Ankunft in der Wirklichkeit

Die Begegnung der Deutschen mit der Welt des 21. Jahrhunderts ist überfällig - und findet doch ausgerechnet im Osten längst statt

Die Begegnung der Deutschen mit der Welt des 21. Jahrhunderts ist überfällig – und findet doch ausgerechnet im Osten längst statt

„Now Main Street’s whitewashed windows
And vacant stores
Seems like there ain’t nobody
Wants to come down here no more
They’re closing down the textile mill
Across the railroad tracks
Foreman says these jobs are going boys
And they ain’t coming back
To your hometown ...

Last night me and Kate we laid in bed
Talking of getting out
Packing up our bags maybe
Heading south
I’m thirty-five, we got a boy
Of our own now
Last night I sat him up behind the wheel
And said „Son take a good look around
This is your hometown“
Bruce Springsteen, My Hometown (1984)

Volle zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit Bruce Springsteen in My Hometown jene charakteristische Konstellation beschrieb, in der Menschen erleben, wie sich ihre industrielle Lebenswelt unter der Hand auflöst: „Foreman says these jobs are going boys / And they ain’t coming back.“ Prägnanter lässt sich kaum zusammenfassen, was vielen Millionen Menschen in allen westlichen Industriestaaten widerfahren ist, was ihnen heute widerfährt oder in Zukunft noch widerfahren wird. In gewisser Weise beschreiben diese Zeilen die kollektive Standardsituation am Ende der klassischen Industriemoderne.

Der Prozess der Transformation war, ist und bleibt überall schmerzhaft, wo er Menschen aus ihren angestammten Bezügen reißt: Sollen sie bleiben und resignieren? Finden sich anderswo noch einmal neue Chancen für sie in ihrem alten Beruf? Oder müssen sie anderswo ganz von vorn anfangen („Packing up our bags maybe / Heading south“)? Wie stellen sich, allgemeiner gefragt, Gesellschaften in der Spätphase des klassischen Industrialismus überhaupt auf neue Verhältnisse ein? Was kommt danach? Wie geht es weiter? Derzeit hat es den Anschein, dass Deutschland unter allen westlichen Industrienationen dasjenige Land ist, das sich weitaus am schwersten mit der Einsicht tut, die der Soziologe Manuel Castells in einem einzigen kurzen Satz auf den Punkt gebracht hat: „Zu dieser Jahrtausendwende ist eine neue Welt dabei, Form anzunehmen.“1 Wie sie aussehen wird, wo ihre neuen sozialen Bruchlinien verlaufen und welche Lebenschancen Menschen in dieser neuen Welt haben werden: Das alles hängt davon ab, ob wir die Veränderungen begreifen – oder ob wir diese Veränderungen verleugnen, verfluchen und bekämpfen.

In den Vereinigten Staaten erscheint Springsteens My Hometown heute wie ein Lied aus ferner alter Zeit. Vor einigen Monaten schloss die legendäre Jeansmarke Levi’s auch ihre letzte Fabrik in den USA, ihre letzte textile mill auf amerikanischem Boden. Time to move on, so sind die Zeiten, Geld wird heute mit Wissen und intelligenten Produkten verdient: Diese Lektion der globalisierten ökonomischen Entwicklung hat die amerikanische Gesellschaft insgesamt inzwischen verstanden, verarbeitet – oder doch wenigstens widerwillig weggesteckt.

Bei uns in Deutschland ist es anders. Hier wird verrückterweise der mittelständische Textilunternehmer Wolfgang Grupp als nationales Vorbild gefeiert, weil er seine Trikotagen und Leibwäsche der Marke Trigema bis auf weiteres noch immer in Deutschland zusammennähen lässt und aus diesem Umstand geschickt den Markenkern seiner Firma gebastelt hat. „Siehste, geht eben doch“, sagt der verbitterte Vorruheständler auf dem Sofa zu seiner Frau, wenn der Herr Grupp wieder einmal bei Sabine Christiansen auftaucht. „Warum machen die das bloß nicht alle so, die feinen Herren Unternehmer? Dieses vaterlandslose Pack!“ Irgendwann bald freilich wird auch die Firma Trigema ihre Fabrik im idyllischen Burladingen auf der Schwäbischen Alb für immer schließen müssen. Dann wird die Enttäuschung umso größer sein – und auch der freundliche Herr Grupp dürfte dann als Verräter an der gerechten patriotischen Sache gelten.

