Am Anfang die Arbeit

Mit dem Ende der Industriegesellschaft stellen sich der Linken neue Fragen

Wer die Diskussionen des letzten Jahres verfolgt, hat schnell den Eindruck, dass im linken politischen Spektrum, besonders in der SPD, viele Fragen aufgebrochen sind, Fragen grundsätzlicher Art - nach dem Woher und dem Wohin. International renommierte Autoren wie Anthony Giddens stellen darüber hinaus die Frage, ob so etwas wie linke Politik überhaupt noch identifiziert werden könne. Unter der Oberfläche der Tagespolitik haben in den letzten Jahren Bewegungen stattgefunden und finden noch statt, die tatsächlich der traditionellen Linken den Boden unter den Füßen wegziehen, zumindest insofern diese von einem homogenen politischen Subjekt ausging, das sich über seine Stellung im Produktionsprozess definiert: die klassische Industriearbeiterschaft.


Oft werden Globalisierung und Individualisierung als die eigentlichen Ursachen des Wandels genannt. Aber warum bleiben beide in ihrer Ursächlichkeit so undeutlich? Globalisierung erscheint als irgend etwas zwischen international agierendem Finanzkapital, internationaler Arbeitskonkurrenz und weltweitem Warenhandel. Sie schafft die Uniformierung der Lebensverhältnisse, weckt aber auch Widerstände und fördert regionale Vielfalt.


Die Individualisierung erscheint als eine massenhafte Verschiebung der Wahrnehmung: Mit einem Mal entdecken die Menschen, dass sie Individuen sind.


Bevor nun voreilig neue Epochen ausgerufen werden, die der Globalisierung oder die der Individualisierung, sollte zunächst einmal genauer betrachtet werden, was sich ändert und was bleibt. Sonst ist die Neigung in der Politik groß, Moden hinterherzulaufen und immer wieder neue Epochen zu proklamieren. Zum Selbstverständnis der Linken gehört es, eine fundierte Analyse des Veränderungsprozesses vorzunehmen, damit die grundlegenden sozialdemokratischen Werte Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit bewahrt werden können, indem man den Wandel offensiv und gestaltend annimmt.


Es war noch nie ausreichend, die Gesellschaft allein von ihren "Überbau-Phänomenen", heute etwa von der Neigung zu individualisierten Lebensformen her, zu interpretieren. Was hat sich an der "Basis", in der gesellschaftlichen Produktionssphäre getan? Hier ist zuallererst festzustellen: Wir stehen an der Schwelle des Übergangs von der bekannten Industriegesellschaft hin zu dem, was man vielleicht am treffendsten wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft nennen könnte. Das Signum moderner Arbeitsverhältnisse ist Flexibilität. Die Arbeitnehmerschaft wandelt sich grundlegend, weil die Arbeitsformen wesentlich variantenreicher werden. Die aussagenreichste Definition der "Neuen Mitte" ist meiner Ansicht nach diejenige, die die "Neue Mitte" als die Menge aller fasst, die in der einen oder anderen Weise in den hochproduktiven Bereichen der Gesellschaft arbeiten.


Die Veränderungen haben in der Arbeitswelt ihren Kern, gehen aber weit über die Sphäre der engeren Erwerbsarbeit hinaus. Manche gesellschaftlichen Arrangements stehen nun vor allem deshalb auf dem Prüfstand, weil in der Industriegesellschaft viele Regelungen direkt oder indirekt von der Arbeitswelt abhängig sind. Mit dem Wandel der Arbeitswelt stellen sich neu die Fragen nach den sozialstaatlichen Absicherungssystemen, nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, nach der Teilhabe an dem gesellschaftlichen Produktionsprozess, nach der Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.


Die These, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien entscheidender Motor des gesellschaftlichen Wandels sind, heißt nicht, dass diese technische Grundlage den ganzen Prozess festlegt. Aber der Wandel setzt die Technologien voraus. Die Behauptung, dass es sich bei den IuK-Technologien nach Schrift und Buchdruck um eine neue Kulturtechnik handelt, ist zutreffend. Sowohl die Individualisierung als auch die Globalisierung sind nicht ohne die IuK-Technologien zu denken, weder sind die Märkte individualisierter Bedürfnisse ohne Computer vorstellbar, noch ein intensiver weltweiter Handel oder eine weltweite Kultur ohne moderne Medien.


