Eine der größten Erzählungen weit und breit

Das gegenwärtige deutsche Finanzierungsmodell der gesetzlichen Krankenversicherung wird immer ungerechter. Seine entscheidenden Probleme liegen in der Lohnbezogenheit sowie darin, dass sich Bezieher hoher Einkommen aus der Solidargemeinschaft verabschieden können. Die Sozialdemokratie hat hier ein plausibles Lösungskonzept - und könnte im Wahlkampf sehr wohl mit dem Thema punkten

Das gegenwärtige Finanzierungsmodell der gesetzlichen Krankenversicherung ist ungerecht. Das Kernproblem liegt zum einen in dessen Lohnbezogenheit, zum anderen in der Möglichkeit für Bezieher hoher Einkommen, aus der Solidargemeinschaft auszutreten. Die Sozialdemokratie hat hier ein vielversprechendes Lösungskonzept – und zudem die Möglichkeit, im Wahlkampf zu punkten.

Der ehemalige saarländische Landtagsabgeordnete Armin Lang sagte auf dem SPD-Parteitag im vergangenen Dezember, er sei „bedrückt, dass heute mehr Menschen Angst vor dem Altwerden haben als vor dem Sterben“. Lang macht dafür eine „Politik der Verunsicherung“ verantwortlich und fordert ein „verlässliches Versorgungsversprechen“. Recht hat der Mann! Die Zuversicht, gesund zu bleiben (oder zumindest im Krankheitsfall versorgt zu werden) bildet neben der Alterssicherung oder Bildung einen Mindeststandard des Sozialstaates. Vertrauen auf die eigene soziale Sicherheit schafft erst die Handlungsräume, die der Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Doch dieses Vertrauen schwindet.

Besonders in der Gesundheitspolitik verlieren sich Reformdiskussionen – tatkräftig beschleunigt durch aggressive Interessenvertretung – oftmals in Detailstreitigkeiten. Da gerne so getan wird, als gehe es dabei um Grundsatzfragen, folgen selten konstruktive Ergebnisse. Ja, irgendwie hängt alles mit allem zusammen und in einem hochkomplexen System können Veränderungen an einer Stelle immer auch Verschiebungen anderswo hervorrufen. Das aber zeichnet Politik in Deutschland immer aus: reformieren und nachjustieren. Die Politik sollte daraus den Schluss ziehen, gelassen zu bleiben und sich konsequent auf prioritär zu bearbeitende Schritte konzentrieren.

Auch die Sozialdemokratie gerät immer wieder in eine „Listen-Falle“ und fügte beispielsweise nach einer recht detaillierten Darstellung der Bürgerversicherung im Beschluss des SPD-Präsidiums vom April 2011 noch einen Absatz hinzu, den man auch mit „Im Übrigen“ betiteln könnte. Hier werden noch alle möglichen weiteren Forderungen aufgelistet. Ob diese im Einzelnen sinnvoll sind oder nicht, schaffen sie doch in jedem Fall Angriffspunkte und rücken eine überzeugende und vermittelbare Reform in die Ecke des reinen Fachdiskurses.

Nötig sind klare Botschaften – und jenseits der irreführenden Alltagsdiskussionen zwischen den verschiedenen Interessengruppen gibt es diese auch. Ja, das System krankt an fehl-orientiertem Wettbewerb. Die Ressourcenallokation zwischen den künstlich getrennten Versorgungswelten „ambulant“ und „stationär“ sowie zwischen verschiedenen Akteuren in diesen Sektoren (Stichworte: Kollektivverträge, Honorarordnung et cetera) ist suboptimal. Noch schlimmer stellt sich dies zwischen der Akutversorgung, der Rehabilitation und der Pflege dar – mit dem Effekt, dass beispielsweise Pflegebedürftigkeit nicht systematisch verhindert wird. Diese Liste ließe sich beliebig erweitern. Sie birgt aber die Gefahr, dass Reformwillige an der „Listen-Falle“ scheitern, weil sie an zu vielen Fronten gleichzeitig kämpfen oder vor der Komplexität kapitulieren.

Keine Angst vor aggressiven Minderheiten!

