Was aus Europa geworden ist

Über Jahrhunderte wurden große Teile der Weltgeschichte in Europa geschrieben - und die Welt hat unendlich viel von ihrem »alten Kontinent« gelernt. Umso erstaunlicher ist das schiere Chaos, in das sich Europa in den vergangenen paar Jahren hineinmanövriert hat. Zerstörerische Austeritätspolitik vergrößert das ökonomische, politische und soziale Desaster immer weiter. Jetzt hängt Europas Zukunft davon ab, dass seine politischen Anführer endlich beginnen, die strategischen Herausforderungen der Zeit zu erkennen.

Über Jahrhunderte wurden große Teile der Weltgeschichte in Europa geschrieben – und die Welt hat unendlich viel von ihrem »alten Kontinent« gelernt. Umso erstaunlicher ist das schiere Chaos, in das sich Europa in den vergangenen paar Jahren hineinmanövriert hat. Zerstörerische Austeritätspolitik vergrößert das ökonomische, politische und soziale Desaster immer weiter. Jetzt hängt Europas Zukunft davon ab, dass seine politischen Anführer endlich beginnen, die strategischen Herausforderungen der Zeit zu erkennen.

Vor etwa fünfzig Jahren, im Jahr 1961 beklagte Jean-Paul Sartre den Zustand Europas: „Europa schlägt an allen Ecken und Enden leck.“ Er bemerkte: „In der Vergangenheit haben wir Geschichte gemacht – jetzt wird Geschichte aus uns gemacht.“ Sartre war zweifellos zu pessimistisch. Im vergangenen halben Jahrhundert hat Europa viele fundamentale Erfolge gefeiert: die Europäische Union ist entstanden; Deutschland hat sich wiedervereinigt; Osteuropa wurde demokratisiert; öffentliche Gesundheitsvorsorge und Sozialstaatlichkeit sind ausgebaut; ein gewisser Menschenrechtsstandard ist erreicht und wird durchgesetzt. All dies ging mit einer raschen Expansion der europäischen Volkswirtschaften einher. In deren Verlauf wurden die im Zweiten Weltkrieg verwüsteten Industrien und Infrastruktursysteme massiv auf- und ausgebaut.

Es gibt aber in der Tat einen Bruch in der Geschichte, auf den Sartre hätte hinweisen können. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden über Jahrhunderte hinweg große Teile der Weltgeschichte in Europa geschrieben. Dies erzeugte auf der ganzen Welt Bewunderung, in welche sich allerdings auch Angst mischte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich die Lage jedoch zügig. Als ich Anfang der fünfziger Jahre als Student aus Indien nach Cambridge kam, erkundigte ich mich, ob auch Vorlesungen über die Wirtschaftsgeschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gehalten würden. Ja, sagte man mir, solche Vorlesungen gebe es im Rahmen eines Kurses unter dem Titel „Europäische Expansion“. Diese Sicht auf die außereuropäische Welt erscheint heute etwas archaisch. Nicht nur, weil die großen europäischen Weltreiche untergegangen sind, sondern auch, weil sich die globalen Verhältnisse im Hinblick auf politische Bedeutung und wirtschaftliche Stärke radikal verschoben haben. Europa ist kein übermächtiger Riese mehr.

Was jetzt zu tun ist – und was jetzt nicht getan werden darf

Natürlich ist es weder besonders bemerkenswert noch zu beklagen, dass die Gewichte der verschiedenen Weltregionen im Wandel begriffen sind. Das hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Wirklich auffällig ist nicht die historische Machtverschiebung zwischen den Erdteilen. Erstaunlich ist vielmehr das Chaos, in das sich Europa im Laufe des vergangenen Jahrzehnts – und ganz besonders in den letzten paar Jahren – hineinmanövriert hat. Gegenwärtig wird, kaum verwunderlich, viel darüber diskutiert, wie sich Europa aus seinen finanziellen Wirren, seiner wirtschaftlichen Not und seinem politischem Chaos befreien könnte. „Was jetzt zu tun ist“, lautet die – sicherlich wichtige – Frage. „Was jetzt nicht getan werden darf“, ist allerdings angesichts der jüngsten Vergangenheit Europas nicht weniger bedeutend. Dies allein schon deswegen, weil die Fehler der Vergangenheit bedeutsam sind für die Entscheidung darüber, was nun in Europa zu tun ist. Zudem sind die negativen Erfahrungen, die in Europa gemacht worden sind, extrem wichtig, wenn in der übrigen Welt ähnliche Schwierigkeiten vermieden werden sollen.

