Afghanistan: Den Krieg erklären

Gefährlicher als der Afghanistankrieg wäre es, sich nicht an ihm zu beteiligen. Stefan Kornelius legt dar, warum Deutschland ihn so falsch führt

Die Bundeswehr verteilt an ihre Soldaten in Afghanistan ein anschauliches kleines Büchlein, das die wichtigsten Einsatzregeln erklärt. Jeder soll wissen, wie er sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat. Genau beschrieben sind etwa die Vorschriften im Falle von Notwehr: Ab wann dürfen die Soldaten zurückschießen? Wie weit dürfen sie Angreifer verfolgen? Kurze Hintergrundinformationen über das Ziel des Einsatzes liefert das Buch ebenfalls.


Wahrscheinlich haben nicht viele Bundestagsabgeordnete, die das Mandat der Parlamentsarmee seit 2001 jährlich verlängern, diesen „Kompass“ gelesen. Nach Ansicht von Stefan Kornelius, Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, fehlt vielen von ihnen bei der Vermittlung des Einsatzes gegenüber den Medien die Orientierung. In seinem drei Monate vor der Wahl veröffentlichten Essay Der unerklärte Krieg wirft er Bundestagsabgeordneten wie Militärs eine frappierende Zögerlichkeit vor. Schlimmer noch: Die Beiträge zur Afghanistandebatte seien oft unehrlich.


Kornelius liefert eine auf das Wesentliche reduzierte Bestandsaufnahme des Einsatzes. Bundesregierung und Bundestag seien damit gescheitert, der deutschen Öffentlichkeit klar zu machen, warum die Mission nötig ist. Die Mehrheit der Bevölkerung ist längst nicht mehr davon überzeugt, dass in Afghanistan die eigene Sicherheit verteidigt wird. Ein Militäreinsatz, bei dem kaum Erfolge vermeldet werden, scheint kein adäquates Mittel zur Gefahrenabwehr zu sein. Schließlich können Anschläge auch in Hamburger Wohnungen oder in Flugschulen in Florida geplant werden. An dieser Stelle zeigt sich: Demokratische Regierungen müssen ihren Bürgen die Ursachen, die Ziele und den Verlauf der asymmetrischen Kriege des 21. Jahrhunderts erklären. Sonst droht ihnen die Gefolgschaft versagt zu werden.

Sehr treffend zeichnet Stefan Kornelius die Symptome des deutschen Selbstbetrugs nach. Sie haben sich in einem Krieg, der nicht Krieg heißen darf, „zu einem Knäuel von Widersprüchen, politischen Halbwahrheiten und militärischem Unfug verdichtet“. Die Weichen dafür wurden nach dem 11. September 2001 mit der unklaren Trennung zwischen den beiden Mandaten ISAF und OEF gelegt. ISAF galt in der Öffentlichkeit als ein „sanfter“, der Friedenssicherung und dem Aufbau dienender Einsatz, während OEF als der hemdsärmlige Kampfeinsatz dargestellt wurde, der oft weit über das Ziel hinausschoss.


Die Aufgabenteilung erleichterte diese Wahrnehmung, da im ruhigeren Norden die deutsche Lesart des Mandats und die Lage vor Ort halbwegs miteinander im Einklang standen. Wie weltfremd diese Trennung jedoch ist, zeigte nicht zuletzt die Debatte um die Tornados. Der Einsatz der – beim amerikanischen Drohnennetz ohnehin überflüssigen – Aufklärungsflieger wurde unter der Bedingung genehmigt, dass die Bilder nur im Rahmen von ISAF verwendet werden dürfen. Dass die anderen Länder der Koalition eine realitätsnähere Auslegung haben und ISAF-Material sehr wohl für OEF-Operationen nutzen, störte da nicht viel. Hauptsache, man hatte sich an die selbst auferlegten Regeln gehalten.

ISAF steht für „I saw Americans fighting“

Wo das Wunschdenken gar zu sehr im Widerspruch zur Wirklichkeit stand, passte man sich mit Sonderregelungen an. Diese so genannten Caveats schränken die Bundeswehr nahezu bis zur Handlungsunfähigkeit ein. Es mag noch sinnvoll sein, Beteiligungen an Offensivoperationen auszuschließen. Wie aber soll ernsthaft agiert werden, wenn Hubschrauber nach Einbruch der Dunkelheit nicht fliegen dürfen oder die aktive Suche und Vertreibung von Aufständischen, beispielsweise mittels der gezielten Durchsuchung von Häusern, verboten ist? Um den militärischen und politischen Ärger möglichst klein zu halten, dürfen die Deutschen nur reagieren. In den amerikanischen Kasernen wird gespottet, für die Deutschen bedeute die Abkürzung ISAF „I saw Americans fighting“.