Kein Zweifel, in Deutschland ist Bruce Springsteens zwanzig Jahre alter Song angesichts des erst noch bevorstehenden Verlustes vieler, vieler weiterer industrieller Jobs für Menschen mit geringen oder nicht mehr gebrauchten Qualifikationen aktuell wie nie. Es dürfte keine andere Gesellschaft des reichen Westens geben, die sich angesichts des Umbruchs zur lernenden Wissens- und Dienstleistungswelt so sehr aufs Verleugnen und Verdammen des Neuen verlegt hat wie die deutsche.

Es wirkt rührend, ratlos und verzweifelt zugleich, wenn Politiker großer deutscher Parteien angesichts der fundamentalen Transformationsprozesse der Gegenwart allen Ernstes Begriffe wie „Patriotismus“ ins Feld führen, um ausgerechnet auf diese Weise Unternehmen davon abzubringen, industrielle Arbeitsplätze ins Ausland zu exportieren. Insgesamt hat die Unbeholfenheit, mit der die Deutschen in den realen Verhältnissen des beginnenden 21. Jahrhunderts herumtappen, etwas tief Beunruhigendes.

Die landläufigen Vorstellungen davon, welche Zukunftsperspektiven dieses Land in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht habe, zeichnen sich in hohem Maße noch immer durch Vergangenheitsfixiertheit und Wirklichkeitsvergessenheit aus. Nicht zuletzt die über Jahrzehnte entstandene „erfolgsgewöhnte Mentalität“ (Hans-Ulrich Wehler) des alten Westens der deutschen Republik ist heute unser Problem.2 Bis hinein in die politischen Eliten herrscht weiterhin die vollständig irreale Hoffnung darauf, dass irgendwann irgendwie „die Konjunktur anspringen“ werde, woraufhin sich mit dem sodann dynamisch einsetzenden „dauerhaften Wirtschaftswachstum“ endlich sowohl die Arbeitslosigkeit abbauen wie die öffentlichen Haushalte sanieren lassen würden. Und dann wird offenbar alles wieder so wie in der guten alten Zeit.

Die „goldenen Jahre“ sind seit über drei Jahrzehnten vorbei

So weit, so töricht. Denn diese „Strategie“ hat schon in den vergangenen Jahrzehnten niemals irgendwo funktioniert. Bei Licht besehen klingelte ihr Totenglöcklein bereits mit dem ersten Ölpreisschock von 1973 – vor über drei Jahrzehnten! Der Konnex von Wachstum, Wohlstand und konservativem Wohlfahrtsstaatsmodell hat seinen historischen Ort in den „dreißig goldenen Jahren“, die in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Ende gingen.3 Wo sie nicht (wie etwa in Dänemark in den neunziger Jahren) mit gleichzeitigen massiven Strukturreformen der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes verbunden waren, hat keynesianische Ausgabenpolitik seither niemals mehr irgendwo zu dauerhaftem Wachstum geführt. Und absolut nichts spricht dafür, dass solch eine Entwicklung jemals wieder in nachhaltiger Weise eintreten könnte. Es existiert damit aber ein langfristig potentiell verhängnisvoller Kreislauf aus unrealistischen Erwartungen in der Bevölkerung einerseits und fahrlässigen Verheißungen von Seiten der politischen Eliten andererseits.

Solange dieser Teufelskreis der gegebenen und erwarteter, aber uneinlösbarer Vergangenheitsversprechen immer weiter in Gang gehalten wird, steigt die Gefahr irrationaler kollektiver Reaktionen im Fall krisenhafter Zuspitzungen. Geriete Deutschland in eine akute ökonomische Krise über die schleichende, „relative“ Erosion seiner Substanz hinaus, so wäre jedenfalls die westdeutsche Bevölkerung darauf weder politisch noch mental vorbereitet. Zu erwarten ist vielmehr, dass es gerade dann zu einer weiteren Radikalisierung unerfüllbarer Vergangenheitserwartungen käme – mit kaum kalkulierbaren politischen Konsequenzen.

