Achtung, Empire!

Heute finden die meisten Sozialdemokraten alles Theoretische ziemlich überflüssig. Weshalb Denkfaulheit sich noch bitter rächen könnte, beschreibt / VON FRANK LÜBBERDING

Göttingen. Ein schöner Samstag abend im Frühsommer, den man gerade in einer Universitätsstadt sehr angenehm verleben und verlieben kann. Aber, verwunderlich genug, man trifft sich in der Literarischen Gesellschaft - nicht um Liebe zu praktizieren, sondern um zentralen Topoi ambitionierter Theorieproduktion zu rekonstruieren. Etwa hundert - zumeist junge - Menschen sind zusammengekommen, um über das Buch Empire von Antonio Negri und Michael Hardt zu diskutieren. Wobei diskutieren das falsche Wort ist. Sie versuchen, das Buch zu verstehen. Das ist das zweite Wunder. Im Unterschied zu den Debatten der vergangenen 25 Jahre, als Intellektualität in der linken Szene zumeist als Herrschaftsinstrument charakterisiert wurde, gibt es in dieser Veranstaltung nur eine einzige Stimme, die das Buch wegen seines überzogen hohen Niveaus kritisiert. Man ist offensichtlich bereit, sich ambitionierter Theorieproduktion zu stellen - und sie nicht schon dafür zu kritisieren, dass es sie gibt.


Dieses Interesse ist nicht grundlos. Empire ist ein wichtiges Buch - aus zwei Gründen: Es definiert erstens die Globalisierung politökonomisch, weil es die sozio-ökonomische Beschreibung von Wirklichkeit mit einer gesellschaftspolitischen Analyse politischen Handelns verbindet. Wer nun meint, solche Theorien belächeln zu müssen, hat vom 20. Jahrhundert nichts verstanden. Lenin war bis 1917 im Wesentlichen ein Theoretiker. Seine Verbindung von Theorie und politischer Praxis veränderte am Ende die Welt. Das weist auf den zweiten Grund für die Bedeutung des Buches hin. Empire wird die Vorstellungen vieler Aktivisten über den Globalisierungsprozess und ihre politische Antwort darauf nachhaltig beeinflussen. Nicht ohne Grund hat Slavoj Zizek es "ein neues kommunistisches Manifest" genannt.


Schon aus diesem Grund allein müssen Sozialdemokraten Empire als eine echte Herausforderung betrachten. Schon einmal, am Ende der sechziger Jahre, hat die SPD den Fehler gemacht, auf die Wiederentdeckung emanzipatorischen Denkens keine eigene Antwort zu formulieren. Statt die Grundlagen sozialdemokratischer Überzeugungen nachvollziehbar zu machen, ließ die Sozialdemokratie es zu, dass die Neue Linke diese Grundlagen durch das Aufwärmen des Marxismus-Leninismus für sie mit formulierte. Der Reformismus als theoretische Antwort auf schmerzhafte praktische Erfahrungen geriet in den Verdacht theorieloser Praxis. Dieser Verdacht war nicht grundlos. Der Sozialdemokratie gelang es nicht mehr, eine Brücke zwischen ihren theoretischen Erkenntnissen über das Wesen moderner Industriegesellschaften und ihrer praktischen Politik zu schlagen. Die Folgen sind bekannt.

Befreiung! Und zwar sofort!

Empire ist nicht das erste Buch über Globalisierung. Es gibt inzwischen eine unüberschaubare Literatur zum Thema, die sich mit wenigen Ausnahmen auf die Beschreibung ökonomischer Veränderungen seit der Weltwirtschaftskrise von 1973/74 beschränkt. Es dominiert die empirische Bestandsaufnahme - etwa über die Wirkung globalisierter Finanzmärkte oder die Vorherrschaft der neoliberalen Weltsicht des Homo oeconomicus. Die Defensive, in der sich die Linke seit fast 25 Jahren befindet, ist kein Zufall, sondern Ausdruck tiefer Ratlosigkeit. Sie befindet sich in Abwehrkämpfen gegen den Sozialabbau, beklagt den Bedeutungsverlust des Nationalstaates und hat kein Projekt für ihren Gestaltungswillen in einer sich verändernden Welt.