Aussagen über künftige gesellschaftlichen Formen werden von dem bezeichneten dominanten Wandel der Arbeitswelt ausgehen müssen. Eine Fortschreibung der Entwicklung zeigt, dass Flexibilität und die Anforderung an Qualifikation deutlich zunehmen werden. Horrorszenarien von einem Ende der Erwerbsarbeit, von der Beschäftigungslosigkeit eines immer größeren Teils der Gesellschaft sind dagegen überzogen und halten empirischer Überprüfung nicht stand.
Die gravierendsten Veränderungen finden in der Form der Erwerbsarbeit statt: Die Erwerbsbiografien werden immer individualisierter und fragmentarischer. Die Risiken für den Einzelnen steigen. Das bietet Selbstverwirklichungschancen und Freiheitserfahrungen, aber auch neue Belastungen und Gefahren. Man sollte nicht die zwiespältige Entwicklung dadurch vereinfachen, dass man nur eine Seite, die der Freiheit betont und behauptet, die Menschen wollten sie auch um den Preis des größeren Risikos.


Richard Sennett hat in seinem Buch Der flexible Mensch deutlich gemacht, wie tief die neuen Anforderungen in die Alltagswelt und die Lebensplanung der Menschen und in die Ausbildung des Charakters eingreifen. Der Kapitalismus gewinnt ein neues Gesicht. Der Mensch als Anhängsel der Maschine, wie ihn Charlie Chaplin in Modern Times unvergesslich dargestellt hat, ist keine dominante Gefahr mehr. Heute unterliegen einfache Arbeiten eher der Gefahr, austauschbar und beliebig zu sein. Mit Hilfe von Computer-aided-manufacturing kann man genauso gut Schuhe wie Brötchen produzieren. War der Mensch früher völlig in die maschinelle Prozedur einbezogen, ist er heute nur noch an einer peripheren Touchscreen-Oberfläche mit ihr in Kontakt. War er früher in einen festen Rhythmus eingebunden, muss er sich heute äußerst flexibel zeigen.


Wie können trotz und durch die gravierenden Veränderungen sozialdemokratische Grundwerte verwirklicht werden? Die Veränderungen zwingen uns nicht, von den Grundwerten Abschied zu nehmen. Deregulierung staatlicher Gesetze und gesellschaftlicher Übereinkünfte, also eine Dominanz des marktgemäßen Konkurrenzprinzips, wird dem Kriterium größtmöglicher Effektivität und Produktivität nicht genügen, wie man leicht im Bildungsbereich plausibel machen kann. Das vorherrschende Konkurrenzprinzip führt in Amerika dazu, dass im Bereich der Facharbeiter der Ausbildungsgrad schlechter ist als in Europa. Gute Arbeitskräfte werden eingekauft, nicht ausgebildet.


Der Zerfall von Milieus und homogenen Arbeitnehmerinteressen wird auch nicht ohne Gegenbewegungen bleiben. Es werden sich neue Formen der Solidarität herausbilden. In den Veränderungen stecken positive Potentiale, die identifiziert und gezielt gestärkt werden müssen. Hier stellen sich eine Reihe wichtiger Fragen: Welches sind die neuen Formen der Kommunikation und Solidarität, die sich angesichts des gesellschaftlichen Wandels und des weiten Gebrauchs der IuK-Technologien ergeben? Tragen sie zur Emanzipation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei oder können sie auch zu neuen Formen der Entfremdung führen? Wie können sich die organisierten Interessenvertretungen der Arbeitnehmer, die Gewerkschaften, auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen? Wie können die größeren Freiheitsgrade für eigenständigere Lebensentwürfe genutzt werden? Sind die Menschen in erster Linie Kunden in einer immer stärker verfeinerten Waren- und Dienstleistungswelt, wie die neoliberale Ideologie suggerieren möchte, oder identifizieren sie sich als handelnde Subjekte, für die neben dem Arbeitsbereich Politik eine zentrale Rolle spielt? Können einzelne Gruppen, die sich in der Gesellschaft zu verschiedenen Projekten bilden, die Basis für eine politische Öffentlichkeit darstellen oder muss es weiterhin gesellschaftsweite Projekte geben? Wie lassen sich die bestehenden staatlichen Gesetze und Bestimmungen weiterentwickeln, damit sie den neuen Randbedingungen, den vielfältigen Teilöffentlichkeiten, den schnelleren Kommunikationsformen genügen können? Welche internationalen Regulierungen sind nötig, etwa im europäischen Rahmen, welche sind kontraproduktiv oder erhöhen in unvertretbarer Weise den bürokratischen Aufwand?


An diesen Fragen und an einer schlüssigen Zusammenführung der Antworten in einem politischen Konzept wird sich entscheiden, ob die Regel "Totgesagte leben länger" auch für die politische Linke gilt.

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