Adieu Grundeinkommen

Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle erfreut sich großer Popularität. Zukunftsweisend macht sie das noch nicht. Aber wer diese wilde Vision ablehnt, muss erst recht eigene Wege gegen Armut und Ausgrenzung vorweisen können

In der Berliner Republik 3/2007 zieht der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider mit einem schneidigen Aufsatz gegen die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens im Allgemeinen und gegen deren Auslegung durch Thüringens Ministerpräsidenten Dieter Althaus im Besonderen zu Felde. Das Bild, das Schneider malt, zielt offenkundig darauf ab, den stark in Mitleidenschaft gezogenen Glauben an die sozialpolitische Orientierungskraft der deutschen Sozialdemokratie wieder zu festigen. Denn nach Schneiders Beschreibung erscheint die SPD als die einzige Partei, die von dem Virus einer modischen sozialpolitischen Diskussion über das Grundeinkommen nicht befallen ist, der sich sonst überall eingenistet habe – bei den Grünen, bei den Postkommunisten und sogar bei ganz gewöhnlichen Christdemokraten.

 

Carsten Schneider irrt, nicht nur in einer Hinsicht: Erstens hilft es wenig, eine „falsche Idee“ nicht zu haben. Und zweitens haben inzwischen die ersten SPD-Kreisverbände Parteitagsanträge für ein bedingungsloses Grundeinkommen verabschiedet, wie in den Internet-Foren der Grundeinkommens-Gemeinde triumphierend berichtet wird. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass ihnen oder der sich in anderen Kreisen vermehrenden Gefolgschaft des Grundeinkommens mit Schneiders Argumentation wirklich beizukommen ist.

 

Im Wesentlichen arbeitet sich Carsten Schneider an dem Bürgergeld-Modell von Dieter Althaus ab. Vielen seiner konkreten Kritikpunkte kann ich zustimmen. Althaus’ Konzept ist ein Vorschlag für weniger soziale Gerechtigkeit. Doch wer Althaus auseinander nimmt, hat die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen noch nicht gewonnen, sondern höchstens begonnen. Der Vorschlag des Thüringer Ministerpräsidenten, an dem der durchaus kundige Sozialwissenschaftler Michael Opielka mitgearbeitet hat, wird auch unter Bürgergeld-Fans sehr kontrovers diskutiert und von vielen, gerade linken Anhängern des Grundeinkommens entschieden abgelehnt – ohne dass sie damit die ganze Idee aufgeben.

 

Die Mission des Anthroposophen

 

Auch das wohl bekannteste Konzept weisen viele Verfechter des Grundeinkommens zurück: das Modell des Unternehmers und Anthroposophen Götz Werner, den die konservative Presse hofiert und der im Rahmen seiner Mission ganze Kirchen füllt. In der Diskussion, die etwa die Grüne Jugend oder Teile der Linkspartei führen, wird hingegen betont, man wolle den Sozialstaat keineswegs kappen, sondern ihm eine neue Basis verschaffen. All diese unterschiedlichen Ansätze kann man nicht über einen Kamm scheren.

 

Die Diskussion über das Grundeinkommen ist viel umfassender, differenzierter und ernster, als Carsten Schneider offenbar zur Kenntnis nehmen möchte. Die gesamte Vielfalt der Debatte breiten etwa Philippe Van Parijs und Yannick Vanderborght in ihrem Buch Ein Grundeinkommen für alle? (2005) aus. Im Nachwort beschreibt Claus Offe sehr treffend die Verheißung, die die gegenwärtige Konjunktur der Grundeinkommensidee erklärt: Das Grundeinkommen sei geeignet, die drei wichtigsten Nachteile „kapitalistischer Arbeitsvertragsgesellschaften“ zu überwinden, nämlich Armut, Arbeitslosigkeit und Autonomieverlust.

 

Nach meiner Überzeugung kann das bedingungslose Grundeinkommen dieses Versprechen nicht halten. Aber je mehr Menschen in unserem Land zu der Auffassung gelangen, die derzeitigen arbeitsmarktpolitischen Antworten auf die drei genannten Übel könnten nicht das letzte Wort sozialer Politik sein, desto mehr Hoffnung wird auf das Grundeinkommen gesetzt werden. Die Saat der Missionare des Grundeinkommens wächst auf dem Boden von Hartz IV.