„Unmoderne Menschen in der modernen Welt“, nannte Ralf Dahrendorf die Deutschen noch 1965.4 Dann kam der „Aufbruch“ der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Heute wiederum scheinen es ironischerweise nicht zuletzt die zu ewigen Wahrheiten geronnenen Glaubenssätze und Ressentiments der in dieser Zeit „aufgebrochenen“ und sozialisierten Alterskohorten zu sein, die eine Ankunft in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts verhindern. Der aktuelle Widerstand gegen längst überfällige Sozialreformen, begründet mit vulgärkeynesianistischer und protektionistischer Rhetorik aus längst vergangener Zeit, steht beispielhaft für die ungebrochene Bereitschaft, um fast jeden Preis lieber auf das rundum gescheiterte Gestern zu setzen, als sich intellektuell ernsthaft auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft einzulassen. „Wir blicken auf eine nahezu fünfzehnjährige Ära kontinuierlichen Regierens zurück“, schrieb Wilhelm Hennis 1997 über die verdämmernde Kanzlerschaft Helmut Kohls. „Chateaubriand hat von Napoleon gesagt, er habe ein politisch völlig unerzogenes Land zurückgelassen. Max Weber hat das gleiche von Bismarck gesagt. Ich wünsche es wirklich nicht, dass man es auch von Helmut Kohl einmal sagen müsste.“5 Wir wissen längst: Man muss es sehr wohl auch von Kohl sagen, und nicht ohne Grund hat die SPD in ihrer Phase der forcierten „Agenda 2010“ viel Aufhebens von den „liegen gebliebenen“, also weder angepackten noch vollbrachten Reformen der Ära Kohl gemacht. Es ist nicht zu bezweifeln: Die Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls waren die Zeit, in der Deutschland in geradezu bestürzendem Ausmaß den Anschluss an die Dynamik einer sich fundamental veränderten „neuen Welt“ (Castells) verpasste.

Bereits seit 1993 wächst die deutsche Wirtschaft im Durchschnitt nur um 0,2 Prozent jährlich, verglichen mit einer Rate von 1,2 Prozent in den übrigen Ländern der Europäischen Union. Deutschlands Strukturschwäche hat einen langen Vorlauf. Doch dies festzustellen bedeutet weder politisch noch moralisch irgendeine Entlastung für die seit 1998 amtierende rot-grüne Bundesregierung. Sie wird daran gemessen (werden), ob wenigstens sie zu ihrer Zeit den Phänomenen in ihrer Zeit gerecht geworden ist. Haben wir die Bewegungsgesetze verstanden, die unser Zeitalter kennzeichnen? „Die grundlegendste politische Befreiung“, schreibt Manuel Castells, „besteht darin, dass sich die Menschen vom unkritischen Festhalten an theoretischen oder ideologischen Schemata befreien und ihre Praxis auf die Grundlage ihrer eigenen Erfahrung stellen (Hervorhebung T.D.), wobei sie jegliche Information oder Analyse nutzen, die ihnen aus vielfältigen Quellen zur Verfügung steht.“6

Da sind wir noch nicht. Aus vielfältigen Gründen sind die aufeinander bezogenen und tief ineinander verkeilten Institutionen und Organisationen dieses Landes zu einer der Wirklichkeit angemessenen und in der Folge auch erfolgreicheren Praxis auf der Basis aktueller Analyse und gegenwärtiger Wirklichkeitswahrnehmung strukturell offensichtlich nicht mehr im Stande. Selbst wo die in überständigen Kategorien geführten Auseinandersetzungen sogar für die beteiligten Streitparteien selbst ausschließlich Nachteile hervorbringen (wie etwa der Konflikt zwischen Gewerkschaften und SPD in den vergangenen Monaten), erweisen sich die Akteure als institutionell unfähig, stattdessen systematisch die Suche nach gemeinsamen Win-win-Situationen aufzunehmen.