Dennoch lassen sich klare Botschaften formulieren. Eine lautet: „Wir haben ein zunehmend ungerechtes Finanzierungsmodell.“ Eine andere: „Wir haben eine Alternative.“ Viel spricht dafür, als (nächsten) Reformschritt die Finanzierung der Gesundheitsversorgung anzugehen. Im Gegensatz zu leicht mit Ängsten zu besetzenden Themen der Wirtschaftlichkeit (Stichwort: Einschränkung des abgedeckten Versorgungsangebotes) besteht in der Frage der Finanzierung bei den Deutschen eine hohe Akzeptanz und Bereitschaft, für die Gesundheit Mittel zur Verfügung zu stellen und auch selbst in die eigene Gesundheit zu investieren. Für den Alltag der Gesundheitspolitik stellt sich, etwas platt formuliert, die Frage, ob Vertrauen in die Mehrheit der Gesellschaft oder Angst vor aggressiven Minderheitenmeinungen das Handeln leiten soll.

Trotz grundsätzlich hoher Akzeptanz steht das gegenwärtige Finanzierungsmodell seit Jahren in der Kritik. Dass sich Beamte, Menschen mit hohem Einkommen oder Einkommen aus nichtabhängiger Beschäftigung der Solidargemeinschaft entziehen können, ist schwer vermittelbar und letztlich unhaltbar. Da Einkommen (und damit oftmals Herkunft) stark mit dem Gesundheitszustand korrelieren, verabschieden sich aus dem Solidarsystem nämlich nicht nur Bezieher hoher Einkommen, sondern dem System werden auch noch so genannte „gute Risiken“ entzogen. Überspitzt besteht die Solidarität damit nur noch unter Bürgern mit niedrigem Einkommen und hohem Versorgungsbedarf, während die „guten Risiken“ mit hohem Einkommen dem System den Rücken kehren. Eine auf dieses Gerechtigkeitsdefizit fokussierende Reform ist lange überfällig, erfährt breite Akzeptanz und kann somit auch gegen eine tendenziell reformüberdrüssige allgemeine Stimmung bestehen.

Entlastung für die breite Mehrheit

Das Gerechtigkeitsdefizit des gegenwärtigen Finanzierungsmodells ergibt sich aus dessen Lohnbezogenheit, „denn die beitragspflichtigen Arbeitseinkommen bleiben seit langem hinter der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zurück“, wie es Wolfgang Schroeder und Robert Paquet in der Berliner Republik 2/2009 formulierten. Das im Kern aller Konzepte zur Bürgerversicherung stehende Prinzip löst dieses Problem, indem es alle Menschen mit möglichst all ihren Einkommensarten im Solidarsystem zusammenführt. Dieses Prinzip sollte (kommunikativ) immer wieder ins Zentrum gerückt werden. Zwar können und müssen die Akteure, die hierfür einstehen, für die unterschiedlichen Konkretisierungen dieses Prinzips (Beitragsbemessungsgrenze, einzubeziehende Einkommensarten, Arbeitgeberanteil) werben. Sie sollten dabei aber immer wieder die klare gemeinsame Grundlage hervorheben.

Eine der wichtigsten Folgen ist diese: Zumindest Menschen mit niedrigen bis mittleren Einkommen sind die Gewinner dieses Konzeptes. Da sie im Verhältnis zu ihren Einkommen hohe Konsumausgaben haben, belebt die Maßnahme zudem die Konjunktur. Die Höhe der Entlastungen hängt dabei davon ab, was aufgrund der Einbeziehung weiterer Einkommensarten zusätzlich eingenommen wird. An dieser Stelle werden gerne Schreckensszenarien kommuniziert, die unter anderem die Beitragsbemessungsgrenze betreffen. Auch hier sollte gelassen diskutiert werden. Für niemanden in Deutschland werden übermäßige Belastungen entstehen. Zwar mag das Gerechtigkeitsdefizit noch nicht im gewünschten Umfang reduziert werden können, doch zumindest ein guter Schritt in die richtige Richtung wäre möglich. Zudem könnte in den kommenden Jahren nachjustiert werden. Der derzeitige Entwurf des SPD-Präsidiums legt hier eine realistische Grundlage für eine Konsensfindung.

