Am Ende doch mit leeren Händen?

Am Anfang der türkischen Migration nach Deutschland stand die Hoffnung auf ein besseres Leben. Längst nicht alle Wünsche der ersten Einwanderergeneration gingen in Erfüllung. Vom Gelingen der Integration ihrer Kinder und Enkel hängt für Deutschland viel ab

Heute leben in Deutschland 2,6 Millionen Menschen mit familiären Wurzeln in der Türkei. Das deutsch-türkische Zusammenleben wird oft als problembelastet wahrgenommen, beklagt werden, je nach medialer Konjunktur, feindselige Übergriffe seitens der Deutschen auf die (große) Minderheit oder die Bildung vermeintlicher türkischer „Parallelgesellschaften“.

Die Migrationsgeschichte der Türkinnen und Türken ist nur wenigen ihrer deutschen Mitbürger bekannt. Die meisten der türkischen Arbeitskräfte in der Bundesrepublik stammten ursprünglich aus dem Süden und Osten der Türkei. In den fünfziger Jahren trieben die hoffnungslos erscheinende Wirtschaftslage sowie semifeudale Sozialstrukturen zahlreiche Menschen in die wirtschaftlich attraktiveren Regionen des Landes. In den Großstädten entstanden Elendssiedlungen, die Hoffnung auf ein besseres Leben erfüllte sich meist nicht.

1961 gestattete die neue Verfassung türkischen Bürgern erstmals Auslandsreisen. Arbeitnehmer fanden es attraktiv, Arbeit in Deutschland zu suchen, was ihnen das frisch in Kraft getretene Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik auch ermöglichte. Sie planten typischerweise, nach einem begrenzten Aufenthalt wieder in die Heimat zurückzukehren, um dort mit ihren Ersparnissen und neuen Fachkenntnissen eine selbständige Existenz aufzubauen.

Jahrelang gingen sowohl die Arbeitsmigranten als auch die deutschen Behörden davon aus, dass der Aufenthalt in der Bundesrepublik zeitlich begrenzt sein werde. Entsprechend blieben Integrationsbemühungen von beiden Seiten aus – mit zum Teil bis heute spürbaren Folgen. Repräsentative Untersuchungen belegten tatsächlich mehrheitliche Rückkehrabsichten, die jedoch aus verschiedensten Gründen nie in die Tat umgesetzt wurden.

Im November 1973 – damals lebten 910.500 Türken in der Bundesrepublik – verfügte die Bundesregierung einen Anwerbestopp für Ausländer, die nicht aus Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft kamen. Langfristiges Ziel war, die Zahl der Migranten in Deutschland zu verringern. In den Folgejahren sank zwar der Anteil der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer insgesamt, der Anteil der türkischen Bevölkerung nahm jedoch zu. Da Arbeitnehmer nun nicht mehr in die Bundesrepublik zurückkehren konnten, wenn sie einmal weggezogen waren, entschieden sich die meisten dafür, ihre Familien nach Deutschland zu holen.

Wie die Regierung Kohl Sozialneid schürte

Die Regierung Kohl verabschiedete 1983 das so genannte Rückkehrförderungsgesetz, das finanzielle Anreize zur Heimkehr bot. Das Gesetz wurde neben ökonomischen Erwägungen auch deshalb verabschiedet, weil man der türkischen Bevölkerung die Fähigkeit zur Integration in ein christlich geprägtes westeuropäisches Land absprach. Gesellschaft und Regierung hatten nicht akzeptiert, dass die Bundesrepublik de facto längst ein Einwanderungsland geworden war.

Bis Mitte 1984 verließen rund 250.000 Ausländer – hauptsächlich Türken – die Bundesrepublik. Das Gesetz gewährte Rückkehrhilfen von bis zu 10.500 Mark pro Erwachsenem und 1.500 Mark pro Kind. Diese Tatsache schürte unter deutschen Arbeitnehmern Sozialneid, obwohl die Summen alles andere als großzügig waren. Familien, die in der Bundesrepublik gearbeitet hatten, bekamen nur das ausgezahlt, was ihre Mitglieder im Laufe der Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hatten. Der Anteil des Arbeitgebers wurde nicht ausgezahlt und Rückkehrer verzichteten auf alle weiteren Ansprüche.