Das „Modell Deutschland“ pfeift zwar auf seinem allerletzten Loch, trotzdem halten seine etablierten Akteure unverdrossen an ihm fest: „The post-war consensus model remains robust, even if the German economy no longer is“, merkt der britische Economist so verwundert wie zutreffend an. „Modern Germans, it seems, are prepared to put up with a great deal before endorsing an abrupt change of direction.“7 Noch regiert die Macht der Beharrung, soll das heißen, doch der Tag der großen Abrechnung steht bevor. Und wenn er gekommen sei, werde alles auf einmal anders. Wirklich? Zweifel sind angebracht, ob kollektive Erkenntnis- und Veränderungsprozesse nach diesem binär codierten Muster verlaufen, das nur die Farben Schwarz und Weiß kennt. Vielleicht ist es ja doch eher so, dass der Wandel schleichend kommt. Vielleicht ist er sogar schon da, und wir haben ihn nur noch nicht so richtig bemerkt.

Ostdeutschland als Zukunftsmodell?

In Wirklichkeit hat die andere Zukunft längst begonnen. Es gibt eine deutsche Region, die ökonomisch vergleichsweise so ungeheuer Not leidend ist, dass sie als „Zukunftsmodell“ niemals in Frage zu kommen scheint: Das ist Ostdeutschland.8 Nirgendwo sonst in Europa scheinen die kleinen Städte Bruce Springsteens hometown so sehr zu entsprechen wie in der Region zwischen Vorpommern und Oberlausitz, Erzgebirge und Oderbruch. Die These, dass ausgerechnet diese Gegenden in irgendeiner Weise „vorbildlich“ sein könnten, ist rundum kontraintuitiv. Sie widerspricht in der Tat zunächst jeder herkömmlichen Wahrnehmung – sowohl im Osten selbst wie auch in den alten Bundesländern.

An der Wurzel auch der aktuellen Diskussion um das angebliche Scheitern des „Aufbau Ost“ liegt die Vorstellung, in den neuen Bundesländern werde ausschließlich konsumierend verfrühstückt, was der emsige Westen der Republik unermüdlich erwirtschafte. „Wir müssen aufpassen, dass der Aufbau Ost nicht zum Abbau West wird“, hat der saarländische Ministerpräsident Peter Müller dieses übliche Paradigma vor einer Weile prägnant formuliert.

In Wirklichkeit besteht dieser Zusammenhang in dieser Weise ja keineswegs. Zwar ist es richtig, dass Ostdeutschland weiterhin auf die im Westen unseres Landes aufgebrachten und gewiss keineswegs unbeträchtlichen Solidarmittel angewiesen bleibt. Davon vollständig unabhängig ist jedoch die Frage, ob der Westen seinerseits die richtigen Strukturentscheidungen trifft, um seine eigene verloren gegangene Dynamik zu erneuern. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, gehört nicht viel kombinatorische Fähigkeit dazu, im westdeutschen Gerede vom ostdeutschen „Fass ohne Boden“ vor allem einen selbstgerechten Sündenbockdiskurs zu erkennen, bei dem allen Ernstes (wie üblicherweise im Spiegel nachzulesen) Reetdächer auf ostdeutschen Toilettenhäuschen oder marmorne Bahnsteige in Leipzig als Erklärung für westdeutsche Unterperformanz herhalten müssen. Ein Fall von bestechender anekdotischer Evidenz, gewiss. Doch der vorsichtige Analytiker weiß: Correlations are not causes!

Wer den Umbruch im Osten „Strukturwandel“ nennt, hat nichts verstanden

Die Begierde, mit der solche Thesen gleichwohl immer wieder aufgenommen werden, gibt einigen Aufschluss über die Fehlwahrnehmungen, die vergangenheitsfixierten Illusionen und Mentalitäten, die in Westdeutschland noch immer mühelos die Lufthoheit behaupten. Selbst wenn der Osten tatsächlich jenes ständig beschworene „Fass ohne Boden“ wäre, würde dies den alten Westen der Republik eben keineswegs von der Notwendigkeit befreien, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Hierzu braucht es Einsicht in die eigene Situation, Illusionslosigkeit und Ehrlichkeit im Umgang mit der eigenen Erfahrung – erworbene Fähigkeiten, Haltungen und Tugenden, die viele Ostdeutsche ihren westdeutschen Landsleuten heute zunehmend durchaus voraushaben, selbst wenn die Proteste des Sommers 2004 auf den ersten Blick einen anderen Eindruck vermitteln.

