Anspruch Grün: Führende Kraft der linken Mitte werden jetzt wir

Viele Menschen sind die alten Grabenkämpfe zwischen "bürgerlichem Lager" und "linkem Lager" leid. Progressive Antworten auf entscheidende Zukunftsfragen vermuten sie jenseits dieser überkommenen Konstellation. Für die Grünen erwächst daraus die Chance, im 21. Jahrhundert die gewohnte Rolle der kleinen Partei hinter sich zu lassen

Bündnis 90/Die Grünen haben bei der letzten Bundestagswahl das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Das zeigt, dass nicht nur die grüne Stammwählerschaft motiviert war. Auch viele andere Menschen fanden den Vorschlag eines grünen „Neuen Gesellschaftsvertrags“, also die Verbindung von Ökologie, Ökonomie und Gerechtigkeit, ansprechend und überzeugend. Angesichts der Tatsache, dass die SPD seit 1998 mehr als 10 Millionen Wählerinnen und Wähler verloren hat, ist der Zuwachs der Grünen (im Vergleich zu 1998 zusätzliche 1,3 Millionen Stimmen) allerdings nicht stark genug gewesen, um eine schwarz-gelbe Mehrheit zu verhindern. Es muss das Ziel der Grünen sein, mehr dieser 10 Millionen Menschen eine neue politische Heimat zu geben. Dazu müssen die Grünen ihrem Anspruch gerecht werden, die inhaltlich führende Kraft der linken Mitte zu sein.

Viele Menschen sind heute auf der Suche nach neuen politischen Antworten, die sie wieder mit ihrer Lebenswirklichkeit in Verbindung bringen können. Sie sind die Grabenkämpfe zwischen dem selbsternannten bürgerlichen Lager und der selbstzufriedenen Alt-Linken leid. Sie wissen, dass weder die kritiklose Huldigung der freien Märkte noch die Rückkehr zur nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik der siebziger Jahre den Herausforderungen der Globalisierung gerecht werden können. Sie wissen, dass Ökonomie, Ökologie und Gerechtigkeit zusammen gedacht werden müssen, wenn wir dauerhaft in einer intakten Umwelt und in einer solidarischen Gesellschaft leben und wirtschaften wollen. Sie sehen keinen Widerspruch mehr zwischen Bürgertum auf der einen und gesellschaftlicher Freiheit und Modernisierung im Gefolge der Achtundsechziger-Bewegung auf der anderen Seite. Der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen für kommende Generationen ist für sie kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Sie verschließen nicht die Augen vor sich verschärfenden sozialen Konflikten, nicht vor der Verantwortung unseres Konsumverhaltens für die globale ökologische Krise und nicht vor zunehmenden Freiheitsbeschränkungen. Stattdessen verlangen sie progressive Antworten auf die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft und internationale Solidarität in der „Einen Welt“.

Mit dem grünen Gesellschaftsvertrag und dem Green New Deal können die Grünen erste Antworten auf diese Zukunftsfragen geben. Klar ist, dass wir den ökologischen Umbau unserer Wirtschaft vorantreiben und die Frage nach Wohlstandsmodellen jenseits eines blinden Wachstums beantworten müssen. Dazu gehört auch die Ansage, dass unsere jetzige Art zu wirtschaften und zu leben längst an die Grenzen des globalen Ökosystems gestoßen ist. Wir brauchen eine emanzipative Sozialpolitik und eine Bildungsrevolution, die die sozialen Blockaden unserer Gesellschaft aufbricht. Antworten müssen her, wie die notwendige Haushaltskonsolidierung gelingen kann, ohne dabei in Wachstumsfetischismus oder Sozialabbau zu verfallen. Es braucht eine Stimme der progressiven Gesellschaftspolitik, die gleiche Verwirklichungschancen für alle einfordert und Bürgerrechte online wie offline verteidigt. Und schließlich braucht es eine Kraft, die für die Stärkung der demokratischen Kultur eintritt, die die Probleme unserer Demokratie vernehmbar anspricht, ohne dabei auf antidemokratischen Populismus zu setzen.   

Offen für Bündnisse mit allen Parteien

Zu dem Anspruch der Grünen, führende Kraft der Linken Mitte zu sein, gehört auch, sich aus altem Koalitions- und Lagerdenken zu befreien. Alle, die bereit sind, mit uns eine ökologisch-soziale Politik der linken Mitte zu machen, sind für uns koalitionsfähig. Auch wenn es mehr Gemeinsamkeiten mit der SPD und damit keine Äquidistanz zu den beiden (Noch-)Volksparteien gibt, haben wir sowohl mit den Modernisierern in der SPD als auch mit den Modernisierern in der CDU Schnittmengen. Offenheit für Bündnisse mit allen Parteien bedeutet jedoch nicht Beliebigkeit. Koalitionen müssen auf der Grundlage Grüner Konzepte und Werte geschlossen werden. Und: Was in einem Bundesland aufgrund der Inhalte und der handelnden Personen vor Ort richtig ist, kann in einem anderen Bundesland oder im Bund falsch sein. Am Ende muss der Inhalt von Politik über Koalitionsaussagen und Koalitionen über Regierung oder Opposition entscheiden.

Zum selbstbewussten Anspruch, führende Kraft der linken Mitte zu sein, gehört auch, sich aus dem Denken einer kleinen Partei zu befreien. In Grünen Hochburgen haben wir das Potenzial, zweitstärkste oder gar stärkste Kraft zu werden. Bei den vergangenen Landtagswahlen in Hessen und Schleswig-Holstein erzielten wir sehr gute Ergebnisse, auch wegen anerkannter Landespolitikerinnen und -politiker. Bei der Bundestagswahl kamen wir neben Berlin in weiteren städtischen Wahlkreisen, besonders in Stuttgart und Hamburg, sehr nahe an ein Direktmandat heran. In immer mehr Kommunen gewinnen Grüne Oberbürgermeister- oder Bürgermeisterwahlen. Deshalb sollten die Grünen in Berlin, aber auch in anderen Bundesländern darüber nachdenken, bei den nächsten Landtagswahlen mit eigenen Kandidaturen für das Amt des Regierungschefs oder der Regierungschefin anzutreten. Aber auch hier gilt: Was in einem Bundesland Ausdruck von begründetem Selbstbewusstsein sein könnte, wäre in anderen Bundesländern unrealistischer Größenwahn.  

Reformwerkstatt und Konzeptpartei der Republik

Auf die Bundestagsfraktion der Grünen kommt eine große Aufgabe zu: wieder zur Reformwerkstatt der Republik zu werden. Die Grünen sind gerade in Zeiten von Krise und Verunsicherung als Konzeptpartei gefragt. Nur wenn wir unseren eigenen Standort unabhängig von Lagerdenken und möglichen Koalitionspartnern bestimmen, werden wir glaubwürdig Bündnisse mit anderen Parteien eingehen können. Und es ist völlig klar: Wenn die SPD nicht mehr mit Selbstfindung beschäftigt ist, wird es einen Wettbewerb zwischen SPD und Grünen um den inhaltlichen Führungsanspruch der linken Mitte geben. Das kann ein produktiver Wettbewerb werden. Die SPD wird sich stärker auf bisherigen Stammfeldern der Grünen tummeln und die Grünen werden weiter auf Felder vordringen, die bislang als Domänen der SPD galten. Möge der Bessere gewinnen und zur inhaltlich führenden Kraft der linken Mitte werden. «

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