In die Türkei zu ziehen war demnach eine folgenschwere Entscheidung, zumal viele der Reintegrationsmodelle, die seit Beginn der Wanderungsbewegung entwickelt wurden, aus unterschiedlichen Gründen scheiterten. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit bestand kaum die Aussicht auf eine neue Anstellung in der Heimat. Viele Migranten setzten auf individuelle Investitionen in der Türkei. In den sechziger Jahren gründeten Rückkehrer kleine Unternehmen, kauften Immobilien in Großstädten oder Land und landwirtschaftliche Maschinen. Ökonomischer Erfolg war ihnen damit jedoch nur selten beschieden – unter anderem, weil die hohe Inflation die Ersparnisse auffraß. Zudem drängten etablierte Großholdings neue Firmen oft wieder aus dem Markt.

Daneben gab es auch kollektive Rückkehrstrategien. Migranten schlossen sich zu Arbeitnehmergesellschaften zusammen. Dies geschah zur Förderung der Reintegration türkischer Arbeitnehmer, zur Schaffung und Bereitstellung von Arbeitsplätzen sowie als Beitrag zur Industrialisierung der Türkei. Mit diesen Zielen wurde 1966 in Köln die erste Arbeitnehmergesellschaft mit mehr als 2.200 Aktionären gegründet. Türksan sollte unter anderem in der Bauwirtschaft, in der Papierherstellung und im Tourismus aktiv werden.

Im Anschluss entstanden zahlreiche weitere Arbeitnehmergesellschaften. 1983 gab es 322 Arbeitnehmergesellschaften mit 345.000 Anteilseignern, von denen fast die Hälfte in Deutschland lebte. Obwohl das Investitionsvolumen insgesamt mehr als zwei Milliarden Mark betrug, scheiterten diese Gesellschaften. Dafür gab es vielfältige Gründe: Viele Arbeitnehmergesellschaften investierten in den Gegenden, aus denen ihre Mitglieder ursprünglich stammten – Gebiete mit schlechter Infrastruktur, geringen Transport- und Absatzchancen. Allenfalls dort, wo es schon Ansätze der Industrialisierung gab, konnten die neuen Firmen volkswirtschaftliche Wachstumsimpulse geben. Viele Projekte waren falsch gewählt, zwischen Planung und Realisierung verging zu viel Zeit, es fehlte an Krediten und an kompetentem Personal.

Das Rotationsmodell war nie rentabel

Das Kapital, das türkische Migranten in der Bundesrepublik gespart hatten, wurde im Großen und Ganzen weder individuell noch volkswirtschaftlich sinnvoll genutzt. Nötig gewesen wäre bei einem Transfer in die Türkei beispielsweise die Gründung einer zentralen Risikokapitalgesellschaft, die unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten die Erfolgsaussichten einzelner Projekte professionell geprüft und entsprechende Kapitalallokationen vorgenommen hätte. Eine solche Instanz wäre vor allem deshalb wichtig gewesen, weil wichtige Kontrollinstanzen – wie etwa das Bankenwesen, das durch die Verweigerung von Krediten unrentable Investitionen hätte stoppen können, in der Regel durch die Arbeitnehmergesellschaften gar nicht in Anspruch genommen wurden.

Nicht zuletzt, weil sich der Wunsch nach ökonomischer Selbstständigkeit in der Heimat vielfach als illusionär erwiesen hatte, änderte sich das Zuwanderungsverhalten. Zuvor hatte sich aber schon kurz nach Beginn der Anwerbung abgezeichnet, dass das ursprünglich geplante Rotationsmodell nicht rentabel war. Die deutsche Wirtschaft wollte keine gerade angelernten Arbeiter durch neu eingereiste ungelernte Kräfte ersetzen. Gleichzeitig erkannten viele Arbeitsmigranten, dass sie ihre Sparziele in der angesetzten Zeit nicht erreichen würden. Deshalb richteten sie sich auf längere Aufenthalte in der Bundesrepublik ein. Und viele holten ihre Familien nach.