Die von Bruce Springsteen in My Hometown besungene Situation des Abschieds von der altindustriellen Vergangenheit liegt in Ostdeutschland bereits zehn bis fünfzehn Jahre zurück. Die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer verlief rasend schnell, sie war so umfassend wie unerbittlich. Ihre Opfer in der Form zerstörter Lebensläufe sind ungezählt. Wer hierfür nur den technischen Begriff „Strukturwandel“ verwendet, hat die schiere Gewaltsamkeit des Umbruchs nicht im Geringsten verstanden. Die in geringem Umfang heute in den neuen Bundesländern wieder existierenden industriellen Strukturen sind fast durchweg erst in den neunziger Jahren aufgebaut worden. Bevor Neues entstand (so weit dies überhaupt der Fall gewesen ist), ging das alte Leben in der arbeiterlichen Gesellschaft vollständig verloren, wurden bestehende soziale und kulturelle Kollektive aufgesprengt, Gemeinschaften und Familien auch geografisch auseinander gerissen. Die Taschen zu packen und südwärts zu ziehen – das mag manchem hierzulande noch immer als „amerikanisches“, dem Deutschen fremdes Kulturmuster erscheinen. „So sind wir nicht“, sagen sie.

Doch auch diese Zukunft ist in Wirklichkeit längst deutsche Gegenwart geworden – wer das bestreitet, der hat sich offensichtlich schon lange nicht mehr in Städten wie Wittenberge, Wolfen oder Weißwasser umgesehen. Viel ist in den vergangenen Jahren von den „Jammerossis“ die Rede gewesen. Kein Vorwurf ist weniger angebracht, auch hier ist der Paradigmenwechsel längst überfällig. Denn gemessen an der existenziellen Erfahrung einer buchstäblich alle Lebensbezüge auf einmal erfassenden plötzlichen Umwälzung haben sich verblüffend viele Ostdeutschen in Wirklichkeit verblüffend gut zurechtgefunden und neu orientiert. Sie besitzen in Deutschland keine gesellschaftliche Meinungsführerschaft und einstweilen auch viel zu wenige sprachmächtige politische Repräsentanten mit bundesweiter Ausstrahlung, wie die Debatte um „Aufbau Ost“ und/oder „Abbau West“ gerade erst wieder sehr eindrücklich gezeigt hat. Deshalb fehlt es diesem ostdeutschen Erfolg gewissermaßen an der Möglichkeit der Selbstartikulation: Die kulturelle Hegemonie besitzen im Zweifel jederzeit noch die medialen, politischen und gesellschaftlichen Repräsentanten des alten Westens mit ihrem ebenso bequemen wie gedankenlosen Gestus des Wird-schon-wieder.

Zumal in Westdeutschland klammern sich viele Menschen an den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Vergangenheit fest, weil sie – zu Recht oder zu Unrecht – von der Zukunft nichts mehr erwarten. „Wir haben zu viele ‚Aufbrüche’ erlebt, als dass man uns damit hinter dem Ofen hervorlocken könnte“, schreibt Wilhelm Hennis sarkastisch.9 So aber bleibt im alten Westen der deutschen Republik weithin immer noch völlig unverstanden, in welch hohem Maße sich Ostdeutsche in den vergangenen Jahren mit Erfolg auf den rapiden Wandel der Bedingungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eingelassen haben. Man muss diese Anpassungsfähigkeit durchaus nicht in normativem Überschwang zur „Tugend“ verklären; in vieler Hinsicht handelt es sich bei den Adaptionsanstrengungen der Ostdeutschen zweifellos um Leistungen, die angesichts widriger Rahmenbedingungen erbracht werden mussten. Dennoch handelt es sich oftmals um objektiv adäquate Reaktionen auf sich rapide verändernde Umweltbedingungen, die – ohne dass darum große Worte gemacht würden – im Einklang stehen mit wesentlichen Entwicklungstrends der modernen Wissensgesellschaft und -ökonomie.