Damit machen Hardt und Negri - und das ist wahrlich bemerkenswert - Schluss. Sie halten nicht nur - wenig überraschend - die These "von der bizarren Naturgegebenheit des Kapitalismus für eine reine Mystifikation", sondern wollen sich auch "augenblicklich davon ... befreien". Und woran scheitert die Befreiung? An den "zahllosen theoretischen Positionen, die außer blinder Anarchie keine Alternative zur gegenwärtigen Herrschaftsform sehen und deshalb an einen Mystizismus der Beschränkung teilhaben". Die Autoren befinden sich damit in einer Tradition, die Sozialdemokraten zwar teilen, aber nach den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts wohl kaum mit der naiven Unbekümmertheit Negri und Hardts betrachten können.

Lenin ist tot, gestorben an der Wirklichkeit

"Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme ... ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage" , schrieb Marx in seiner zweiten Feuerbachthese. Eine Theorie, die nicht hilft, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beenden, ist, so gesehen, zu bekämpfen. Allein der Weg zum Ziel und die Mittel, die dabei anzuwenden seien, sind in der Linken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts umstritten. Sie machten den Kern des tödlichen Bruderkampfes zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten aus. Einen Kampf, daran sollte man erinnern, den die Sozialdemokratie nicht nur mit Recht gewonnen hat, sondern zugleich mit unzähligen Opfern bezahlte.


Hardt und Negri knüpfen an Lenins Imperialismustheorie an und verabschieden sie gleichzeitig. Für sie ist Lenin tot. Gestorben mit seinen empirischen Voraussetzungen. Die beiden Weltkriege habe man noch als Kampf national organisierter Kapitalisten um Weltmarktanteile verstehen können. Doch diese Vorstellung imperialistischer Nationalstaaten ist für Negri und Hardt heute ein Anachronismus, der der Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert erleben wir global gewordene kapitalistische Produktionsverhältnisse, die jeden Winkel der Erde erfassen und vorkapitalistische Produktionsformen endgültig ausgelöscht haben. Während es in der Vergangenheit noch darum ging, diese vorkapitalistischen Gesellschaften für den kapitalistischen Weltmarkt zu öffnen, woraus die Rivalität der imperialistischer Staaten resultierte, ist dieser Konflikt heute bedeutungslos geworden.

Geschichte als Steinbruch der Legitimation

Ob Lenins Imperialismustheorie 1917 tatsächlich die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erklären konnte, kann hier offen bleiben. Angemerkt sei allerdings, dass sich viele Rezensenten an Hardts und Negris Interpretationen historischer Ereignisse stoßen. Ein Beispiel unter vielen ist die Kritik an der ökonomistischen Faschismustheorie in Empire, die etwa Jörg Lau in der Zeit vehement - und zu Recht - kritisiert hat. Das Problem ist aber nicht, ob Hardt und Negri die Ursachen des Ersten Weltkrieges oder die Gründe für den Aufstieg des Faschismus im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre richtig benannt haben. Das Problem ist vielmehr, dass sie die Geschichte als Legitimationssteinruch für ihre Theorie missbrauchen. Eine Praxis, die im Marxismus eine schlechte Tradition besitzt - worauf noch zurückzukommen sein wird.