Lebten zu Beginn der türkischen Zuwanderung fast ausschließlich männliche erwerbstätige Migranten in der Bundesrepublik, sind inzwischen nur noch ein Viertel der Türkischstämmigen in Deutschland einst als „Gastarbeiter“ gekommen: 53 Prozent wanderten im Zuge der Familienzusammenführung ein, weitere 17 Prozente der erwachsenen Türken sind bereits hier geboren. Der Anteil der Frauen hat sich fast an den der Männer angeglichen. Aufgrund des Familiennachzugs wurde die deutsche Gesellschaft mit einem für sie neuen Migrationsphänomen konfrontiert. Schulen, Kindergärten und Behörden waren auf diese neue Gruppe nicht eingestellt. Heute lebt mehr als die Hälfte der türkischen Erwachsenen bereits länger als zwanzig Jahre in Deutschland. Zwei Drittel der türkischen Diaspora sind in Deutschland aufgewachsen.

Wie die Ghettos entstanden sind

Diese Entwicklung wirkte sich auch auf die deutschen Kommunen aus. Zuwanderer und ihre Familien verließen nach und nach die meist werkseigenen Wohnunterkünfte, in denen sie anfangs untergebracht worden waren. Sie brauchten größere Wohnungen. Die meisten „Gastarbeiter“ bevorzugten preiswerte Quartiere. Ihre Sparneigung war groß, weil sie sich immer noch die Option offen hielten, in die Heimat zurückzukehren. In den westdeutschen Großstädten entstanden Straßenzüge und Stadtviertel mit hohem Ausländeranteil. Zudem trug zur Bildung dieser oft als „Ghettos“ empfundenen Quartiere die Schwierigkeit bei, als Ausländer Wohnungen außerhalb der Bezirke zu finden, die von der deutschen Bevölkerung aufgrund schlechter Bausubstanz verlassen wurden.

Die einstige Homogenität gibt es nicht mehr

Seit den neunziger Jahren hat sich ein breiter werdender türkischer Mittelstand in Deutschland gebildet. Viele Migranten überwanden mit der Zeit ihre anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten, innerhalb der türkischen Bevölkerung differenzierten sich nach und nach die Lebenskonzepte. Der neue Mittelstand stellt höhere Ansprüche an Ausbildung und Arbeitsplatz, Wohnsituation und Lebensqualität sowie an politische Partizipation. Die Homogenität, die noch die erste Generation der „Gastarbeiter“ kennzeichnete, gibt es in der türkischen Community heute nicht mehr. In der Folge kommt es, bedingt durch unterschiedliche Lebensentwürfe, zu Generationskonflikten in den Familien.
So ist es beispielsweise in der Türkei selbstverständliche Aufgabe der Eltern, den jüngeren Familienmitgliedern als lebenserfahrene Ratgeber zur Seite zu stehen. Mit dieser Rolle ist gleichzeitig eine hohe gesellschaftliche Anerkennung verbunden. Die entsprechend stark ausgeprägte Orientierung auf die eigene Familie erhält in der Bundesrepublik unter den speziellen Migrationsbedingungen eine besonders wichtige Funktion, kann aber auch zu starken Konflikten führen, zumal viele jüngere Türkinnen und Türken „deutsche“ Grundeinstellungen zur Familie und zum Verhältnis der Generationen untereinander übernommen haben. Das Ideal der türkischen Großfamilie, in der mehrere Generationen unter einem Dach leben, lässt sich hier in der Bundesrepublik häufig nicht realisieren. Junge Türkinnen und Türken wollen nicht mehr in die Pflicht genommen werden und richten sich auf ein von der Großfamilie unabhängiges Leben ein.

