Als Marietta Slomka einmal nicht Recht hatte

Die Mitgliederbefragung der Sozialdemokraten zum Koalitionsvertrag mit CDU und CSU stieß im vergangenen Winter auf heftige Skepsis: Von Verletzung der Rechte der Abgeordneten und Missachtung des Wählerwillens war die Rede. Bei etwas vertiefter Betrachtung erweisen sich diese Einwände allesamt als gegenstandslos. Zentral ist die Einsicht, dass Mitgliederentscheide zur Belebung der Demokratie beitragen können

Fast ein Jahr nach der SPD-Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag ist es an der Zeit, dieses Schlüsselereignis Revue passieren zu lassen. Fast 370 000 Mitglieder der SPD (77,9 Prozent) gaben ihre Stimme ab und 76 Prozent sprachen sich dafür aus, den Koalitionsvertrag zu unterzeichnen. Das Experiment, die Parteibasis mitbestimmen zu lassen, ist geglückt. Die Abstimmung war ein großer Erfolg.

Karlsruhe ließ keine Zweifel

Inzwischen hat die Koalition die ersten wichtigen Anliegen des Koalitionsvertrags auf den Weg gebracht: Energiewende, Mindestlohn, Frauenquote oder Mietpreisbremse sind nur einige Schlaglichter. Nun denken auch andere Parteien vermehrt darüber nach, wie ihre Mitglieder besser in die Parteiarbeit eingebunden werden können. Grund genug also, die damalige Kritik an der SPD-Mitgliederbefragung erneut zu hinterfragen.

Der zentrale Vorwurf gegen das damalige Mitgliedervotum, der durch das von Marietta Slomka geführte Interview mit dem SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel weitläufig bekannt wurde, stützte sich auf die Annahme, dass eine Zustimmung der Parteibasis zum Koalitionsvertrag gegen Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verstoße, da die Abstimmung dem einzelnen Abgeordneten einen Auftrag erteile. Hierzu hat eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts am 6. Dezember 2013 kurz und knapp entschieden, eine Verletzung der Freiheit der Abgeordneten sei nicht ersichtlich. Ein Koalitionsvertrag sei unverbindlich und die Frage, ob die Partei einen Mitgliederentscheid durchführen lassen will, sei einzig eine Angelegenheit der innerparteilichen Willensbildung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mangels Entscheidungserheblichkeit gar nicht erst mit der Behauptung auseinandergesetzt, dass ein Mitgliederentscheid über einen Koalitionsvertrag rechtlich problematischer sei als ein Parteitagsbeschluss.

Dabei erscheint es zunächst durchaus einleuchtend, dass ein Koalitionsvertrag, dem die Mitglieder zugestimmt haben, für die Abgeordneten „bindender“ ist als ein „normaler“ Koalitionsvertrag. Mehr noch: Ist nach einem Mitgliederentscheid möglicherweise für jede Abweichung von den ursprünglichen Vereinbarungen eine erneute Erlaubnis der Parteibasis notwendig? Bei näherer Betrachtung bleibt indes von dieser stärkeren Bindung nichts übrig. Das hat im Wesentlichen drei Gründe.

Koalitionsverträge sind rechtlich unverbindlich

Erstens ist ein Koalitionsvertrag nach überwiegender Auffassung in der Rechtswissenschaft rechtlich unverbindlich und es macht keinen Unterschied, welches Parteigremium ihm zustimmt. Es wirkt gekünstelt, einen Koalitionsvertrag als ein nicht durchsetzbares, jedoch rechtsverbindliches Kon­strukt zu interpretieren. Auch wenn dieser Sachverhalt freilich nichts an der enormen politischen Bedeutung des Koalitionsvertrags ändert.

Hinzu kommt: Nur die Parteien sind Vertragspartner. Die Verhandlungen wurden von Parteivertretern geführt, die Parteien stimmten den Vereinbarungen zu, und der Koalitionsvertrag wurde von Parteien geschlossen. Schon allein deshalb binden diese Verträge nicht den einzelnen Abgeordneten. Er ist sowohl frei in seiner Entscheidung, wen er zum Bundeskanzler wählt, als auch frei in jeder einzelnen Abstimmung zu Sachfragen. Im Übrigen sind weder die Bundesregierung noch die Minister (die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch gar nicht ernannt sind) Vertragsparteien der Koalitionsvereinbarung. Eine rechtliche Bindung der Bundesregierung scheitert sowohl an der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin, als auch an der Ressortverantwortlichkeit der Minister. Würde man eine rechtliche Bindung von Abgeordneten und Bundesregierung annehmen, läge ein unzulässiger Vertrag zulasten Dritter vor.