Was also ist in den vergangenen Jahren in Europa falsch gelaufen? Ich werde meine Analyse in drei Abschnitte gliedern: das Wagnis der europäischen Einheit; die Erfordernisse der Demokratie; und schließlich die Notwendigkeiten einer soliden Wirtschaftspolitik. In analytischer wie auch in empirischer Hinsicht sind diese Fragen miteinander verknüpft.

Die Vereinigung Europas ist ein alter Traum. Allerdings ist dieser Traum nicht ganz so alt wie manchmal behauptet wird – die Idee wurzelt keineswegs in der klassischen Antike. Alexander und die alten Griechen waren eher nicht daran interessiert, sich mit Goten und Wikingern, Angeln und Sachsen zu unterhalten. Vielmehr suchten sie das Gespräch mit Persern, Baktrern und Indern. Auch Julius Cäsar und Marcus Antonius fühlten sich eher den alten Ägyptern verbunden als mit den Europäern nördlich von Rom. Aber Europa durchlief Welle um Welle kultureller und politischer Integration, wozu die machtvolle Ausbreitung des Christentums beitrug. Schließlich sprach im Jahr 1464 der König von Böhmen, Georg von Podiebrad, erstmals von pan-europäischer Einheit. Über die nächsten Jahrhunderte folgten viele andere seinem Beispiel nach, und im 18. Jahrhundert war es dann so weit, dass selbst George Washington an den Marquis de La Fayette schrieb: „Eines Tages werden nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staaten von Europa entstehen.“

Aber erst die fürchterliche Abfolge der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit ihrem massenhaften Blutvergießen machte gänzlich klar, wie dringlich Europas politische Einheit war. Im Frühjahr 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, sah der Dichter W.H. Auden den Albtraum der bevorstehenden europäischen Finsternis voraus: „In the nightmare of the dark / All the dogs of Europe bark / And the living nations wait / Each sequestered in its hate.“

Die Ereignisse, die folgten, bestätigten Audens schlimmste Erwartungen. Die schreckliche Angst, es könnte sich wiederholen, was die europäischen Völker in den beiden Weltkriegen durchleiden mussten, verfolgte zahlreiche Europäer noch lange Zeit. Man muss sich deshalb klar machen, dass die Bewegung für die Vereinigung Europas als Kreuzzug für politische Einheit begann und nicht als Kampagne für finanz- und währungspolitische Vereinheitlichung.

Die Geburt der föderalistischen Bewegung in Europa war stark motiviert von dem politischen Ziel einer Einheit, die selbstzerstörerische Kriege unmöglich machen sollte. Sowohl das Manifest von Ventotene aus dem Jahr 1941 als auch die Mailänder Erklärung von 1943 brachten das sehr deutlich zum Ausdruck. Es gab keine Vorbehalte gegenüber wirtschaftlicher Integration und nicht einmal gegenüber einer Finanzunion, aber oberste Priorität genossen eben nicht Bankenwesen oder Währungen, sondern Frieden, Hoffnung und die allmähliche Entwicklung politischer Integration. Dass die politische Einigung weit hinter der finanziellen Integration zurückblieb, ist eine spätere Entwicklung. Die Probleme, die diese merkwürdig gewählte Abfolge von Integrationsschritten geschaffen hat, sind von Belang für das Verständnis der Wirtschaftskrise, die Europa derzeit durchlebt.

Wut und Zwietracht unter den Völkern sind nach Europa zurückgekehrt

Ein oft übersehener Punkt ist in diesem historischen Kontext besonders wichtig: Die Probleme, die in der Eurozone dadurch entstanden sind, dass eine Währungsunion vor einer engeren politischen Union und einer Fiskalunion geschaffen wurde, haben nicht allein wirtschaftliche Folgen. Vielmehr sind sie auch die Ursache für Zwietracht unter den Menschen in den verschiedenen europäischen Ländern. Wut und Frustration in vielen verschiedenen Ausprägungen haben Spannungen zwischen den Ländern der Eurozone mit ihren unterschiedlichen Lebensstandards erzeugt und extremistische Tendenzen in einem Ausmaß angefacht, das Europa überwunden zu haben glaubte.

