Alles Hoyzer oder was?

Unsere Gesellschaft funktioniert nicht ohne Systemvertrauen. Das macht die Schiri-Affäre so einschneidend: Sie erschüttert das Vertrauen in eine Institution, die doch gerade Vertrauen schaffen soll. Warum wir dennoch mehr Skandale brauchen

Schon lange stehen Politiker in Kommunen unter dem Generalverdacht, den Bau ihrer Einrichtungen mit Hilfe von Schmiergeldern betrieben zu haben. Namen wie Leuna, Holzer, Schreiber, Kiep, Weyrauch, Rüther, Hunzinger und Trienekens haben sich längst zu Synonymen, wenn nicht für Korruption, so doch für infektiöses Vitamin B verdichtet.

Sind noch vor kurzem Meyer, Arentz, Viereck & Co. als Selbstbediener der Nation in aller Munde gewesen, ist es jetzt die wichtigste Nebensache der Welt, der Fußball. Bei den Politikern heißt es, sie hätten nichts Unrechtes getan, nur ihren Einfluss verkauft und damit die politische Moral verletzt. Mit dem Fall Hoyzer, der bei den “Unparteiischen” nicht nur Einzelfälle des Betrugs, sondern mafiose Strukturen vermuten lässt, erreicht die Korruptionskarawane einen neuen Höhepunkt. Auch wenn damit nicht die Menschheit, sondern das System unter Korruptionsverdacht gestellt wird. Hatte der alte Cicero vielleicht doch Recht, wenn er behauptete: “Keine Festung ist so stark, dass Geld sie nicht einnehmen kann.” Alles nur die Spitze eines riesigen Eisbergs?

Der gemeinsame Nenner der Korruptions- und Selbstbedienungsfälle der jüngsten Zeit ist das Prinzip “Wer gut schmiert, fährt gut”. Es hat sich nicht nur im Rheinischen Kapitalismus bewährt. Es wird in weiten Teilen der Welt offen praktiziert und besticht durch seine tiefschürfende Einsicht und praktische Tragweite.

Freilich kann keine Gesellschaft ohne den gemeinschaftlichen Unterbau von Vereinen, Nachbarschaften und Freundeskreisen auskommen. Er ist das Schmiermittel der Zivilgesellschaft, die wir alle wollen, und der Leistungsgesellschaft, die wir ständig predigen – und untergraben. Dieses soziale Kapital braucht jede gesellschaftliche Organisation in der Form von Vertrauen und Netzwerken. Es ermöglicht die Kooperation zum gegenseitigen Nutzen von Individuen und Institutionen und kommt vordergründig als “Beziehungen” zwischen den verschiedenen Positionsinhabern zum Tragen. Auf der Ebene der Organisationen wirkt es in Geschäftsbeziehungen, auf der der Gesellschaft als moralischer Kitt zwischen den Individuen.

Die “Beziehungen” der kroatischen Brüder

In “Beziehungen”, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen, investiert jeder, der kann, Zeit und Geld, sei es durch Einladungen, sei es durch kleine Geschenke, die bekanntlich die Freundschaft erhalten. Geschenke sind zwar in allen Gesellschaften anzutreffen, und Schenken gilt als soziale Kunst. Und doch haben verpflichtende Gaben – und sei es nur ein irrtümlich bezahltes Gehalt nach RWE-Manier – schon immer gefesselt, blind gemacht, den Mund verschlossen und Handlungen festgelegt.

Kontakte werden häufig erst ermöglicht durch Nachbarschaften, Verbindungen aus Studienzeiten, die Mitgliedschaft im Karnevalsverein, Fußball- und Golfclub, die Baden-Badener Unternehmergespräche, Lions oder Rotary. Sie lassen weitere Kontakte zu “Beziehungen” gedeihen. So sollen auch die kroatischen Brüder, die man als Drahtzieher hinter den jüngsten Wett- und Spielmanipulationen vermutet, einem Berliner Fußball-Klub angehören und zu Spielern und Schiedsrichtern engen Kontakt gehabt haben.

Das Problem der jüngsten Bestechungsaffären – und aller zukünftigen – liegt darin, dass Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft, Sport und Geld im Spannungsfeld von Sinngebung und Korruption stattfinden und diese Grenzen fließend sind. Die Wirksamkeit von sozialem Kapital ist zwar allgemein bekannt. Der wahre Charakter dieser “Beziehungen” wird aber geleugnet, indem er durch Geschenke ritualisiert und durch Schweigen tabuisiert wird. Auch deshalb herrschen in einer korporatistisch verfassten Gesellschaft wie der deutschen Seilschaften, Lobbytum und Kartelle mit gutem Gewissen.