Ein weiterer Angriffspunkt gegen das Konzept ergibt sich aus der irreführenden Begrifflichkeit, denn „Bürgerversicherung“ legt nahe, dass es sich um eine Versicherung handelt. Rein strategisch macht die Reduzierung auf die irreführende Semantik daher für die opponierenden Akteure Sinn: Die Bürgerversicherung wird zur „Einheitsversicherung“. Mit diesem Manko wird man leben müssen, auch wenn bereits Abwandlungen zum „Bürgerbeitrag“ oder zum „Tarif Bürgerversicherung“ versucht werden. Um es hier nochmals klarzustellen: Es geht nicht um eine Einheitskasse. Im Gegenteil: Die selbständige Kassengemeinschaft wird durch die Bürgerversicherung neu stabilisiert, indem gerechte Beiträge erhoben werden.

Die Zeit für eine grundlegende Reform der Finanzierungsgrundlagen des Gesundheitswesens scheint also gekommen. Denn das Gerechtigkeitsdefizit wächst, und die privaten Versicherer stehen zunehmend in der Kritik. Steigende Beiträge, aggressive Strategien zur Gewinnung neuer, junger Mitglieder sowie zunehmend auch die Einschränkung der (Plus-)Versorgung führen zu einer weiter sinkenden Zustimmung. Um einer Armuts- und Versorgungsfalle besonders im Alter zu entgehen, benötigen Versicherte der Privaten Krankenkassen (PKV) zunehmend Schutz durch die Solidargemeinschaft.

Dass AOK-Chef Jürgen Graalmann die Politik auffordert, das gescheiterte Geschäftsmodell der PKV „in ihrer heutigen Form nicht künstlich am Leben zu erhalten“ und einen einheitlichen Versicherungsmarkt als logische Konsequenz sieht, muss nicht weiter überraschen. Aufhorchen lässt aber, dass sich auch der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn mit der Aussage zu Wort meldet, er halte die Trennung von PKV und Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) nicht mehr für zeitgemäß.

Bloß kein langweiliger Fachdiskurs!

Wer die anstehenden ideenpolitischen Auseinandersetzungen gewinnen wolle, schreibt Michael Miebach in der Berliner Republik 5/2011, der müsse gut vorbereitet sein. Miebach kritisiert, dass die Sozialdemokratie gerade in ihrem traditionell stärksten Kompetenzfeld derzeit programmatisch orientierungslos sei. Eine Ausnahme nennt er jedoch als „Evergreen“: die Bürgerversicherung. Und Wolfgang Schroeder fordert, die SPD müsse wieder lernen, ihre „große Erzählung“ zu kommunizieren. Er schreibt, dass die „Bürgerversicherung“ zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstelle, um die „hearts and minds“ der Wähler zu gewinnen (Berliner Republik 3/2011). Dabei wird – vielleicht aufgrund der irreführenden Begrifflichkeit – das große Potenzial dieser Reform übersehen. Denn im Kern geht es um eine der größten „Erzählungen“: Gerechtigkeit. Die Erzählung darf nur nicht durch zu viele ablenkende Nebengeschichten zum langweiligen Fachdiskurs mutieren.

Die Gefahr besteht, angesichts des (fehlenden) Regierungshandelns in der Sozialpolitik ins reine „bashing“ abzugleiten. Aber Tatsache bleibt, dass die Regierungsparteien kein Konzept zur Reduzierung der Gerechtigkeitslücke bei der Gesundheitsfinanzierung vorzuweisen haben und dass sich diese Lücke derzeit aufgrund des Einflusses der FDP eher noch vergrößert. Schon 2003 befürwortete eine deutliche Mehrheit von Anhängern der FDP wie auch der Union die Bürgerversicherung (laut Infratest dimap im Dezember 2003 rund 70 beziehungsweise 65 Prozent). Die ehemals propagierte Idee der Kopfpauschale existiert heute praktisch nicht mehr. Auch deshalb kann sich die Sozialdemokratie mit einem nachvollziehbaren Modell für mehr Gerechtigkeit profilieren – als Teil ihrer „großen Geschichte“.

Die Partei, der es gelingt, den Menschen glaubwürdig zu vermitteln, dass ihre Gesundheit und das Bemühen um eine verlässliche Versorgung bei ihr in besten Händen ist, die kann mit Gesundheit Wahlen gewinnen. Darum ist die Bürgerversicherung nicht nur gute Politik, sondern auch ein gutes Wahlkampfthema.

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