Die Zahlungsbilanzprobleme und die weiteren wirtschaftlichen Probleme, mit denen viele europäische Länder – Griechenland, Spanien und Portugal – zu kämpfen haben, kommen nicht besonders überraschend. Ihre Ursache ist die Inflexibilität in Bezug auf Wechselkurse und Währungspolitik innerhalb der Eurozone. Die deshalb notwendigen Krisen und Rettungsaktionen mit ihren Forderungen nach drakonischen Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen zehren auf beiden Seiten des Konflikts an den Nerven der Menschen. Diese Maßnahmen haben, wie die politische Rhetorik der jüngsten Zeit zeigt, den ohnehin bereits vorhandenen Europafrust heftig verschärft – im Norden wie im Süden. Wut und Verachtung richten sich gegen die jeweils anderen, die als „faule Griechen“ oder „imperialistische Deutsche“ wahrgenommen werden.

Oft wird in der europäischen Debatte auf die Opfer hingewiesen, die Deutschland gebracht habe, um in den Jahren nach 1990 seine Vereinigung zu bewältigen. Doch diese viel beschworene Analogie ist durch und durch irreführend. Das liegt zum einen daran, dass zwischen den verschiedenen europäischen Nationen heute nicht jenes Gefühl nationaler Einheit besteht, das im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung so große Opferbereitschaft hervorrief. Zum anderen waren es bei der Herstellung der deutschen Einheit wirtschaftlich gesehen vor allem die reichen Regionen Westdeutschlands, die Opfer zu erbringen hatten – und nicht der ärmere Osten. Heute jedoch wird Leidensbereitschaft vor allem von den Gesellschaften der europäischen Krisenstaaten von Griechenland bis Spanien verlangt.

Die Währungseinheit war der völlig falsche »erste Schritt«

Die Kosten verfehlter Wirtschaftspolitik gehen weit über statistisch Messbares wie Arbeitslosigkeit, Realeinkommen und Armut hinaus, so wichtig diese Kennziffern auch sein mögen. Gefährdet ist heute vielmehr die große stabilisierende Vision Europas selbst, die von einer festen und dauerhaften Union handelt. Diejenigen, die stets die europäische Währungseinheit als „ersten Schritt“ auf dem Weg in ein vereintes Europa anpriesen, haben tatsächlich völlig kontraproduktiv agiert und das europäische Projekt in eine Lage manövriert, die Europas Einheit gerade nicht dienlich ist. Zwar besteht natürlich nicht die Gefahr einer Rückkehr ins Jahr 1939. Aber – um in W.H. Audens Bild der „dogs of Europe“ zu bleiben: Natürlich fügt es dem Ziel europäischer Freundschaft und Einheit enormen Schaden zu, wenn sich Europäer verschiedener Nationen wieder voller gegenseitiger Abscheu und Verachtung anbellen.

Nun zur Frage der Demokratie. Die Gründerväter Europas, deren Ideen der europäischen Bewegung Richtung gaben, wollten ein „vereinigtes demokratisches Europa“. Das Europa, das aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, hatte aus bitterer Erfahrung bestimmte Lektionen gelernt, die es fortan nicht mehr vergessen sollte. Der vielleicht wichtigste Leitgedanke betraf die Bedeutung von Demokratie: jedem Menschen nicht nur das Stimmrecht zu verleihen, sondern auch eine Stimme. Demokratie in Form regelmäßiger Wahlen ist fest in den Verfassungen der meisten europäischen Länder verankert. Doch nicht weniger tief verwurzelt in den europäischen Werten der Gegenwart ist das Bekenntnis dazu, vor großen politischen Entscheidungen eine öffentliche Debatte auszutragen. Walter Bagehot definierte Demokratie als „Regieren durch Diskutieren“. Damit folgte er der politischen Lehre, die vor allem John Stuart Mill ausgearbeitet und verfochten hatte. Die visionären Volksvertreter, die den Weg der europäischen Einheit wiesen, wichen von diesem Verständnis niemals ab.

