Permanent prekär?

Befristungen, Leiharbeit, Minijobs, Werkverträge und Praktika - so sieht einer neuen Studie zufolge die Lage vieler junger Leute am Arbeitsmarkt aus. Die schöne Geschichte von Deutschland als "Klassenprimus" in Europa stimmt nicht ganz

Vielen jungen Menschen in weiten Teilen Europas muss Deutschland als Schlaraffenland erscheinen – als letzte Oase inmitten einer nahezu grenzenlosen Arbeitsmarktwüste. Denn in den EU-Ländern liegt die Erwerbslosenquote der unter 24-Jährigen im Durchschnitt bei knapp 23 Prozent. In manchen südeuropäischen Krisenstaaten ist sogar jeder Zweite zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. In Deutschland zeichnen die klassischen Arbeitsmarktkennzahlen hingegen ein durchweg positives Bild vom Arbeitsmarkt: Die Wirtschaft wächst (noch), die Beschäftigung steigt und die Arbeitslosigkeit sinkt. Selbst die Jugendarbeitslosenquote liegt mit etwa acht Prozent weit unter dem europäischen Durchschnitt.

Doch das Bild trügt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Oase als Fata Morgana. Die Kennzahlen, die Land auf und Land ab Politiker und Ökonomen in Jubelstürme verfallen lassen, sind mit Vorsicht zu genießen. Vor lauter Freude über sinkende (Jugend-) Arbeitslosenzahlen wird die Frage nach dem Wert und der Qualität der Arbeit fahrlässig oder gar bewusst vernachlässigt. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass trotz guter ökonomischer Rahmenbedingungen atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse besonders unter Angehörigen der jungen Generation weiter zugenommen haben. Befristungen, Leiharbeit, Minijobs, Praktika und Werkverträge sind keine Randphänomene. Sie sind eine alltägliche Erfahrung junger Erwerbstätiger.

Dies ist ein zentrales Ergebnis der repräsentativen Umfrage, die das Forschungsinstitut TNS Infratest Politikforschung im Auftrag der IG Metall im Mai 2012 durchgeführt hat. Bereits zum dritten Mal wurden die „Persönliche Lage und Zukunftserwartungen der jungen Generation“ untersucht. Mit dieser breit angelegten quantitativen Studie, bei der mehr als tausend junge Menschen zwischen 14 und 34 Jahren sowie knapp 800 über 35-Jährige als Referenzgruppe befragt wurden, werden aktuelle Einstellungen und Erwartungen der jungen Generation sowie deren Lage auf dem Arbeitsmarkt ermittelt. Da die Alterskohorte bis 35 Jahre untersucht wird, werden wichtige Übergänge und Einschnitte im Lebenslauf sowohl hinsichtlich der beruflichen als auch der persönlichen Entwicklung einbezogen. Damit weist die Studie deutlich über die klassische Jugendforschung hinaus.

Zweifellos ist es einer der eklatantesten Widersprüche unserer Zeit, dass sich die am besten ausgebildete Generation der Nachkriegsgeschichte trotz der positiven ökonomischen Lage und der sich abzeichnenden Knappheit an qualifizierten Fachkräften zunehmend in atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt sieht. Die Studie zeichnet ein prägnantes Bild dieser widersprüchlichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt: 32 Prozent der Beschäftigten unter 35 Jahren sind atypisch beschäftigt. Sie arbeiten vor allem befristet oder in Leiharbeit, ein kleiner Teil absolviert Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Trotz guter konjunktureller Entwicklung ist der Anteil der prekär Beschäftigten unter 35 Jahren seit 2009 noch einmal um 4 Prozentpunkte gestiegen. Bei der Generation über 35 ist der Anteil hingegen von 16 auf 11 Prozent gesunken. Der Aufschwung und die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt sind an der jungen Generation also vorbeigegangen. Das manifestiert sich auch in der Entlohnung von jungen Erwerbstätigen. 55 Prozent der befragten Berufstätigen unter 35 Jahren verdienen derzeit weniger als 2.000 Euro brutto. Ein erheblicher Anteil der Befragten arbeitet damit für einen Niedriglohn beziehungsweise für einen Lohn knapp oberhalb der Niedriglohngrenze.

Unsicherheit als Dauerzustand

Hinzu kommt eine fast schon selbstverständlich gewordene und als alternativlos wahrgenommene Unsicherheit in Bezug auf die Dauer, die Sicherheit und den zukünftigen Status des Arbeitsplatzes. Lange Phasen der beruflichen Unsicherheit gehören für die junge Generation mittlerweile zur Alltagserfahrung. Viele Berufseinsteiger finden über Jahre hinweg keinen dauerhaften Arbeitsplatz: 40 Prozent der Befragten unter 35 Jahren hatten noch nie einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Diese strukturelle Unsicherheit hat Auswirkungen auf die Psyche junger Arbeitnehmer: Neun von zehn Befragten geben an, dass die unsichere Arbeitsplatzsituation über längere Zeiträume zu psychischen Belastungen führt.