Zweitens enthält der Mitgliederentscheid eine stillschweigende Zustimmung zu Änderungen des Koalitionsvertrages. Denn die Koalitionsvereinbarung sieht einen Koalitionsausschuss vor, der in Konflikt- und Streitfällen entscheiden soll. Solche Fälle können besonders bei Abweichungen vom Koalitionsvertrag oder bei Uneinigkeiten über die Auslegung einzelner Passagen entstehen.

Das dritte Argument gegen eine erneute Befassung der Basis bei jedweder Abweichung vom Koalitionsvertrag bietet die Satzung der SPD. Diese sieht vor, dass der Koalitionsvertrag durch einen nachfolgenden Parteitagsbeschluss abgeändert werden kann. Der Mitgliederentscheid tritt dem Organisationsstatut gemäß nur an die Stelle des Beschlusses eines Organs; es kommt ihm daher keine größere Haltbarkeit zu. Mitgliederentscheid und Parteitagsbeschluss sind äquivalent, und keiner ist legitimer als der andere. Der Mitgliederentscheid ist ein direktdemokratisches Instrument, dessen Vorteil die Unmittelbarkeit ist. Die repräsentativ-demokratisch legitimierte Entscheidung des Parteitages kann verschiedene Positionen in sich vereinen und Kompromisse zwischen vorgegebenen Alternativen enthalten, da nicht nur starr zwischen den Alternativen gewählt werden muss. Er ist mithin integrativer und flexibler, aber weniger unmittelbar. Ein Unterschied in der rechtlichen Legitimationskraft lässt sich daraus jedoch nicht herleiten.

Wenn beide Entscheidungen in gleichem Maße legitimiert sind, wird die jeweils jüngere angewendet – sofern in der Satzung nichts Abweichendes festgelegt ist.

Somit sind die Einwände gegen das SPD-Mitgliedervotum aus rechtlicher Sicht auch bei einer vertieften Betrachtung nicht stichhaltig. Dem Koalitionsvertrag kommt „nur“ eine hohe politische, aber keine rechtliche Verbindlichkeit zu.

Eine aufwändige Sache – aber aktivierend

Gegen den Mitgliederentscheid spricht ebenfalls nicht, dass rund 11 Millionen Deutsche der SPD bei der Bundestagswahl ihre Stimme gegeben haben, aber nur die rund 475 000 SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag entscheiden durften. Denn die Alternative zur Mitgliederbefragung wäre eine Entscheidung durch bestimmte Gremien der Partei gewesen. Wieso soll die Entscheidung aller Parteimitglieder weniger legitim sein als diejenige eines ausgewählten Delegiertenkreises der SPD? Vielmehr ist die Abstimmung ein gutes Beispiel dafür, dass den Bürgern in einer Partei Möglichkeiten der aktiven Teilhabe an der Politikgestaltung offen stehen, die über allgemeine Wahlen hinausgehen.

Ob eine Partei bei der internen Willensbildung einen Mitgliederentscheid durchführt, ist folglich allein politisch zu entscheiden. Es gilt, die vermeintlichen Nachteile eines Mitgliederentscheids gegen die Vorteile abzuwägen. Da der Mitgliederentscheid ein aktivierendes Instrument ist, das der Politikverdrossenheit entgegenwirkt, sollte die Entscheidung nicht allzu schwer fallen. Zweifellos eignet sich angesichts des logistischen Aufwands und der erforderlichen Zeit nicht jedes Thema für einen Mitgliederentscheid. Dennoch: Dieser bietet eine gute Gelegenheit, den eigenen Mitgliedern Entscheidungen zuzutrauen, ihnen zu vertrauen und so die Demokratie lebendig werden zu lassen. Diese Chance sollte nicht nur die deutsche Sozialdemokratie nutzen.

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