Mit einigen ihrer Maßnahmen haben die Finanz- und Wirtschaftsmächte Europas sicherlich kein gutes Timing bewiesen, manche ihrer Handlungen haben sich sogar als grundlegend falsch erwiesen. Aber selbst wenn die Entscheidungen der Finanzexperten genau richtig und rechtzeitig getroffen worden wären, bliebe noch immer die wichtige Frage der demokratischen Legitimation offen. Den Abbau von öffentlichen Dienstleistungen, also einer wesentlichen Säule des europäischen Wohlfahrtsstaates, hätte man nicht – ohne vorherige öffentliche Debatte und Zustimmung der Menschen in den betroffenen Ländern – der Willkür von Zentralbanken, Finanzexperten und fehleranfälligen Rating-Agenturen überlassen dürfen. Natürlich sind Finanzinstitute extrem wichtig für den Erfolg oder Misserfolg von Volkswirtschaften. Aber wenn ihre Einschätzungen demokratische Legitimität besitzen und nicht technokratischer Herrschaft Vorschub leisten sollen, dann müssen sie einem Prozess der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung unterworfen werden – mit Argumenten, Gegenargumenten und Gegen-Gegenargumenten.

Wahlrecht ohne wirksame Beteiligung

Das Bekenntnis zur Demokratie war eines der zentralen Merkmale des in den vierziger Jahren neu entstehenden Europa. Ein weiteres Merkmal dieses neuen Europa bestand in der Ausbreitung der Erkenntnis, dass soziale Sicherheit notwendig ist und schwere soziale Not vermieden werden muss. Selbst wenn brutale Kürzungen am Wurzelwerk der europäischen Sozialsysteme in der Krise aus finanziellen Gründen unausweichlich gewesen sein sollten (was ich nicht glaube), so wäre es dennoch notwendig gewesen, die Menschen von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. Stattdessen wurde schlichtweg versucht, Kürzungen von oben zu befehlen und durchzusetzen. Die Missachtung der demokratischen Öffentlichkeit hätte in vielen Fällen europäischer Entscheidungsfindung nicht eklatanter sein können.

Ganz abgesehen von der Frage der demokratischen Legitimität geht es hier auch um den wichtigen Punkt der politischen Zweckmäßigkeit, also um Politik als „Kunst des Möglichen“. Zwar ist es zwischenzeitlich möglich, die Meinungen der Menschen zu ignorieren. Aber wo demokratische Institutionen bestehen, da kann man die Bürger nicht davon abhalten, bei periodisch wiederkehrenden Wahlen von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Die vom Prozess der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossenen Bürger können nicht politisch zum Schweigen gebracht werden. Die Folge: In einer Wahl nach der anderen haben amtierende Regierungen, die die Spardiktate der finanziellen Supermächte in die Tat umgesetzt hatten, schwere Rückschläge erlitten. Manche wurden sogar kurzerhand abgewählt. Diese Kombination von Wahlrecht ohne wirksame Beteiligung der Bürger an der Meinungsbildung hat es zudem sehr schwierig gemacht, zu praktischen Lösungen auf der Grundlage wohlerwogener Prioritäten und gesellschaftlich akzeptierter Kompromisse zu gelangen.

Öffentlicher Diskurs ist nicht nur eine entscheidende Bedingung demokratischer Legitimität. Er ist auch wichtig im Hinblick darauf, bessere Entscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten zu treffen und dabei unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen. Zudem ist öffentlicher Diskurs auch aus rein praktischen Erwägungen erforderlich. Die öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung kann zutage fördern, welche einzelnen Forderungen und Proteste eher hintangestellt werden sollten, weil ihnen Partikularinteressen zugrunde liegen, die mit den wohlerwogenen Prioritäten des Gemeinwesens insgesamt nicht im Einklang stehen. Dies gelingt in einem Prozess des „Gebens und Nehmens“, den uns viele politische Beobachter – von Adam Smith und dem Marquis de Condorcet im 18. Jahrhundert bis hin zu Frank Knight und James Buchanan in unserer Zeit – zu schätzen gelehrt haben.