Einschnitte und Brüche in der Erwerbsbiografie prägen zudem die Lebensrealität immer mehr junger Menschen. Vier von zehn jungen Erwerbstätigen haben in ihrem bisherigen Berufsleben ihren Arbeitsplatz ungewollt wechseln müssen und 38 Prozent waren bereits mehr als sechs Monate arbeitslos.

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass die arbeitsmarktpolitische Entwicklung in Deutschland von der jungen Generation ausgesprochen negativ eingeschätzt wird: 42 Prozent der Befragten geben an, dass sich ihrer Einschätzung nach die Möglichkeit, einen wirklich guten Arbeitsplatz zu finden, verschlechtert hat. 55 Prozent der Befragten konstatieren eine negative Entwicklung bei beruflichen Anforderungen und Leistungsdruck. Darin spiegeln sich die Erfahrungen der jungen Generation mit ihren beruflichen Rahmenbedingungen wider, etwa dem wachsenden Niedriglohnsektor oder der zunehmenden beruflichen Prekarisierung. Die junge Generation ist benachteiligt und weiß das. Sie fühlt sich deshalb in vielfacher Weise unterprivilegiert.

Die skizzierte Entwicklung trifft die junge Generation an einer empfindlichen Stelle ihrer Lebensbiografien. Ein vernünftiger und sicherer Arbeitsplatz ist eine entscheidende Voraussetzung für die individuelle Lebensplanung sowie für soziale, politische und kulturelle Teilhabe. Wer hingegen beruflich nicht fest im Sattel sitzt, verschiebt langfristig bindende Entscheidungen wie beispielsweise die Gründung einer Familie. Und wenn man beklagt, dass sich immer weniger junge Menschen in Vereinen oder auch Parteien engagieren, wird man nicht umhin kommen, eine wesentliche Ursache in der beruflichen Unsicherheit zu sehen, die sich zwangsläufig auf die private Lebensführung überträgt. Die persönliche Zukunftsplanung wird zunehmend am nächsten verfügbaren Job ausgerichtet. Ein selbstbestimmtes Leben sieht anders aus. Das Prekäre an dieser Lebenslage manifestiert sich somit nicht nur in schlechter Bezahlung, ungünstigen Arbeitsbedingungen und persönlicher Unsicherheit, sondern vor allem in schwindenden Möglichkeiten einer längerfristigen und eigenständigen Lebensplanung.

Einmal atypisch, immer atypisch?

Ein weiteres zentrales Problem, das mit der Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse innerhalb der jungen Generation – aber auch darüber hinaus – verbunden ist, betrifft die gesellschaftliche Stigmatisierung dieser Beschäftigungsformen und damit derjenigen, die atypisch beschäftigt sind. Die viel beschworene Brückenfunktion gering entlohnter Beschäftigung in ein reguläres Normalarbeitsverhältnis bleibt in der Regel Fiktion. Vielmehr kann die Aufnahme einer atypischen Beschäftigung zu einem Problem der Erwerbsbiografie werden. Denn wer einmal atypisch beschäftigt ist, bleibt es in der Regel auch längerfristig. Die Gefahr der Dequalifizierung qualifizierter Arbeitnehmer wird dabei billigend in Kauf genommen.

Eine derart ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik verschärft nicht nur individuelle, sondern produziert gesamtgesellschaftliche Problemlagen. Gerade auch vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden Knappheit an Fachkräften ist diese Entwicklung fatal. Die angesichts des demografischen Wandels viel beschworene Sicherung der Fachkräftebasis ist auf diese Weise jedenfalls nicht möglich. Stabile Arbeitsverhältnisse und angemessene Einkommen sind eine Grundvoraussetzung, um gute Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Mit Niedriglöhnen und prekären Arbeitsbedingungen können Fachkräfte jedoch weder geworben noch gehalten werden. Die nachwachsende junge Generation braucht berufliche Perspektiven und keine Sackgassen.