 

Es ist vor allem die verbreitete Enttäuschung über die Ergebnisse der Hartz-Reformen, die der Grundeinkommensidee, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, zum derzeitigen Zulauf verhilft. Zwar geht der aktuelle Aufschwung am Arbeitsmarkt auch auf die Reformen zurück, ohne die das derzeitige Wachstum weniger beschäftigungswirksam wäre (und es ist erstaunlich, dass die meisten Sozialdemokraten tatenlos zusehen, wie die Kanzlerin und die Union die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt für sich reklamieren). Aber klar ist auch, dass Armut, Ausgrenzung und Autonomieverlust zugenommen haben und dass die Würde der Arbeitenden und der Arbeitslosen heute häufiger unter die Räder kommt als im Rahmen der sozialstaatlichen Standards der Vergangenheit.

 

Die schwer erträglichen Verhältnisse

 

Wenn der so offen, stolz und herausfordernd als „revolutionär“ bezeichnete Vorschlag für ein Grundeinkommen im sonst so konservativen Deutschland auf so große Resonanz stößt, lässt sich das nur damit erklären, dass viele Menschen die derzeitigen Verhältnisse für schwer erträglich halten. In solch einer Situation ist politisch mit einer noch so schlüssigen Widerlegung der Idee nicht wirklich etwas zu erreichen. Stattdessen muss eine eigene Vision entwickelt werden. Wir brauchen ein Konzept, das nicht vage irgendeine komplett erneuerte Sozialstaatlichkeit am Horizont verspricht, sondern konkrete Schritte beschreibt, mit denen Armut, Ausgrenzung und Autonomieverlust überwunden werden können.

 

Den Ausgangspunkt dieser Neubestimmung muss eine nüchterne Bestandsaufnahme der Arbeitsmarktpolitik sein. Welche Ziele wurden mit den Arbeitsmarktreformen verfolgt? Welche Ergebnisse sind zu beobachten? Für uns Grüne war die bedarfsorientierte soziale Grundsicherung, die das sozio-kulturelle Existenzminimum sichert, der Leitstern unserer Arbeitsmarktpolitik. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe haben wir als einen Schritt in Richtung einer solchen sozialen Grundsicherung betrieben. Dabei hatten wir Grüne vor allem drei Ziele: Wir wollten einen diskriminierungsfreien Zugang zu einer armutsfesten Grundsicherung schaffen, Sozialhilfeempfänger vom arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis holen sowie verdeckte Armut aufdecken und abbauen. Die Bilanz von Hartz IV fällt mehr als zwei Jahre nach der Reform sehr gemischt aus.

 

Im Februar 2007 haben wir eine Evaluierung von Hartz IV vorgenommen, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann. Der von links außen verbreiteten Demagogie, Hartz IV sei „Armut per Gesetz“, trete ich jedoch auch heute entgegen. Gerade die Lage derjenigen hat sich verbessert, die vor der Reform die schlechtesten Aussichten hatten. Die systematische Einbeziehung von Hilfsangeboten wie die Schuldner- und Drogenberatung sowie die Vermittlung von Kinderbetreuung in die Aktivierungsarbeit haben sich als sinnvolle Ansätze erwiesen. Hier bietet das Gesetz gute Möglichkeiten, die noch nicht ausgeschöpft werden.

 

Zumutungen und Schikanen

 

Tatsache ist aber auch, dass bestimmte Elemente von Anfang an untauglich waren. So hat die verschärfte Anrechnung des Partnereinkommens die Situation von Frauen verschlechtert. Zudem wurde das Altersvorsorgevermögen zu knapp bemessen. Fatale Konsequenzen hatte die Weigerung des Bundesrates, die Zumutbarkeit einer vermittelten Arbeit wenigstens an das ortsübliche Lohnniveau zu binden.