Die Verabschiedung Lenins durch Hardt und Negri ist die praktische Konsequenz einer theoretischen Einsicht. Der Bedeutungsverlust des Nationalstaates entzieht Lenin die Basis. Dabei behaupten die Autoren keineswegs, dass der Nationalstaat heute keine Rolle mehr spielt. Er ist immer noch das zentrale Organisationsmodell im Empire. Aber er kann seine ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen. Der Nationalstaat war, historisch betrachtet, der Rahmen, in dem sich kapitalistische Ökonomien entwickelten. Die Zentralisierung der Staatsgewalt ermöglichte und sicherte zugleich die Durchsetzung des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Dieses Gesellschaftsmodell benötigte zugleich eine Neudefinition alter Menschheitsprobleme: das der Macht und das der Herrschaft. Wie funktioniert Macht in kapitalistischen Gesellschaften? Für Hardt und Negri natürlich nicht mehr nach dem alten Marxschen Schema, welches das Problem der Herrschaft auf den Klassenkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgoisie reduzierte und das Klassenbewusstsein der revolutionären Arbeiterklasse als Lösung des Problems anbot. Den Rest sollte die Geschichte erledigen.

Warum machen die Arbeiter keine Revolution?

Mit den Niederlagen der Kommunisten und den Erfolgen der Reformisten musste die revolutionäre Linke das Problem der Herrschaft neu definieren. Die Frage, die sich unter anderem Antonio Negri seit 40 Jahren stellt, heißt: Warum handelte die Arbeiterklasse nicht so, wie man es vernünftigerweise von ihr hätte erwarten müssen? Warum also machte sie keine Revolution? Eine der wichtigsten Antworten formulierte in den sechziger und siebziger Jahren Michel Foucault mit seiner These von der Biomacht. Historisch beschreibt Foucault Herrschaft im kapitalistischen Staat als Disziplinargesellschaft. Das ist zentral, wenn man die Argumentation der beiden Autoren von Empire verstehen will: "Von Disziplinargesellschaft zu sprechen", schreiben sie, "bedeutet, dass Herrschaft in der Gesellschaft auf einen weitläufigen Netzwerk von Dispositiven und Apparaten beruht, das Verhaltensweisen, Gewohnheiten wie auch produktive Tätigkeiten hervorbringt und reguliert. Damit diese Gesellschaft funktioniert und ihre Regeln und Mechanismen des Ein- und Ausschlusses befolgt werden, bedarf es Institutionen der der Disziplinierung, wie etwa Gefängnis, Fabrik, Heim, Klinik, Universität, Schule und so weiter. Sie gliedern das gesellschaftliche Terrain und implementieren Logiken, die der disziplinären Vernunft entsprechen. Disziplinarmacht herrscht tatsächlich, indem die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens und Handelns geregelt sind und normales und/oder anweichendes Verhalten sanktioniert und vorgeschrieben ist."


Die Disziplinargesellschaft ist an den Nationalstaat und seine Institutionen gebunden. Der Begriff der Souveranität ist für die Nationalstaatsbildung konstituierend. Hardt und Negri betrachten den Begriff dialektisch. Zwar ist Souveränität in der europäischen Moderne untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden. Er sichert Macht und Herrschaft in kapitalistischen Produktionsverhältnissen auf Foucaultsche Weise. Aber zugleich ist er emanzipatorisch: "Freiheit oder Knechtschaft, die Befreiung des Begehrens oder dessen Unterdrückung (ist der) Widerspruch, der die gesamt europäische Moderne durchzieht und den Kernpunkt des modernen Souveränitätsbegriffes betrifft."


Für Hardt und Negri ist Souveränität nicht per se anti-emanzipatorisch. Diese Annahme hat gerade die marxistische Staatstheorie immer belastet. Man konnte sich den Kommunismus nur als eine vormoderne Gesellschaft vorstellen, wobei der Staat auf geheimnisvolle Weise verschwinden sollte - eine Vorstellung, die Reformisten weder für realistisch, noch für wünschenswert, am Ende nicht einmal mehr mehr für bedenkenswert gehalten haben. Für Negri und Hardt verschwindet der Staat im Kommunismus keineswegs, sondern er transzendiert sich in etwas Neues, das dem Souveranitätsbegriff aber schon immer immanent gewesen sei. Historisch habe sich bisher die antiemanzipatorische Richtung durchgesetzt, aber nur indem sie "die entstehenden Bewegungen und deren Dynamik zu beherrschen und für ihre Zwecke auszunutzen" suchte. Diese "zweite Spielart der Moderne", entstand, "um gegen die neuen Kräfte Krieg zu führen und zu deren Beherrschung eine übergreifende Macht zu installieren." Diese neue Macht war der Nationalstaat.