Ähnlich desaströs ist das Bild, das Kornelius vom Polizeiaufbau skizziert. Das deutsche Konzept ignoriere die örtlichen Gegebenheiten: Dass die Polizei in dem kriegsgebeutelten Land seit Jahrzehnten Inbegriff von Korruption und Willkür ist. Dass die Milizen, aus denen Anwärter rekrutiert werden, das Rückrat des Opiumhandels bilden. Und dass die meisten angehenden Polizisten Analphabeten sind. Sie können die Gesetze, deren Einhaltung sie überwachen sollen, gar nicht lesen. Im Ergebnis bleibt, wie einer der besten Kenner der Region, Ahmed Rashid, feststellte, „eine erbärmliche, geradezu nutzlose Leistung“ der deutschen Ausbilder. Auch der Versuch, die Polizeimission zu europäisieren, wurde vor zwei Jahren zum Fiasko. Unter den gegebenen Umständen fanden sich schlicht nicht genug europäische Ausbilder.

Doch ebenso eindeutig wie die Kritik an der politischen Führung des Einsatzes fällt sein Plädoyer dafür aus, ihn nicht misslingen zu lassen. Zu groß ist das Gefahrenpotenzial, das von der Region ausgeht. Siegen die Taliban in Afghanistan, könnten sie auch in Pakistan gewinnen. Fundamentalisten aus der „Af-Pak“-Region, die Destabilisierungsanschläge in Indien ausüben, sind ein Horrorszenario. Bereits bei den Anschlägen in Mumbai hätte es einen Vergeltungsschlag der Atommacht geben können. Wiederholen sich solche Attacken, droht ein Flächenbrand, der die Region ins Chaos stürzt. Die Nato-Partner und auch die Bundestagsabgeordneten werden sich dann fragen müssen, ob sie im Vorfeld genug getan haben, um dies zu verhindern.

Warum dieser Krieg nicht verloren werden darf

Deshalb fordert Kornelius von den deutschen Entscheidungsträgern eine „strategische Generalinventur“ nach amerikanischem Vorbild. Barack Obama hat die Bedeutung des Einsatzes richtig erkannt. Nach der Heuchelei der Vorgängerregierung, die sich viel zu hastig dem Irak zuwandte, räumen die Vereinigten Staaten Afghanistan endlich eine hohe Priorität ein. Deutschland dürfe diese Gelegenheit nicht verpassen. Wenn es vielleicht nicht wie Amerika die Zahl der Soldaten erhöhen werde – die neue Regierung müsse wesentlich besser erklären, warum dieser Krieg nicht verloren werden darf. Gut möglich, dass Kornelius die historisch begründete Skepsis in Deutschland gegenüber allem Militärischen nicht genug gewichtet. Das Argument, es sei äußerst gefährlich, sich vorzeitig aus einem instabilen Afghanistan zurückzuziehen, wird dadurch nicht schwächer.

Der Plan, das brisante Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten, ging schief. Und die schwarz-gelbe Regierung wurde von ihm wohl schneller eingeholt, als Angela Merkel gedacht hatte. Ironischerweise nicht wegen eines geglückten Anschlags der Taliban, sondern wegen eines gründlich missglückten deutschen Angriffs. Klar ist zweierlei: Deutschland wird sich vor 2013 nicht ohne erheblichen Schaden aus Afghanistan zurückziehen können. Und die Fragen, die im Wahlkampf weitgehend verdrängt wurden, können beim nächsten Mal nicht unbeantwortet gelassen werden. Schon um Handlungsspielräume zu erhalten, muss die Debatte dringend geführt werden. Stefan Kornelius hat dazu mit seinen knapp 100 kompakten Seiten einen sehr guten Beitrag geliefert. 


Stefan Kornelius, Der unerklärte Krieg: Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan, Hamburg: Edition Körber Stiftung 2009, 100 Seiten

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