Schmieren oder Pleite gehen

Diese Affären haben sich auch nicht erst in den letzten Jahren zu einem Korruptionskarussell gemausert. Längst hat sich in der Bauwirtschaft die Maxime “Schmieren oder Pleite gehen” in einen regelrechten Bestechungs- und Absprachewettlauf um öffentliche Aufträge verwandelt. Es ist noch nicht lange her, da waren Bestechungsgelder für Auslandsaufträge steuerlich absetzbar. Wen wundert es, dass sich der Anteil der Schattenwirtschaft am deutschen Bruttosozialprodukt kontinuierlich zu einem Sechstel emporgeschraubt hat? Auch der weltweite Wetteinsatz der Deutschen erreicht inzwischen pro Jahr astronomische Summen, wenn man einer Studie von Merryll Lynch Glauben schenken darf. Wahrlich ein Spielfeld, auf dem sich Geld verdienen lässt, wie man in den sich rapide vermehrenden legalen und illegalen Wettbüros längst erkannt hat.

“Beziehungen” nehmen aber in der individualisierten Gesellschaft an Bedeutung zu, denn der Orientierungsverlust von traditionellen Institutionen wie Familie, Kirche, Partei und sozialer Schicht hat deren Potenzial an gesponserter Mobilität beträchtlich reduziert. So erweist sich eine neue Art von sozialem Kapital als besonders wirksam: der Nutzen entfernter Bekannter, der in der Stärke der schwachen Beziehungen liegt. Es geht längst nicht mehr um Freundschaft, sondern um Profit. Und “Vitamin B” ist schon lange nicht mehr nur eine “Kletterhilfe für Aufsteiger”.

“Beziehungen” und unerklärte Nebeneinkünfte sind mitnichten mit Korruption gleichzusetzen, so wenig wie Korruption als gesellschaftlicher Kollateralschaden zu betrachten ist. Nicht der Nebenjob des Politikers oder der Freundeskreis des Schiedsrichters ist das Problem. Das Problem ist der Tausch von Geld gegen Einfluss und das untergrabene Vertrauen. Unter dem Deckmantel der Sozialpartnerschaft buhlen Lobbyisten um die Gunst des Staates, der über seine Gesetzesmaschinerie und den Einfluss der Parteien fast alle Lebensbereiche durchwaltet.

Es sind nicht nur Staat und Politiker, die sich die Hände schmutzig machen, weil sie sie überall hineinstecken. Ex-Spitzenmanager bevölkern die Konzern-Aufsichtsräte des Landes, lassen Selbstbedienung zu und verhalten sich wie Kartellbrüder. Vielleicht schreit demnächst beim Media Markt ein Schiedsrichter: “Ich bin doch nicht blöd!”

Warum Systemvertrauen entscheidend ist

Dort, wo Nepotismus und Kungelei ins Kraut schießen, kann sich Vertrauen in Systeme nur schwer entwickeln. In einer komplexen Gesellschaft ist aber Systemvertrauen – nicht Vertrautheit wie früher – entscheidend. Auch das Vertrauen ins System bedarf der Absicherung über Einrichtungen wie Tarifverträge, Medien, Stiftung Warentest, Schufa, den Grünen Punkt, Justiz und Schiedsrichter – oder den Skandal.

In der Stabilisierung von politischem Vertrauen spielt der Skandal als funktionierendes Misstrauen und Mechanismus der Enttäuschungsabwicklung eine wichtige Rolle. Das gilt für die kaum aufgeklärte Leuna-Affäre ebenso wie für die “brutalst mögliche Aufklärung” vergangener Spendenaffären, die jüngsten “politischen Pressings” oder die manipulierten Fußballspiele. Skandale bestätigen Vertrauen, weil Vertrauen immer riskant ist und daher Misstrauen erfordert. Letztlich ist Vertrauen nur berechtigt, weil Institutionen des Misstrauens wie Medien und Justiz funktionieren, indem sie Verfehlungen aufdecken.

Die Hoyzer-Affäre ist deshalb so einschneidend, weil sie das Vertrauen in eine unparteiische Institution, nämlich des Schiedsrichters, deren Aufgabe eben die Vertrauenssicherung ist, erschüttert und damit nicht nur den ganzen Spielbetrieb in Verruf bringt. Bald wird der Ruf lauter werden nach der Überprüfung der Schiedsrichter, der Akkreditierungsbüros, der Ranking-Produzenten, ja der Nobelpreiskomitees, denn auch von dort hört man immer wieder Klagen über ungebetene – oder doch willkommene? – Einflüsse von außen. Vorläufig bleibt nur ein Trost: Je mehr Skandale, auch Korruptionsskandale, desto besser!

Gesetzliche Regelungen wie das schon oft geforderte Anti-Korruptions-Register und andere Besserungsvorschläge reduzieren die Gelegenheiten der “Diebe” bestenfalls vorübergehend. Das prekäre Gleichgewicht zwischen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen unter den Menschen schaffen sie nicht aus der Welt. Ist die Entblößung des berüchtigten Eisbergs nur eine Frage der Zeit – oder der Definition? Entpuppt sich die moralische Entrüstung als Heiligenschein der Scheinheiligen? Vielleicht nach dem Motto: “Fischer schließt Plutoniumfabrik, Schröder verkauft sie.”

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