"Das Kapital ist zu einer Welt geworden"

Der Nationalstaat ist im Rahmen seiner kapitalistischen Ausformung an seine Grenzen gestoßen. Diese Grenzen werden ihm aus unterschiedlichen Richtungen gesetzt. Zum einen durch die Globalisierung. "Das Kapital ist zu einer Welt geworden" - dieser Satz ist für Hardt und Negri paradigmatisch. Mit der Durchsetzung des global gewordenen Kapitalismus hat sich buchstäblich alles der Verwertungslogik des Kapitals unterzuordnen. Der Nationalstaat gerät damit in ein für ihn unlösbares Dilemma: "Die Tranzendenz moderner Souveränität tritt dergestalt mit der Immanenz des Kapitals in Konflikt. Historisch war das Kapital auf die Souveränität und die Unterstützung durch deren Rechts- und Machtstrukturen angewiesen, doch die gleichen Strukturen widersprechen, ihrem Prinzip nach, dem Wirken des Kapitals und behindern es in der Praxis, bis sie schließlich seine Entwicklung behindern."


Was ist für die Vertreter der "zweiten Spielart" die Lösung? Ein neues Herrschaftsmodell und Machtparadigma, das Hardt und Negri Empire nennen. Das Empire ist dabei derselben Dialektik unterworfen, die schon den gesamten Prozess der europäischen Moderne durchzieht. Hardts und Negris Exegese von Spinoza und Machiavelli, die Diskussion der Dialektik des modernen Souveränitätsbegriffes, hat nur dieses eine Ziel: praktisch zu werden. Denn die Herausbildung des Empire ist nicht die zwangsläufige Folge kapitalistischer Verwertungslogik, sondern die Konsequenz einer Legitimationskrise des kapitalistischen Systems, das immer wieder vom Widerstand der Menge ("multitude") infrage gestellt wird. Keine abstrakten Strukturen oder Systeme sind für den Fortschritt verantwortlich, sondern Geschichte ist (und bleibt) die Geschichte von Klassenkämpfen. Wobei beide Autoren unter Klasse keineswegs das Industrieproletariat des 19. und 20. Jahrhunderts verstehen. Im Empire produziert und reproduziert Arbeit gleichzeitig und direkt alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens: "Das Proletariat wird zur allgemein verbindlichen Gestalt der Arbeit, und im gleichen Maß wird der Gegenstand proletarischer Arbeit allgemein. Die gesellschaftliche Arbeit produziert das Leben selbst." Proletarier sind fast alle. Diese politischen Kämpfe sind untrennbar für die Ausbildung des Empire verantwortlich. Die Autoren bemühen sich redlich, diese These empirisch zu untermauern. So - nur ein Beispiel - nehmen sie ein Argument französischer Regulationstheoretiker auf, die das postfordistische Produktionsmodell als eine Folge des Widerstandes gegen die rigide tayloristische Arbeitsteilung im fordistischen Produktionsmodell interpretieren.