Und wie ist es um die sachliche Tauglichkeit der europäischen Wirtschaftspolitik in der Krise bestellt? Zwei Fragen stellen sich unmittelbar: die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Euro als gemeinsamer europäischer Währung; und die Frage nach der Austeritätspolitik, die in Geldnot geratene europäische Staaten eingeschlagen – oder auferlegt bekommen – haben. Mit Blick auf die erste Frage hat sich die Aufmerksamkeit tendenziell darauf gerichtet, durch Bereitstellung von Liquidität für die Krisenstaaten das kurzfristige Überleben des Euro zu sichern. Gegenwärtig werden viele alternative Rettungsmaßnahmen in Erwägung gezogen: etwa neue Rettungspakete von Seiten der finanziell stärkeren Länder; die Einführung von Eurobonds; oder der Aufkauf hochverzinster Anleihen Griechenlands, Spaniens und anderer Krisenländer durch Deutschland (das damit günstige Zinsen fast ohne Risiko erzielen kann – jeden­falls sofern der Euro in seiner jetzigen Form überlebt).

Viele dieser „Rettungsvorschläge“ sind zweifellos überlegenswert und können sich als nützlich erweisen. Aber keiner der Vorschläge setzt sich mit dem Problem auseinander, wie das langfristige Überleben des Systems gewährleistet werden kann. Bedroht ist die Eurozone durch die Inflexibilität des Wechselkurses im gemeinsamen Währungsraum, wenn Länder mit relativ niedrigem Produktivitätswachstum (Griechenland, Spanien und Italien) in Bezug auf ihre Wettbewerbsfähigkeit hinter andere Euroländer zurückfallen. Die Griechen etwa werden bemerken, dass sie immer weniger haben, was sie zum festen Wechselkurs des Euro im Ausland verkaufen können. Was durch Wechselkursanpassungen nicht mehr zu machen ist, muss nun durch brutale Lohnkürzungen vollzogen werden.

Wie wirksam ist Austeritätspolitik?

Wo keine Abwertung der eigenen Währung mehr möglich ist, können ins Hintertreffen geratene Staaten ihre Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich mittels scharfer Gehaltskürzungen und sonstiger Einsparungen wieder verbessern. Auf diese Weise sinkt der Lebensstandard drastischer, als dies im Fall einer (nicht möglichen) Abwertung notwendig werden würde. Die Politik des Kürzens verursacht viel zusätzliches Leid und führt verständlicherweise zu Widerstand. Politischen Widerstand ruft aber auch die andere mögliche „Lösung“ hervor, nämlich eine gesteigerte Auswanderung der Bevölkerung – etwa von Griechenland nach Deutschland. In einem politisch vereinten Bundesstaat wie den Vereinigten Staaten überlebt die einheitliche Währung mit Hilfe von Instrumenten, über die das politisch unvereinigte Europa nicht verfügt (wie etwa erhebliche Bevölkerungsbewegungen und massive Finanzausgleichszahlungen). Früher oder später muss deshalb die schwierige Frage der langfristigen Überlebensfähigkeit des Euro angesprochen werden, selbst wenn sich die kurzfristigen Maßnahmen zur Rettung des Euro als erfolgreich erweisen.