Wanderungsbewegungen sind der historische Normalfall

In diesem Sinn ist zuvörderst das vollständig der Wirklichkeit angemessene Wanderungsverhalten der ostdeutschen Bevölkerung zu nennen. Während eine an den Mustern der Vergangenheit orientierte Politik noch bis in die jüngste Zeit darauf setzte, eine nachholende Modernisierung Ostdeutschlands durch die Implantierung industrieller Großprojekte selbst in abgelegenen Regionen organisieren zu können, haben die Menschen in diesen Gebieten mindestens intuitiv vielfach längst verinnerlicht, dass diese Version von Modernität und Arbeitsgesellschaft der Vergangenheit angehört – und ziehen daraus konsequent ihre Schlüsse. Wanderungsbewegungen hat es in der Geschichte immer gegeben, und es wird sie immer geben. Dass Städte und Regionen im Zeitverlauf auf- und wieder absteigen können, ist eine historische Selbstverständlichkeit.

Heute höchst erfolgreiche, von Deutschland aus bestaunte und beneidete Erfolgsregionen wie Finnland, Schweden oder Irland gehörten noch vor einem Jahrhundert zu den armseligsten und hoffnungslosesten Landschaften dieses Kontinents, was seinerzeit Millionen verzweifelter Menschen in diesen Ländern dazu veranlasste, sich auf der Suche nach dem besseren Leben nach Amerika einzuschiffen. Solche wiederkehrenden Wanderungsbewegungen sind nichts anderes als der historische Normalfall, und sie haben auch in den vergangenen Jahrzehnten niemals aufgehört. Die Vorstellung, dass die materielle Gleichartigkeit von Lebensverhältnissen in verschiedenen Regionen gleichsam von Verfassungs wegen auf Dauer festgelegt werden könnte, ist angesichts ihrer ganzen Geschichtsvergessenheit ein in charakteristischer Weise altbundesrepublikanisches Postulat. Weil die Ostdeutschen in den peripheren Regionen spüren, wie leer dieses Versprechen ist, haben sie weitgehend aufgehört, seine Erfüllung zu fordern, sondern suchen Geld, Glück und Lebenschancen heute vernünftigerweise in Stuttgart, Hamburg oder München – ganz so wie schlesische Landarbeiter oder polnische Tagelöhner vor 100 Jahren in boomtowns wie Berlin, Bottrop oder Gelsenkirchen. Wie zu allen Zeiten machen sich die Menschen daran, „ihre Praxis auf die Grundlage ihrer eigenen Erfahrung“ (Castells) zu stellen. Time to move on. Diesen Schritt hat der politische und intellektuelle Mainstream in (West-) Deutschland noch immer nicht nachvollzogen. Es hat aber schlechterdings keinen Sinn, eine Politik zu betreiben, die den großen, den fundamentalen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungstrends ihrer Zeit zuwider läuft, ja diese im Grunde gar nicht zur Kenntnis nimmt.

Was also passiert eigentlich? Im Übergang von den sozialräumlichen Strukturen der vergehenden Industriegesellschaft zu denen der postindustriellen Informations- und Wissensgesellschaft erleben wir in diesen Jahrzehnten die größte Urbanisierungswelle in der Geschichte der Menschheit. Mit dieser verbunden ist die Herausbildung neuartiger urbaner Agglomerationen. Überall auf der Welt organisiert sich die Wissensökonomie in Form von regional konzentrierten Innovationsmilieus, fortgeschrittenen Dienstleistungszentren und hochwertigen Hightechindustrien. In diesen ausgedehnten, verkehrstechnisch und kommunikativ untereinander vernetzten Metropolenregionen konzentrieren sich heute und in Zukunft die Orte der Innovation, der Wertschöpfung, der Kultur und der Kommunikation. Damit sind diese Stadtregionen neuen Typs zugleich die Motoren von Wachstum und Kreativität in ihrem jeweiligen regionalen Hinterland. Diese Entwicklung folgt überall einem Muster der „konzentrierten Dezentralisation“ (Castells) von Bevölkerung und ökonomischer Aktivität: Wir erleben die fortschreitende Ausdehnung und Dominanz urbaner Siedlungsgebiete gegenüber ländlichen Regionen, zugleich aber entsprechen die dabei entstehenden und wachsenden urbanen Strukturen immer weniger dem industriegesellschaftlichen Muster von Zentrum und Peripherie.10 Das ist historisch beispiellos.

