Worten des niederländischen Schriftstellers Geert Mak, „eine neue Art von gemeinschaftlichem Klebstoff“, der wieder eine Art Urvertrauen schaffen wird. Dieses Urvertrauen ist Teil einer Neuinterpretation von citizenship. Im Wesentlichen bedeutet citizenship, dass wir einander als Bürger der gleichen Gemeinschaft vertrauen – sei es ein Dorf, eine Stadt oder ein Land. Um noch einmal Mak zu zitieren: Es geht um „Vertrauen, nicht nur in die wechselseitigen guten Absichten, sondern auch in die Qualität von Verwaltung und Justiz, in die Kompetenz und Integrität der Politiker, in den Bürgersinn von Managern und Unternehmern“. Die Wiederherstellung von Vertrauen erfordert die Wiederherstellung von Verantwortung. Verantwortung sowohl für sich selbst als auch für das Ganze: für die Gesellschaft, in der man lebt, für die Firma, in der man arbeitet, für die Schule der Kinder oder für die eigene Straße.

Funktionierende citizenship muss auf einen selbstbewussten Staat zählen können. Nach Jahrzehnten der Liberalisierung und Deregulierung der Märkte ist es Zeit für eine Neubewertung des Staates. Es geht nicht um einen kleinen oder großen Staat, einen übermächtigen Staat oder einen „schüchternen“ Staat, sondern um einen effektiven, zielgerichteten und selbstbewussten Staat. Der Staat – auf nationaler wie europäischer Ebene – muss gegenüber den Märkten wieder klare Bezugspunkte der öffentlichen Interessen festsetzen. Er muss einen Kanon öffentlicher Werte formulieren, um die Märkte einbetten, regulieren und überwachen zu können – besonders die Finanzmärkte. Nach einer Periode, in der wir den Märkten anscheinend mehr vertraut haben als den Staaten, müssen wir das Vertrauen in den Staat, in den öffentlichen Sektor und den öffentlichen Dienst wiederherstellen. Klar definierte Verantwortlichkeiten und Politiker, die zur Rechenschaft gezogen werden, sind dafür eine Grundvoraussetzung.

Wirtschaft. Wirtschaftlicher Fortschritt beginnt mit sozialem Zusammenhalt, mit einer egalitären und integrativen Gesellschaft. Dies sind nicht nur moralische Normen, sondern auch wirtschaftliche Aktivposten. Eine Gesellschaft, in der jeder dazu angeregt und dabei unterstützt wird, sich zu beteiligen, dazuzugehören und seine Talente zu nutzen – unabhängig von Alter, Geburtsort oder Postleitzahl – ist wirtschaftlich wesentlich leistungsfähiger. In den kommenden Jahren, in denen es mehr ältere und weniger junge Menschen geben wird, brauchen wir ganz einfach die Arbeitskraft jedes einzelnen.

Eine Lektion haben wir aus der Finanzkrise gelernt: Wir müssen die finanziellen Risiken in unserer Wirtschaft beschränken. Wir brauchen echtes Unternehmertum und keine Wirtschaft, in der es nur Jäger und Gejagte gibt. Und wir brauchen innovative Unternehmen, damit unsere Gesellschaft stark, dynamisch und nachhaltig bleibt und damit wir neues Wachstum und Wohlstand schaffen. Verantwortung sollten wir dabei nicht nur von denjenigen verlangen, die ihren Weg zurück auf den Arbeitsmarkt finden müssen, sondern auch von den Wirtschaftseliten, die so viel von dem wirtschaftlichen Aufschwung profitiert haben. Warum nicht mal so: Wir brauchen auch ein „Hartz IV“ für die Wirtschaft.

Eine egalitäre und integrative Gesellschaft  

Außerdem geht es um ein Wirtschaftssystem, in dem prekäre Arbeit ein Ende hat, wie wir sie aus Günter Walraffs neuestem Buch Aus der schönen neuen Welt kennen; um ein Wirtschaftssystem, das Chancen auf sozialen Aufstieg eröffnet. In der Nachkriegszeit hat das ziemlich gut funktioniert: über Schule und Weiterbildung, Beschäftigungsförderung, den Umzug in ein besseres Viertel, Lohnerhöhungen – und indem wir unseren Kindern neue Chancen eröffnet haben. All das geschieht noch immer, dennoch müssen wir auf den unteren Teil der Gesellschaft besonders achten. Es ist kein Zufall, dass es eine der obersten Prioritäten von Barack Obamas Programm für change ist, die Mittelschicht auszuweiten – mit allen Möglichkeiten für die persönliche Entwicklung.

Unser gemeinsames Ziel für die kommenden Jahre sollte die „anständige Gesellschaft“ sein, wie sie der Philosoph Avishai Margalit beschreibt: eine Gesellschaft, in der die Menschen einander mit Respekt behandeln – auf der Straße, am Arbeitsplatz und im Rahmen der staatlichen Institutionen. Eine egalitäre und integrative Gesellschaft, in der das Rechtsstaatsprinzip gilt, in der Vielfalt inspiriert und Arbeit Würde schafft. Mit dieser Mission, so glaube ich, kann die Sozialdemokratie jene gesellschaftliche „Deutungshoheit“ wiedererlangen, von der Sigmar Gabriel gesprochen hat. «

Dieser Text basiert auf dem – leicht gekürzten – Manuskript der Rede, die Job Cohen auf der Feier zum zehnjährigen Jubiläum der „Berliner Republik“ am 21. April 2010 in Berlin halten wollte. Leider musste Cohen seinen Besuch in Berlin aufgrund vulkanbedingter Flugbeschränkungen im europäischen Luftraum kurzfristig absagen. Aus dem Englischen von Michael Miebach.

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