Alles schon besetzt!

Nein, echte materielle Armut ist es nicht, was akademische Berufsanfänger heute in Deutschland häufig erleben. Aber von prekärer Existenz darf man wohl sprechen. Ein Erlebnisbericht

An einem der letzten Novembertage des vergangenen Jahres betrete ich eine Filiale der Arbeitsagentur in Berlin – zum ersten Mal als “Arbeitssuchende”. Schon im August hat mich die Landesverwaltung darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich mindestens drei Monate vor dem Auslaufen meines befristeten Ausbildungsvertrages als arbeitssuchend melden müsse. Da war ich noch Referendarin im so genannten juristischen Vorbereitungsdienst.

Drei Tage nach der mündlichen Abschlussprüfung zum zweiten Staatsexamen und nach nur knapp drei Stunden Wartezeit in der Arbeitsagentur habe ich es geschafft: Ich gehöre zu den offiziell arbeitslos Gemeldeten unseres Landes. Da ich als Ex-Referendarin Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, bin ich in einer komfortableren Situation als viele andere junge Menschen, die nach dem Studium lange auf der Suche nach einem Job sind, ohne dabei Arbeitslosengeld zu beziehen. Mit allen Universitätsabsolventen habe ich aber gemein, dass wir, mit oder ohne Berufserfahrung, um wenige Stellenangebote für Berufsanfänger konkurrieren.

Den Juristen geht es ähnlich wie den Geistes-, Sozial- oder Wirtschaftswissenschaftlern: Immer öfter müssen jüngere Menschen auf schlecht oder gar nicht bezahlte Praktika ausweichen. Einige meiner ehemaligen Referendarkolleginnen und -kollegen, aber auch alte Bekannte aus der Studienzeit, darunter Politologen und Historiker, schreiben erstmal eine Doktorarbeit, machen einen MBA oder LLM und lassen sich zum Teil weiter von den Eltern finanzieren. Aber auch das ist kein Ausweg. Irgendwann müssen auch sie den Sprung in den Arbeitsmarkt schaffen. Und ob ein über dreißigjähriger “Dr.” dort größere Chancen hat, ist fraglich.

Hoch qualifiziert aufs Abstellgleis?

Kurzum: Die Situation für Architekten, Juristen, Werbefachleute und ihresgleichen sieht erdrückend aus. Endlich den Abschluss in der Tasche und dann die steile Karriere? – Pustekuchen! Vom “Anfang am Ende” schrieb Die Zeit. Spiegel-online wiederum titelte: “Hoch qualifiziert aufs Abstellgleis?” und fragte: “Haben wir bald die bestqualifizierten Taxifahrer und Bürohilfen?” Da stellen sich die Fragen, wie viele Zugeständnisse man als Berufsanfänger machen muss und wie viel Flexibilität erwartet werden kann. Schließlich gibt es doch heute schon massenhaft “Langzeit-Praktikanten”, die sich von einem Praktikum zum nächsten hangeln – Hauptsache, sie haben etwas zu tun, können “Erfahrungen” vorweisen und dürfen derweil auf die feste Anstellung hoffen.

Nun beschwören Experten die Trendwende herauf. Mittelfristig soll alles besser werden: Statt eines Überschusses steht uns ein Mangel an Akademikern ins Haus. Die heute Betroffenen tröstet das kaum. Hätte ich mit der “Juristenschwemme” rechnen müssen und besser ein Medizinstudium begonnen, als es noch einen Überfluss an Medizinern gab?

Noch im Jahr 2000 ist man bei einer Arbeitslosenquote von 2,6 Prozent sogar von Vollbeschäftigung bei Hochqualifizierten ausgegangen. Auch wenn noch heute Uni- und FH-Absolventen am Arbeitsmarkt generell deutlich bessere Chance haben als Erwerbspersonen mit mittlerem oder ohne Bildungsabschluss, so bietet der Arbeitsmarkt für Akademiker seit einiger Zeit ein trostloses Bild: Ob Betriebswirte oder Journalisten – viele schreiben über Monate hinweg Bewerbungen und werden nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Im Durchschnitt findet ein Uni-Absolvent erst nach 100 Bewerbungen und neun Monaten Wartezeit eine Anstellung.

Katja und Anna, Diplom-Betriebskauffrauen und beide 28 Jahre alt, sind nach ihrem Abschluss wieder bei ihren Eltern in Hamburg und Göttingen eingezogen. Anna hat sich über ein halbes Jahr hinweg ausschließlich damit beschäftigt, Bewerbungen zu schreiben. Seit fast einem Jahr arbeitet sie jetzt in einer Weingroßhandlung in der Nähe von Hamburg, hat eine eigene Wohnung und steht endlich auf eigenen Füßen. Ihre Hoffnung auf eine Festanstellung hat sich jedoch nicht erfüllt. Demnächst müsse sie wieder mit der Stellensuche beginnen, sagt sie. Katja hat sich ebenfalls ein halbes Jahr lang beworben und nebenbei noch im Café gearbeitet, um ihren Eltern nicht auf der Tasche zu liegen. Nun ist sie Trainee bei einer Schweizer Unterwäschefirma in Zürich. Frank hingegen ist desillusioniert. Nach dem Politikstudium und einem halbjährigen Praktikum bei einer NGO in London ist er nach Berlin gezogen in der Hoffnung, in der Hauptstadt “irgendwas im Dunstkreis des Bundestages” zu finden. Er kennt sich mit der Programmierung von Internetseiten aus, bekommt gelegentlich Aufträge und versucht sich so über Wasser zu halten. “Aber so kann es nicht weitergehen”, sagt er. Und dass er sich das anders vorgestellt habe, auch wenn ihn andere vor der schlechten Arbeitsmarktsituation in Berlin gewarnt hatten. “London ist verdammt teuer im Vergleich zu Berlin. Aber dort habe ich bessere Chancen”, sagt Frank. Nach fast zwei Jahren in Berlin will er erneut versuchen, in Großbritannien einen Job zu finden.