Fans von Nietzsche und Carl Schmitt

Interessanter ist aber die Wiederentdeckung des Politischen bei Hardt und Negri. Beide sind offene Sympathisanten von Friedrich Nietzsches Lebensphilosophie und heimliche Fans von Carl Schmitt. Schmitts Dezisionismus ist dabei mehr als eine versteckte Versuchung. Zum einen durch seine Reduktion des Souveranitätsbegriffes auf den politischen Kampf (Souverän ist bekanntlich, wer über den Ausnahmezustand entscheidet), zum anderen weil Schmitt gerade die deutsche Politik als einen Kampf des deutschen Raumprinzips gegen den liberaldemokratischen Universalismus der angelsächsischen Seemächte definierte. Schmitts Interpretation war zu einem guten Teil antikapitalistisch motiviert. Hardt und Negri ist das nicht entgangen. Nur dass sie den isolierten Kampf einzelner Staaten gegen den kapitalistischen Universalismus für aussichtslos halten. Ihre rigide Zurückweisung nationaler Befreiungsstrategien gegen das Empire hat mit dieser Erfahrung Schmitts zu tun. Dieser Zusammenhang wird von ihnen, wenn auch versteckt, offen zugegeben.

Die Systeme wirken direkt auf die Köpfe

Die Krise des Nationalstaates zwingt das kapitalistische System, neue Wege zur Vermittlung der Widersprüche zwischen Gesellschaft und Kapitalvermittlung zu gehen. Die bisherige Funktion des Nationalstaates bedurfte einer Autonomie des Politischen: "Ohne den Staat hätte das gesellschaftliche Kapital keine Mittel, seine gemeinsamen Interessen zu entwerfen und zu realisieren." Über diesen Spielraum verfügt die Politik im nationalstaatlichen Rahmen heute nicht mehr. Dass das kapitalistische System trotzdem noch nicht in eine existentielle Krise geraten ist, hat es seinem Funktionswandel in den vergangenen 30 Jahren zu verdanken. Mit dem Auftreten der sozialen und gesellschaftspolitischen Krisen in den sechziger Jahren war das Herrschaftsmodell zur Transformation gezwungen. An die Stelle der Disziplinargesellschaft des Industriezeitalters tritt die Foucaultsche Biomacht als Kontrollgesellschaft.


Diese zeichnet sich dadurch aus, dass: "Herrschaftsmechanismen ‘demokratisiert′ sind ... Die Art und Weise herrschaftskonformer gesellschaftlicher Integration und Exklusion ist entsprechend zunehmend von den Subjekten internalisiert. Machtausübung findet durch maschinische Systeme statt, die direkt auf die Köpfe wirken (Kommunikationssysteme, Informationsnetzwerke etc.), die Körper organisieren (Sozialsysteme, kontrollierte Aktivitäten etc.) und einen Zustand autonomer Entfremdung (vom Sinn des Lebens, vom Wunsch nach Kreativität) herbeiführen. Die Kontrollgesellschaft könnte man also durch die Intensivierung und Verallgemeinerung der normalisierenden Disziplinarmechanismen (charakterisieren), die, nunmehr verinnerlicht, unsere gewöhnlichen und alltäglichen Praktiken regeln ... ."

Das Empire ist global und ortlos zugleich

Diese Kontrollgesellschaft funktioniert nur noch global, das heißt der Nationalstaat ist nur noch ein lokales Organ zur Kontrolle des globalen Herrschaftssystems. Selbst die Vereinigten Staaten sind in diesem Modell keineswegs die imperialistische Supermacht, sondern bloß Primus inter pares, im Wesentlichen zuständig für die Ausübung globaler Polizeifunktionen. Sogar das Gegenteil ist richtig: Die amerikanische Verfassung hat das Modell für das Empire geliefert und Roosevelts New Deal - unter anderem durch dessen Kampf gegen Carl Schmitts deutsche Raumkonzeption - die internationale Durchsetzung ermöglicht. Das Empire ist somit global und ortlos zugleich. Diese Ortlosigkeit ist für Hardt und Negri axiomatisch: "Wir sind davon überzeugt, dass diese Veränderungen heute das kapitalistische Projekt, nämlich ökonomische und politische Macht zusammenzufügen, klar werden lassen und möglich machen, anders gesagt, eine kapitalistische Ordnung im eigentlichen Sinn ermöglichen."