 

Hinzu kommen die Zumutungen des Vollzugs: Der ausdrückliche Auftrag, die Arbeitssuchenden zu fördern, wird völlig unzureichend ausgeführt; Integrationsmaßnahmen und Qualifizierung erfahren nur mangelhafte Unterstützung. In den meisten Landkreisen steht bürokratisches Verwaltungshandeln im Mittelpunkt der täglichen Arbeit der Fallmanager. Allzu oft ist das Instrument der Arbeitsgelegenheiten missbraucht worden, während ein verlässliches Segment sozialer Beschäftigung für Langzeiterwerbslose erst noch geschaffen werden muss. Die Regelung der Kosten der Unterkunft führt zu endlosen bürokratischen Schikanen.

 

Eine besonders bemerkenswerte bürokratische Absurdität besteht darin, dass die Vermittlung von Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt den dauerhaften Verwaltungsaufwand sogar steigert, wenn diese Personen ein ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten. Der Regelsatz reicht nicht aus, Armut verlässlich zu verhindern. Mehrbedarfe von Kindern und Jugendlichen werden nicht angemessen berücksichtigt. Ein zusätzliches Problem ist die mangelnde Dezentralisierung im Sozialgesetzbuch II. Die Balance zwischen Fördern und Fordern ist durch Verschärfungen beim Fordern, die die Große Koalition eingeführt hat, gänzlich in eine Schieflage geraten.

 

Was dennoch richtig bleibt an Hartz IV

Die Hartz-Reformen befänden sich in einem großen Dilemma, wenn die positiven Effekte wie die sinkende Arbeitslosigkeit unauflöslich mit all diesen negativen Erscheinungen verknüpft wären. Wer das glaubt, sollte einmal bei einer Arbeitsgemeinschaft nachfragen – dort kann man durchaus das Gegenteil erfahren. Es sind keineswegs die besonders schikanösen Elemente von Hartz IV, die auf dem Arbeitsmarkt wirken. Zu verteidigen ist die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die zeitliche Begrenzung des Arbeitslosengeldes I, die bessere Förderung der Menschen während des Bezugs von Arbeitslosengeld I sowie die Aufhebung des Berufsprinzips, das in der früheren Arbeitslosenhilfe galt. Vieles andere kann und sollte man ändern.

 

Man sieht dem Produkt an, dass bei der Hartz-Reform höchst unterschiedlich gepolte Kräfte zusammengewirkt haben. Vor allem ist es nicht gelungen, den Respekt vor der Würde der Arbeitenden und Arbeitslosen zur verlässlichen Richtschnur des Gesetzes zu machen. Viele Menschen spüren und erleben das. Sie werden nicht aufhören, dagegen zu rebellieren. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, können wir gegen die verschiedenen sozialpolitischen Projektemacher, Demagogen und Illusionskünstler nichts ausrichten, die mit ihrer Proselytenwerbung genau an diesem Punkt ansetzen.

 

Autonomer! Effizienter! Effektiver!

 

Um Strahlkraft zu entwickeln, muss eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und deshalb dem sozio-kulturellen Existenzminimum entsprechen. Je nach Berechnungsmethode ergeben sich daraus unterschiedliche Regelsätze zwischen 390 und 460 Euro. Darunter darf die Leistung nicht liegen. Zudem sollte die Grundsicherung entbürokratisiert werden. Wie oft und wozu muss eigentlich ein 50-jähriger Langzeitarbeitsloser nachweisen, dass er einem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, der ihm nichts zu bieten hat? Es ist richtig, dass Leistungsempfängerinnen und -empfänger bereit sein sollten, „der Gesellschaft etwas zurück zu geben“. Doch diese Bereitschaft ist nicht identisch mit Arbeitszwang oder der Pflicht zu sinnloser Beschäftigung. Sie kann unterschiedliche Formen haben und reicht von der normalen versicherungspflichtigen Beschäftigung bis hin zum bürgerschaftlichen Engagement. Es sollte Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Alternativen geben, und die Selbstsuche und Selbstorganisation muss Vorrang haben vor „Zuweisung“. Darüber hinaus müssen die Arbeitsgemeinschaften vor Ort bessere Handlungsmöglichkeiten bekommen. Eine konsequente Dezentralisierung ist nötig, frei nach dem Motto: autonomer, effizienter, effektiver!