Bei den Briten scheint alles viel einfacher

Das Arbeitsamt bietet den Workshop “Applying for Jobs in Britain” an. Carol Herbert vom British Council leitet ihn. 15 Frauen und Männer um die 30 sind gekommen. Eine der Teilnehmenden bin ich. Carol sagt, jeder von uns müsse seine “unique selling proposition” hervorheben und ordentlich für sich selbst Werbung machen. Sie hat jede Menge Tipps und Hinweise, wo wir – vor allem übers Internet – Jobangebote abrufen können. Alles scheint viel unkomplizierter zu sein, wenn man sich in Großbritannien bewirbt. In der Regel werde nicht mehr erwartet als ein Anschreiben und ein aussagekräftiger Lebenslauf – ohne Foto. Beides schickt man per E-Mail. Eine Einladung zum Vorstellungsgespräch kann dann sehr schnell folgen, oder aber man erhält gar keine Antwort. Immerhin gibt es viele offene Stellen.

Sicherlich ist es ganz prima zu wissen, dass man sich problemlos auf verschiedene Jobs in London, Budapest oder Brüssel bewerben kann. Aber bestehtder Sinn einer Hochschulausbildung in Deutschland darin, im Ausland zu arbeiten. Eltern und Steuerzahler investieren jahrelang in unsere Ausbildung, damit wir dann resigniert dem deutschen Arbeitsmarkt den Rücken kehren? Und das, obwohl hierzulande nur ein Drittel der Jugendlichen eines Jahrgangs die Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt, während der Mittelwert im internationalen Vergleich bei über 50 Prozent liegt? Der Anteil der Studienanfänger in der Bundesrepublik ist folglich relativ gering.

Wenn Rechtsanwälte im Call-Center arbeiten

Eine typische Nachexamenskarriere ist die eines ehemaligen Referendar-Kollegen, der in der Küche eines Cafés arbeitet, weil es lange dauern kann, bis er sich als Rechtsanwalt einen ausreichend großen Mandantenstamm geschaffen hat. Ein anderer hat sich den eigenen Lebensunterhalt zu Beginn seiner Selbständigkeit als Rechtsanwalt mit der Arbeit in einem Call-Center verdient.

Vielleicht wäre das für den Übergang auch etwas für mich, denke ich mir. Ich melde mich bei einem Call-Center, und schon am nächsten Tag finde ich im Briefkasten die Einladung zu einer “Bewerberinformationsveranstaltung”. Wir sind etwa 50 Personen im Alter von 20 bis 65 Jahren und werden von einem Mann begrüßt, der sich als ehemaliger Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes vorstellt. Er hat alles drauf, was eine Verkäufernatur braucht: aufgesetzten Optimismus und dumme Witzchen. “Was meinen Sie, wie Berlin dasteht? – Richtig: In Berlin sieht es am schlechtesten aus. Jeder Zweite ein Sozialhilfeempfänger. Aber wir schaffen Arbeitsplätze, und zwar unbefristete Stellen – und das auch für Leute zwischen 40 und 65, die sonst gar keine Chance mehr haben.”

Nicht schlecht, in der Tat. Die Verdienstmöglichkeiten lägen zwischen 5 und 15 Euro pro Stunde, je nach Leistung. Das sei nicht so wie im Europaparlament, wo man sich am Montag in eine Liste eintrage und sich dann einen schönen Rest der Woche mache, haha! Jeder habe die Möglichkeit, innerhalb eines halben Jahres bis ins Management aufzusteigen. Nur als Nebenverdienst für Arbeitslose, die ihren Arbeitslosengeldanspruch nicht verlieren wollen, eignet sich der Job nicht. Bei einer Arbeitszeit von 14,75 Stunden pro Woche – mehr darf man als Arbeitslose nicht und weniger will das Call-Center nicht – bleiben gerade 165 Euro übrig. Außerdem frage ich mich, wie viele Bewerber das Call-Center nach der einen Woche Training, in der sie sich schon mal richtig und – natürlich – unbezahlt am Telefon erproben sollen, tatsächlich einstellen wird.

Inzwischen habe ich Aussicht auf eine befristete Anstellung. Wenn es gut geht, werde ich eine gute Portion Glück gehabt haben. Glück und Zuversicht gehören natürlich immer dazu. Wo kämen wir auch hin, wenn wir, bevor es richtig losgeht, das Handtuch werfen würden? Eben.

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