Für Hardt und Negri ist dabei der Nationalstaat nicht vollständig abgetreten, sondern nur in seiner konstituierenden Funktion für das kapitalistische Herrschaftssystem durch eine "Pyramide globaler Konstitution" abgelöst worden. Nichts fehlt hier in der Analyse politischer Macht im Empire, weder die transnationalen Konzerne noch die Kommandobrücken des Weltwirtschaftssystems wie G-7 oder IWF - all jene Organisationen und Vereingungen, die letztlich dafür verantwortlich sind, dass "kulturelle und biopolitische Macht im globalen Maßstab eingesetzt wird." Der Nationalstaat ist dabei nur noch ein Faktor unter anderen. Er ist letztlich darauf beschränkt im regionalen Rahmen die Funktion kapitalistischer Herrschaft aufrechtzuerhalten. In den Worten der Autoren: "(Er) bündelt und verteilt letztlich den Reichtum, der in Richtung der globalen Macht und von ihr weg fließt, und diszipliniert zugleich die Bevölkerungen nach Maßgabe des Möglichen." Den Boden der Pyramide bilden schließlich die global agierenden NGOs. Die Nichtregierungsorganisationen übernehmen die Funktion, die früher dem Nationalstaat zukam. Sie organisieren die Menge, sie sind der Sockel auf dem die Machtpyramide steht. Ihr Verhältnis entspricht dem, was Hardt und Negri unter Biomacht verstehen. "Hier ... koinzidieren die politischen Aktivitäten der NGOs mit den Funktionsabläufen im Empire, sie stehen ‘jenseits der Politik′, auf dem Terrain der Biomacht, es geht um die Belange des Lebens selbst."

Im System selbst lauert die Alternative

Die Rolle der NGOs ist also ambivalent. Sie haben im Empire eine konstituierende Funktion, weisen aber zugleich über ihre eigentliche Funktion hinaus. Sie erinnern an (nicht nur) Lenins Meinung über die Rolle der deutschen Kommandowirtschaft im Ersten Weltkrieg: Einerseits war sie für die Aufrechterhaltung des deutschen Kapitalismus unverzichtbar, andererseits zugleich eine Art Nukleus für eine zukünftige sozialistische Ökonomie. Die Autoren diskutieren nicht ohne Grund über Lenin und Hilferding, über Rosa Luxemburgs These von der "inneren Landnahme" eines an seine Grenzen gestoßenen Kapitalismus. Über den Unterschied zwischen formeller und reeller Subsumtion, die den Unterschied zwischen Imperialismus und Biomacht konstituiert. Für Negri und Hardt ist der Kapitalismus heute an seine historischen Grenzen gestoßen. Er kann zwar das Herrschaftsgefüge mit dem "imperialen Kommando", eine Kombination aus Atombombe, Geld und Äther, aufrecht erhalten. Aber in dem System selbst - und eben nirgendwo sonst - lauert die Alternative zum sich auf die Sicherung seiner Verwertungslogik beschränkenden globalen Kapitalismus. Der historische Materialismus feiert hier - im Bereich des Äthers und der Kommunikation - seine eigentliche Wiederauferstehung: "Der Kommunikationsraum ist vollkommen deterritorialisiert. Er ist radikal anders als die residualen Räume, die uns bei der Analyse des Monopols physischer Gewalt und der Definition monetärer Maßnahmen begegneten. Hier geht es nicht um einen Rest, sondern um eine Metamorphose: die Metamorphose aller Momente der politischen Ökonomie und der Staatstheorie. Die Kommunikation ist die Form kapitalistischer Produktion, in der es dem Kapital gelang, die Gesellschaft insgesamt und global seinem Regime anzupassen und alle anderen Wege abzuschneiden. Jeder mögliche Gegenentwurf muss somit aus dem Inneren der Gesellschaft und der reellen Subsumtion entstehen und die Widersprüche in deren Kern aufzeigen."