 

Ferner müssen wir Kinder, Jugendliche und Frauen besser absichern. Ziel bleibt es, Frauen von „abgeleiteten Wesen“ zu eigenständigen Bürgerinnen mit eigener sozialer Absicherung und eigenständigen Ansprüchen zu machen. Zudem fordern wir ein individuelles Altersvorsorgekonto, in dem die Bürger 3.000 Euro pro Jahr zurücklegen können. Der angesparte Betrag soll beim Bezug von Sozialleistungen eingefroren werden und bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit unberücksichtigt bleiben. Der Kinderzuschlag, der verhindern soll, dass Familien aufgrund der Mehrausgaben für Kinder in Hartz IV abrutschen, hat sein Ziel bisher nicht erreicht. Die Förderbedingungen sind zu restriktiv und sollten daher erweitert werden.

 

Ein solches Konzept einer Grundsicherung wird allerdings nur dann durchsetzbar sein, wenn wir gleichzeitig die Lage von Beschäftigten mit niedrigem Einkommen verbessern. Denn eine Grundsicherung bleibt Illusion, wenn sie einem Kombilohn mit breiter Wirkung gleichkommt und dadurch extrem hohe Kosten verursacht. Eine Strategie zur Verbesserung der Grundsicherung muss daher den Kampf für Mindestlohnregelungen ebenso einschließen wie das so genannte Progressivmodell der Grünen, welches die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitnehmer und die Arbeitgeber im Einkommensbereich bis 2000 Euro beinhaltet. Je geringer das Einkommen, desto geringer der Sozialabgabensatz. Die Minijobs sollten in diesem Modell aufgehen.

 

Gegen Bildungsarmut hilft kein Geldtransfer

 

Der von der SPD vorgeschlagene „Bonus für Arbeit“, bei dem einseitig die Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener sinken sollen, ist diesem Modell unterlegen. Im Bereich einfacher Dienstleistungen würde der „Bonus für Arbeit“ keine neue Beschäftigung schaffen.

 

Neben der sozialen Grundsicherung und den Verbesserungen für Niedrigverdiener gehört eine dritte Säule zur Existenzsicherung, nämlich der Ausbau öffentlicher Güter zu einer Teilhabe-Infrastruktur. Eine ausschließlich individuelle und vom Bedarf entkoppelte materielle Alimentierung wie beim Grundeinkommen schafft möglicherweise das Gegenteil dessen, was es intendiert: Wo Aktivierung, Teilhabe und Anerkennung beabsichtigt sind, könnte sich in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen die soziale Segregation verfestigen. Für mich hat deshalb die Frage der institutionellen Transfers kein geringeres Gewicht als die des individuellen Transfers. Das eine kann das andere nicht ersetzen: Bildungsarmut ist nicht mit Geldtransfer beizukommen, materieller Not nicht mit kostenlosen Sportstätten. Eine Teilhabe-Infrastruktur soll dafür sorgen, dass alle Menschen Teilhabechancen haben.

 

„Alles für alle“ führt in die Irre

 

Während eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung Schritt für Schritt verwirklicht werden kann, muss sich in Bezug auf die Infrastruktur erst eine grundsätzliche Bereitschaft für klare Prioritäten entwickeln. Für mich liegen die Schwerpunkte auf den Gebieten Bildung und Betreuung, bei unterstützenden Strukturen für Jugendliche und Familien, in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderung und bei der gesundheitlichen Prävention. Allein für Bildung und Betreuung müsste Deutschland zwischen 24 und 37 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich aufwenden – je nachdem, ob wir uns am durchschnittlichen OECD-Niveau oder am Pisa-Sieger Finnland orientieren. Insgesamt müssten wir für alle genannten Bereiche bis zu 60 Milliarden Euro zusätzlich ausgeben.

 

An dieser Stelle muss dann doch noch von der Finanzierbarkeit die Rede sein. Wer die Frage der institutionellen Transfers ernst nimmt, wird ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, das denen, die es brauchen, mehr zahlen würde als die skizzierte Grundsicherung, nicht finanzieren können. Adieu Grundeinkommen.

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