Die Situation für ältere Türken hier in der Bundesrepublik stellt sich indessen relativ problematisch dar. Einen großen Teil ihres Lebens haben diese Menschen in der Bundesrepublik schwer gearbeitet und relativ wenig erreicht. Ihr Lebensziel, eine Rückkehr in die Türkei in Wohlstand und Ansehen, ließ sich häufig nicht realisieren. Hier in der Bundesrepublik haben sie es unter Umständen zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, leiden aber unter vielfachen Einschränkungen. Dabei häufen sich die Probleme im gesundheitlichen, finanziellen und familiären Bereich. Die türkischen Rentner sind mit großen Hoffnungen in die Bundesrepublik gekommen und stehen am Ende doch mit leeren Händen da. Spätestens beim Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gehen die letzten sozialen Kontakte zu Deutschen verloren. Generationskonflikte, finanzielle Probleme und eine zerstörte Gesundheit kennzeichnen nicht selten ihren Lebensabend.

Die Zukunft der Jüngeren liegt in Deutschland

Obwohl nach wie vor viele der älteren Türken die Absicht äußern, in Kürze in ihr Heimatland zurückzukehren, handelt es sich dabei wohl mehr um eine Wunschvorstellung als um eine tatsächliche Option. Die meisten von ihnen können keinen genauen Zeitpunkt für ihre Rückkehr angeben. Sie leben bereits sehr lange in der Bundesrepublik, haben ihren Wunsch nach einer Rückkehr in die Türkei permanent verschoben und meist auf den Zeitpunkt nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben festgelegt. Nun müssen sie feststellen, dass dies illusorisch ist. Zudem gibt es starke Hinweise darauf, dass für die türkischstämmigen Menschen die Rückkehrschranken in der Regel höher sind als für Spanier oder Italiener, für die schon aus infrastruktureller und aufenthaltsrechtlicher Sicht das – für sie problemlose – Pendeln zwischen dem Altersruhesitz im Herkunftsland und der Familie in Deutschland eher ein gangbarer und bewusst eingeschlagener Weg sein kann.

Heute kann nicht mehr von einem allgemeinen Rückkehrwunsch ausgegangen werden. Die Zukunft der zweiten und dritten Generation der eingewanderten Türken liegt in Deutschland. Der Grad gesellschaftlicher Integration stellt sich allerdings für die erste und die zweite Generation unterschiedlich dar. Für die erste Generation, die sich jetzt dem Rentenalter nähert, gilt: Trotz all ihrer Bemühungen hat sie, im Wesentlichen bedingt durch fehlende Deutschkenntnisse und eine starke Verbundenheit mit dem Heimatland, ihre Anpassungsschwierigkeiten nicht überwinden können.

Was kennzeichnet erfolgreiche Integration?

Türken und Deutsche taten sich lange Zeit schwer, Schritte in Richtung auf ein gemeinsames Zusammenleben zu realisieren. Die Antwort auf die Frage, inwieweit die Integration voranschreitet, fällt unterschiedlich aus – nicht zuletzt, weil bisher kein Konsens darüber erzielt worden ist, was erfolgreiche Integration kennzeichnet.

Sicher scheint nur eines: Ohne gleichberechtigte Teilhabe an Ressourcen und Prozessen der Aufnahmegesellschaft bei Respektierung kultureller Vielfalt gibt es keine Integration. Parallelgesellschaften sind nicht akzeptabel, aber auch die vollkommene Assimilierung ist aus verbreiteter Sicht in Politik und Wissenschaft weder erstrebenswert noch realistisch.

Kulturelle und religiöse Toleranz ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Schaffung integrativen Potentials. Vielmehr kommt es auf die aktive Gestaltung von Rahmenbedingungen an, unter denen Chancengleichheit und kulturelle Eigenständigkeit kompatibel werden. Die Debatte um Anpassung oder kulturelle Eigenständigkeit ist in der deutschen Öffentlichkeit mitunter äußerst kontrovers und engagiert geführt worden. Letztlich stellt sich die Frage nach einem Konzept des Zusammenlebens in einer künftigen deutschen Zuwanderungsgesellschaft. In dieser Auseinandersetzung müssen viele Fragen offen gestellt werden – etwa im Zusammenhang mit dem Spracherwerb: Wollen wir die ausschließliche Förderung der Sprache des Aufnahmelandes oder die staatliche Förderung der Bilingualität? Und wo liegen die Grenzen der Religionsfreiheit? Fragen wie diese sind für das Selbstverständnis der Gesellschaft konstitutiv.

zurück zur Person