Wie wirksam ist Austeritätspolitik? Was können ein harter Sparkurs und die drastische Senkung öffentlicher Ausgaben dazu beitragen, gefährdeten Staaten mit übermäßigen Defiziten und riesigen Schuldenbergen zu helfen? Es fällt schwer, ökonomische Austerität als eine gründlich durchdachte Lösung der gegenwärtigen Krise Europas zu betrachten. Und womöglich eignet sich Austerität nicht einmal dazu, die Haushaltsdefizite zu senken. Die in der Eurozone betriebene Antikrisenpolitik erweist sich, aller gegenteiliger Rhetorik zum Trotz, als drastisch wachstumsschädigend. Das Wirtschaftswachstum der Eurozone hat sich dramatisch verschlechtert. Das Bruttoinlandsprodukt ist eher geschrumpft als gewachsen – und zwar in einem solchen Ausmaß, dass Berichte über ein Nullwachstum in der Eurozone im ersten Quartal 2012 als geradezu gute Nachricht begrüßt wurden. Nimmt man Deutschland aus der Bilanz heraus, weist das Ergebnis eine fortwährend sinkende Wirtschaftskraft in der übrigen Eurozone aus. Spanien, Portugal und Italien befinden sich in anhaltendem Niedergang. Griechenland hat zwar seinen freien Fall von minus sechs Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2011 abgebremst. Jedoch hat die griechische Wirtschaft gegenüber dem Jahr 2008 mittlerweile fast ein Viertel eingebüßt. Und während die Volkswirtschaften und die betroffenen Menschen leiden mussten, haben sich die Defizite als hartnäckig erwiesen. Die öffentlichen Einnahmen schwächeln als Folge geringen – oder sogar negativen – Wirtschaftswachstums, was wiederum die Möglichkeiten des Staates beschränkt, sein Defizit abzubauen.

In der Weltgeschichte finden sich zahllose Belege dafür, dass Defizite am wirksamsten durch eine Politik der Rezessionsbekämpfung gesenkt werden können, die die Senkung des Defizits mit schnellem Wirtschaftswachstum kombiniert. Die riesigen Defizite nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden weitgehend dadurch, dass in den Nachkriegsjahren die Wirtschaft kräftig wuchs. Ähnliches geschah während der Präsidentschaft von Bill Clinton, der bei seinem Amtsantritt ein riesiges Haushaltsdefizit vorfand und sich acht Jahre später mit einem so gut wie ausgeglichenen Haushalt verabschiedete. Auch der viel gepriesene Abbau des schwedischen Haushaltsdefizits zwischen 1994 und 1998 ereignete sich in einer Phase ziemlich rasanten Wirtschaftswachstums. Heute ist die Situation für viele Länder mit Defiziten und stagnierenden oder negativen Wachstumsraten völlig anders. Die ihnen mitten in der Rezession auferlegte Disziplin der Austeritätspolitik treibt ihre Volkswirtschaften nur noch weiter in die Krise.

Was an der »keynesianischen Kritik« richtig ist

Die These, dass Austeritätspolitik in einer wirtschaftlichen Rezession kontraproduktiv wirkt, kann zu Recht als „keynesianische Kritik“ bezeichnet werden. John Maynard Keynes legte überzeugend dar, dass die Kürzung öffentlicher Ausgaben die Konjunktur dann weiter abbremst, wenn in einer Volkswirtschaft ungenutzte Produktionskapazitäten bestehen und – aufgrund mangelnder Nachfrage – auch hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Die Arbeitslosigkeit sinkt dann nicht aufgrund von Einsparungen, sondern sie steigt eher noch. Keynes verdient große Anerkennung dafür, dass es ihm gelang, diesen im Grunde einfachen Zusammenhang sogar politischen Entscheidungsträgern klarzumachen – und dies sogar unabhängig von ihrer politischen Verortung. Zudem lieferte Keynes den Entwurf einer Theorie dafür, wie dies alles innerhalb eines Bezugsrahmens ökonomischer Interdependenzen zwischen verschiedenen Aktivitäten begriffen werden kann. Dabei hob er besonders die Tatsache hervor, dass die Ausgaben eines Menschen immer die Einnahmen eines anderen Menschen sind. Diese keynesianische Argumentation unterstütze ich – genauso wie die Bemühungen von Paul Krugman, diese Perspektive prägnant darzulegen und vor diesem Hintergrund die Strategie massiver ökonomischer Austerität in Europa in Frage zu stellen.

Ich würde aber auch behaupten, dass sich mit keynesianischen Argumenten nur teilweise begründen lässt, warum Austeritätspolitik untauglich ist. Weit über Keynes hinausgehen müssen wir in der Frage, zu welchen Zwecken eigentlich öffentliche Ausgaben getätigt werden – abgesehen von dem Ziel, einfach nur wirksame Nachfrage zu schaffen. Tatsächlich wird in Europa der Widerstand gegen brutale Kürzungen im öffentlichen Dienst und gegen willkürliche Sparpolitik nicht alleine oder auch nur vorrangig keynesianisch begründet. Vielmehr stützt sich dieser Widerstand auch auf das Argument, dass öffentliche Dienstleistungen für die Gesellschaft sowohl in ökonomischer als auch politischer Perspektive von großer Bedeutung sind.