Wie die Arbeit entwertet wurde

Die Studie der IG Metall spiegelt einen rapiden und strukturellen Wandel in der modernen Arbeitsgesellschaft wider. Das so genannte Normalarbeitsverhältnis, also eine unbefristete Vollzeitstelle, mit der Ansprüche in den sozialen Sicherungssystemen erworben werden, erodiert nachhaltig. Gemeinhin als „atypisch“ bezeichnete Arbeitsverhältnisse werden zunehmend „typisch“. So sind in Deutschland mittlerweile knapp zehn Millionen Menschen atypisch beschäftigt. Das entspricht einem Viertel aller Erwerbstätigen. Mit der Expansion der atypischen Beschäftigung haben sich die arbeitsmarktpolitischen Risiken – wie beschrieben besonders für die jungen Beschäftigten – drastisch erhöht. Eine Folge: Immer mehr Beschäftigte arbeiten im Niedriglohnsektor. Laut einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation arbeiten derzeit mehr als 23 Prozent aller Beschäftigten unterhalb der Niedriglohnschwelle. Demnach erhalten knapp acht Millionen abhängig Beschäftigte einen Niedriglohn. Davon verdienen etwa vier Millionen Menschen weniger als sieben Euro brutto in der Stunde; von diesen wiederum verdienen etwa 1,4 Millionen Beschäftigte sogar weniger als fünf Euro. Deutschland hat damit nach Korea (25,4 Prozent) und den Vereinigten Staaten (24,5 Prozent) den drittgrößten Niedriglohnsektor weltweit.

In diesen Zahlen bündelt sich nicht weniger als der Verfall des Zusammenhangs von Arbeit, sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Integration. Mit der Ausweitung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse verliert Arbeit zunehmend ihre gesellschaftliche Integrationskraft. Daraus resultiert eine tiefe Spaltung zwischen denen, die (noch) über eine halbwegs sichere und angemessen entlohnte Arbeit verfügen und sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind, und jenen, die hiervon ausgeschlossen sind und das oftmals dauerhaft bleiben.

Daher hat diese Entwicklung keineswegs nur arbeitsmarktpolitische Konsequenzen, sondern auch sehr viel weiter reichende gesellschaftspolitische Folgen. Letztlich geht es darum, ob und wie in Zukunft der westdeutsche Nachkriegskonsens – Leistung gegen Aufstiegschancen und materielle Sicherheit – aufrechterhalten werden kann. Existiert das „Modell Deutschland“ noch, gibt es die soziale Marktwirtschaft noch oder sind diese Konzepte reiner Überbau des politisch-gesellschaftlichen Diskurses geworden? Denn versteht man die Lohnhöhe (auch) als symbolischen Ausdruck für das Maß sozialer Wertschätzung, dann müssen – im Sinne Axel Honneths – sinkende Einkommen und die zunehmende Prekarisierung der Beschäftigten als signifikantes Zeichen eines kollektiv erfahrbaren Anerkennungsverlustes gedeutet werden.

Die moderne Arbeitsgesellschaft leidet unter einer Erosion guter Arbeit. Die Preisoptimierung der Arbeit im Sinne der Wenigen, nicht die Ausweitung der produktiven Erwerbsarbeit für Viele steht heute immer öfter im Zentrum unserer Ökonomie. Was als Preis für die unvermeidbare Anpassung an die neuen Zwänge der globalen Wirtschaft dargestellt wurde und wird, hat im Ergebnis zu einer Ökonomisierung unserer Gesellschaft geführt. Die seit den achtziger Jahren andauernde Deregulierung der Arbeit, die Einschränkung der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit, die Verschärfung von Sanktionen und die Etablierung eines Niedriglohnsektors sind Ergebnis und Ausdruck dieses Ökonomismus und der Parole, dass alles, was Arbeit schafft, auch sozial sei. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die damit verbundene Pluralisierung der atypischen Beschäftigungslandschaft haben in den vergangenen Jahren zu einer massiven Entwertung von Arbeit geführt.

Der Fortschritt bleibt eine Schnecke

Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Entwicklungen muss das Lob für den vermeintlichen Klassenprimus Deutschland deutlich differenzierter ausfallen. Auch wenn die Lage der jungen Generation auf dem hiesigen Arbeitsmarkt nicht mit der Situation in den südeuropäischen Krisenstaaten vergleichbar ist, taugt unser Arbeitsmarktmodell gewiss nicht als Exportschlager. Anstatt es sich hinter vermeintlich positiven Arbeitsmarktzahlen gemütlich zu machen, wäre eine politische Debatte über den Wert der Arbeit ein großer Fortschritt – und damit über die Frage, unter welchen Bedingungen Menschen arbeiten und auf wessen Schultern Flexibilitätsanforderungen ausgetragen werden. Doch der Fortschritt ist bekanntlich eine Schnecke, wie Günter Grass bereits in den sechziger Jahren konstatierte. Noch ein halbes Jahrhundert später kann die junge Generation davon ein Liedchen singen.


zurück zur Ausgabe