Zusammengenommen bilden die neuartigen Agglomerationen der Informationsgesellschaft je eigene regionale Innovationsmilieus: Integrierte Wertschöpfungs- und Wissenschaftscluster fortgeschrittener Produktion, Dienstleistung, Forschung und Kultur. Diese verkehrstechnisch und kommunikativ auch untereinander vernetzten Mega-Regionen bieten mehr und bessere Arbeitsplätze, Bildungschancen und sonstige städtische Angebote. Damit üben sie enorme Sogwirkung auf die sie umgebenden Regionen aus, die sich umso mehr und umso schneller entleeren, je größer die kulturelle und ökonomische Dominanz der konzentriert-dezentralisierten Mega-Regionen wird. Beispielsweise im Land Brandenburg hat die Landespolitik nach 1990 jahrelang versucht, dieser Entwicklung mit einer aufwändigen Politik der „dezentralen Konzentration“ entgegen zu wirken – also mit dem exakten Gegenmodell zum ökonomisch und gesellschaftlich tatsächlich stattfindenden Prozess der „konzentrierten Dezentralisation“. Dieses mechanistische Brandenburger „Entwicklungsmodell“ der frühen Jahre ist inzwischen komplett gescheitert und konzeptionell aufgegeben worden – und zwar nicht, weil es sich als zu teuer erwiesen hat (das auch), sondern weil es als gleichsam letzter Seufzer der industriellen Moderne im Widerspruch stand zur inhärenten Entwicklungslogik von Ökonomie und Gesellschaft unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts.11

Aber was wird aus den abgehängten Menschen und Regionen?

In diametralem Gegensatz zum gescheiterten Brandenburger Versuch, dem historischen Großtrend zu trotzen, besteht die Strategie erfolgreicher europäischer Staaten wie Finnland darin, die großen neuen Chancen des Prozesses entschlossen und ohne schlechtes Gewissen zu nutzen – gerade um jene ökonomische Dynamik hervorbringen und jene Mittel erwirtschaften zu können, die gebraucht werden, um ins Abseits geratende Regionen überhaupt noch an Wachstum, Wertschöpfung und Fortschritt teilhaben lassen zu können. Wir werden, mit anderen Worten, den Prozess der „konzentrierten Dezentralisation“ nicht aufhalten können – und wir sollten dies (schon deshalb) auch auf keinen Fall versuchen. Deutschlands einzige ökonomische Chance im 21. Jahrhundert liegt in der systematischen Förderung und Pflege seiner aufstrebenden regionalen informations- und wissensgesellschaftlichen Innovationsmilieus. Nicht zuletzt von den Erfolgen oder Misserfolgen, die dabei erzielt werden, hängt die ökonomische Zukunft unseres Landes im 21. Jahrhundert ab.

Und was wird aus den abgehängten Regionen? Was aus den Menschen, die ihre Sachen nicht mehr zusammenpacken können oder wollen, um „im Süden“ oder anderswo noch einmal von vorne anzufangen? Dass es diese Regionen und Menschen geben wird, ist unbestreitbar – und auch das haben die Bewohner der betroffenen Landschaften Ostdeutschlands selbst längst besser begriffen als die meisten Menschen in den alten Bundesländern oder manche noch immer im Takt der klassischen Industriemoderne tickende Politiker. „Man muss endlich zur Kenntnis nehmen“, sagt völlig zu Recht der Regionalsoziologe Ulf Matthiesen, „dass es im Prozess der europäischen Vereinigung jetzt mitten in Europa neue Peripherien geben wird. Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung wird sich zum Teil dramatisch erhöhen. Es wird regionale Wachstumszentren geben, und es wird peripher fallende Regionen geben, die aus der Entwicklungsdynamik mehr oder weniger herausfallen. Die Ungleichheit zwischen verschiedenen Räumen wird sich also vergrößern.“12