Es geht hier um einen zentralen Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit, nämlich darum, dass Ungerechtigkeit verringert und nicht vergrößert werden soll. Öffentliche Dienstleistungen stehen vor allem deshalb in hohem Ansehen, weil sie den Menschen tatsächlich dabei helfen, ihr Leben zu leben – und das gilt ganz besonders für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Dies ist eine Errungenschaft, für die Europa lange gekämpft hat. Rücksichtslose Kürzungen an den öffentlichen Dienstleistungen untergraben das Bekenntnis zum Sozialen schlechthin, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa durchsetzte und zum Aufbau von Wohlfahrtsstaaten und Gesundheitssystemen für alle führte. Damit setzte Europa ein großartiges Zeichen verantwortungsvoller Staatlichkeit, an dem sich die übrige Welt – von Ostasien bis Lateinamerika – fortan ein Beispiel nahm.

Zu Ungleichheit, Armut und Not fiel Keynes nicht allzu viel ein

Um zu begreifen, warum sich die Bemühungen zur Behebung von Europas Krise nicht ausschließlich an Keynes orientieren können, müssen wir uns fragen: Wie sah Keynes’ Vision einer guten Gesellschaft aus? Bekanntlich sagte Keynes, es könne eine gute Sache sein, Arbeiter dafür zu bezahlen, dass sie zuerst Löcher graben, um diese anschließend wieder aufzufüllen, denn auch auf diese Weise werde im Kampf gegen Rezession oder Depression die effektive Nachfrage erhöht. Das ist so weit zutreffend. Aber Keynes hatte äußerst wenig zu der Frage beizutragen, welchen sozialen Ansprüchen ein Staat genügen muss, welchem Zweck also – über die bloße Stimulierung der Nachfrage hinaus – öffentliche Ausgaben dienen sollen.

Keynes störte sich wenig an Ungleichheit, und er zeigte sich auch außerordentlich zugeknöpft angesichts von Armut und Not. Externalitäten oder Umweltfragen interessierten ihn kaum, und ein Thema ignorierte er sogar ganz. Das war die Frage der Wohlfahrtsökonomie, auf die sich sein Konkurrent und Gegner Arthur Cecil Pigou in seinem bekanntesten und profundesten Werk The Economics of Welfare konzentrierte. Ausgerechnet der angeblich reaktionäre Pigou regte die Messung sozialer Ungleichheit an. Er analysierte das Wesen und die Ursachen von Armut und beschäftigte sich ausführlich mit Externalitäten und Umweltzerstörung. Nicht zuletzt betonte Pigou die Notwendigkeit einer „öffentlichen Ökonomie“ mit dem Ziel, die verteilungspolitischen Defekte der Marktwirtschaft auszugleichen.

Die gegenwärtig in Europa betriebene Finanzpolitik muss also aus ökonomischen, aus politischen und aus sozialen Gründen in Frage gestellt werden, die zwar einige wichtige keynesianische Ideen einbeziehen, aber zugleich weit über Keynes hinausgehen. Diese Kritik bestreitet überhaupt nicht, dass es notwendig ist, die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte – über angemessene Zeiträume hinweg – abzubauen. Aber bei guter Wirtschaftspolitik geht es nicht nur um richtige Ziele, sondern auch um die Frage, welche Mittel zur Erreichung dieser Ziele wann und auf welche Weise wirksam sein können.

Diese ökonomische Argumentation müssen wir im Zusammenhang sehen mit den in Europa verbreiteten Sorgen um die langfristigen Perspektiven sozialer Gerechtigkeit und den Verlust des Solidargedankens. So betrachtet wird offenkundig, was für ein Desaster die europäische Finanzpolitik der jüngsten Zeit angerichtet hat. Die guten Gründe für den Widerstand gegen brutale Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen lassen sich nicht einfach beiseite wischen. Das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit muss durchaus nicht immer an allererster Stelle stehen, doch bedeutend genug, um von Bankern und Finanzpolitikern nicht einfach ignoriert zu werden, ist dieses Anliegen allemal. Natürlich muss stets präzise geprüft und abgewogen werden, was sich ein Land leisten kann und was nicht. Dabei müssen alle wesentlichen Faktoren einbezogen werden, einschließlich der sich wandelnden Altersstruktur der Bevölkerung. Aber das ist nicht dasselbe wie die vorschnelle und oberflächliche Bewertung der Leistungsfähigkeit eines Landes, solange dort noch eine ineffiziente Wirtschafts- und Finanzverwaltung herrscht und über die Wirkungen von Wechselkursen, Märkten und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit nur wolkige Vorstellungen bestehen.

Kann Europa seine frühere globale Bedeutung wieder erlangen?

Das Leitprinzip muss vielmehr sein, was Adam Smith in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen klar benannte: Es geht darum, die Bedingungen für eine funktionierende Wirtschaft zu schaffen, damit diejenigen öffentlichen Dienstleistungen erbracht werden können, auf deren Unentbehrlichkeit sich die Gesellschaft verständigt hat. Solide Wirtschaftspolitik, schreibt Smith, habe zwei voneinander unterschiedene Ziele zu verfolgen: „Zunächst geht es darum, den Menschen ein ausreichendes Einkommen oder eine Lebensgrundlage zur Verfügung zu stellen oder besser noch, sie zu befähigen, sich solch ein Einkommen oder eine Lebensgrundlage selbst zu verschaffen; zweitens muss der Staat oder das Gemeinwesen mit einem Einkommen ausgestattet werden, das für die öffentlichen Belange ausreichend ist.“ Das zuletzt genannte Ziel ist ein ebenso wichtiger Bestandteil guter Wirtschaftspolitik wie das zuerst genannte.

Schließlich – und besonders wichtig: Dem Anliegen tatsächlich erforderlicher Wirtschaftsreformen ist es nicht dienlich, wenn diese Notwendigkeit verwechselt wird mit einer Politik der reinen Austerität. Genau das aber ist geschehen. Ernsthafte Erwägungen darüber, welche Arten von Reform erforderlich seien, sind eher dadurch behindert als vorangebracht worden, dass ungenügend unterschieden wurde zwischen der Erneuerung schlechter Verwaltungsstrukturen einerseits und nackter Austeritätspolitik in Form brutaler Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen und grundlegender sozialer Sicherheit andererseits. Natürlich müssen Missstände wie Steuerhinterziehung, Klientelismus, mangelnde Bankenaufsicht oder ein unverantwortlich niedriges Renteneintrittsalter beseitigt werden. Aber das Erfordernis, solche Probleme zu lösen, ist mehr und mehr in eins gesetzt worden mit dem angeblichen Zwang zu unbedingter Haushaltsdisziplin – obgleich jede Analyse unter dem Blickwinkel sozialer Gerechtigkeit völlig andere Reformen für notwendig erachten würde als scharfe Einschnitte in wichtige öffentliche Dienstleistungen. Diese Unterscheidung ist angesichts des vorherrschenden grobkörnigen Denkens in Finanzfragen offenbar untergegangen. Ihre bleibende Bedeutung wird allerdings künftig erneut deutlich zutage treten, sofern es wieder gelingt, einen angemessenen öffentlichen Diskurs im Sinne von „Regieren durch Diskutieren“ in die Wege zu leiten.

Europa ist in der Vergangenheit von außerordentlicher globaler Bedeutung gewesen – die Welt hat unendlich viel von diesem Kontinent gelernt. Europa kann auch weiterhin weltweit von Bedeutung sein, wenn es den Europäern gelingt, ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen – in wirtschaftlicher, in politischer und in sozialer Hinsicht. Der erste Schritt besteht in der klaren Einsicht in die strategischen Herausforderungen, mit denen es Europa heute zu tun hat. Bleibt diese Einsicht aus, werden wir die Folgen weit über die Grenzen Europas hinaus zu spüren bekommen.

Aus dem Englischen von Felix Krämer und Tobias Dürr


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