Es wäre deshalb ganz sinnlos, den Menschen der ins Abseits geratenden Regionen eine goldene Zukunft in diesen Regionen selbst in Aussicht zu stellen. Es wird unweigerlich in zunehmendem Maße „Räume der funktionalen Irrelevanz“ geben, „abgeschaltete Territorien und Menschen“ (Castells), die jedenfalls im Kontext der Wissens- und Informationsökonomie ganz einfach keine Bewandtnis mehr haben. „Wir werden einen Tag sehen“, sagt Castells, „an dem es ein Privileg sein wird, ausgebeutet zu werden, denn noch schlimmer als Ausbeutung ist, ignoriert zu werden.“13

Die Tragik eines verspäteten Landes

Akzeptiert man diese Einsicht, kommt es in politischer Hinsicht nicht mehr darauf an, die Entstehung von „Räumen der funktionalen Irrelevanz“ um jeden Preis zu verhindern – sie sind ohnehin längst da, und sie werden, im Westen wie im Osten, weiter wachsen. Vielmehr muss es einer zeitgemäßen Politik für das 21. Jahrhundert darum gehen, so vielen Menschen wie nur irgend möglich mittels Bildung und Wissen den Aus- und Aufbruch aus den abgehängten Regionen, Dörfern, Städten und Stadtteilen zu ermöglichen. Das ist ökonomisch dringend notwendig, damit die deutsche Gesellschaft vor dem Hintergrund ihrer demografischen Krise dennoch eine gewisse Dynamik bewahren kann. Es ist aber vor allem auch aus normativen Gründen notwendig: Überhaupt nur eine produktive und dynamische Wissensgesellschaft wird ökonomisch im Stande sein, auch für ihre unter funktionalen Gesichtspunkten irrelevant gewordenen Mitglieder in den „abgeschalteten“ Regionen zu sorgen.

Genau das muss sie aber, und zwar ohne Wenn und Aber. Ganz einfach deshalb, weil es Menschen sind, wie „funktional irrelevant“ auch immer, die dort auch weiterhin leben werden. Dass heute die Verbitterten und Übrigbleibenden all der vielen verlorenen hometowns in Deutschland genau jene Entwicklungen begreiflicherweise nur noch als Verrat begreifen, die doch indirekt auch ihre einzige (kleine) Chance bedeuten – genau das ist die Tragik dieses verspäteten Landes am Beginn des 21. Jahrhunderts.


Anmerkungen

1 Manuel Castells, Das Informationszeitalter, Bd. 3: Jahrtausendwende, Opladen 2003, S. 386.
2 Hans-Ulrich Wehler, Bonn – Berlin – Weimar: Droht unserer Republik das Schicksal von Weimar? In: ders., Umbruch und Kontinuität: Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, S. 98-113, hier S. 106; siehe dazu auch Tobias Dürr, On „Westalgia“: Why West German Mentalities Persist in the Berlin Republic, in: Dieter Dettke (Hrsg.), The Spirit of the Berlin Republic, New York und Oxford 2003, S. 37-47.
3 Vgl. Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat: Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, München und Stuttgart 2003, S. 169 ff.
4 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968, Kap. 7.
5 Wilhelm Hennis, Totenrede des Perikles auf ein blühendes Land, in: ders., Auf dem Weg in den Parteienstaat: Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998, S. 155-167, hier S. 167.
6 Castells, Jahrtausendwende (Anm. 1), S. 411.
7 How to pep up Germany’s economy: Special report on structural reform in Germany, in: The Economist vom 8.5.2004, S. 71-73.
8 Vgl. die Beiträge in Tanja Busse und Tobias Dürr (Hrsg.), Das neue Deutschland: Die Zukunft als Chance, Berlin 2003.

9 Hennis, Totenrede (Anm. 5), S. 165.
10 Manuel Castells und Pekka Himanen, The Information Society and the Welfare State: The Finnish Model, Oxford und New York 2002, S. 103 ff.
11 Vgl. zu diesem Perspektivwechsel sehr aufschlussreich etwa verschiedene Beiträge in der sozialdemokratischen Zeitschrift Perspektive 21. Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik (www.perspektive21.de), Heft 21/22, Frühjahr 2004.
12 Zitiert nach Uwe Rada, Zwischenland: Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet, Berlin 2004, S. 189.
13 Zitiert nach Rada, Zwischenland (Anm. 12), S. 191.

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