Die parasitäre Existenz der imperialen Macht

Diese Annahme hat Konsequenzen. Wer sich, wie Hardt und Negri, als Kommunist bezeichnet, und die revolutionäre Transformation der Gesellschaft für möglich hält, muss mithin auch Aussagen über das revolutionäre Subjekt treffen. Dieses Subjekt bildet sich an keinem Ort, sondern es entspringt dem dialektischen Prozess der Subjektivitätsbildung im Empire. Die kapitalistische Logik ist unfähig, aus sich selbst heraus Werte zu produzieren (eine im Übrigen auf die Juden übertragen klassisch antisemitische Figur). Der Kapitalismus ist, und das ist das Geheimnis reeller Subsumtion, auf die Kreativität der Gesellschaft angewiesen, die bis dato außerhalb dieser Logik existierte. Gleichwohl ist das Wesen kapitalistischer Verwertungslogik - auch unter den Bedingungen der Biomacht und der Kontrollgesellschaft - ihre parasitäre Existenz: "Imperiale Macht ist das negative Residuum, das Zurückweichen vor dem Handeln der Menge, sie ist ein Parasit, der von der Fähigkeit lebt, immer wieder neue Energie- und Wertquellen zu schaffen. Ein Parasit jedoch, der seinem Wirt die Kraft aussaugt, gefährdet seine eigene Existenz. Das Funktionieren imperialer Macht ist unausweichlich mit ihrem Verfall verknüpft."

Was nicht passt, wird passend gemacht

Daraus beziehen Hardt und Negri ihre Hoffnung. Das Herrschaftsmodell des Empire wird sich niemals aus der Abhängigkeit der Menge lösen können. Es bleibt auf ihre Kreativität, ihre Fähigkeit zur Liebe und zum Begehren nach einer anderen Welt angewiesen: "Das Politische ist nicht das, was uns der zynische Machiavellismus der Politiker heute glauben machen will, sondern, wie der demokratische Machiavelli lehrt, die Macht von Generation, Begehren und Liebe. Die politische Theorie muss sich entlang dieser Linien neu ausrichten und die Sprache der Generation annehmen."


Hardt und Negri sind optimistisch. Sie sind von der Gestaltbarkeit der Dinge überzeugt. Politisches Handeln überschreitet bei ihnen die Grenze, die im Übrigen durch die Globalisierung gezogen wird. Das ist positiv zu vermerken. Eine Theorie, die hilft, den Zustand der Welt zu erklären, schafft zugleich politische Handlungsalternativen. Insoweit ist Empire überaus anregend. Aber zugleich ist Empire ein gefährliches Buch. Hardt und Negri betrachten Geschichte nicht als einen offenen Prozess, in dem die Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft täglich neu erkämpft werden muss, sondern sie versinken mit ihrer romantischen Befreiungsrhetorik im Sumpf des historischen Materialismus. Dieser Befreiungsmythos macht einen nicht geringen Teil der Attraktivität von Empire aus und ist im schlechten Sinn ideologisch. Die bisweilen hanebüchenen Ausflüge in die Ge-schichte sind eben kein Zufall, sondern theorieimmanent. Man will den Sinn der Geschichte entschlüsseln. Darunter geht es nicht. Wenn die historische Erfahrung dabei nicht passt, wird sie passend gemacht.


So ist es etwa eine verwegene Behauptung, die Bolschewiki auf ihre Rolle als Modernisierer Russlands zu reduzieren. In der Realität waren die Bolschewiki mit ihrem Kult der Gewalt und ihrer Verachtung demokratischer Verfahren mitnichten Modernisierer, sondern kalte Exekutoren des Schmittschen Dezisionismus. Der ideologische Überbau kommunistischer Rhetorik hat die Brutalität dieses Sachverhaltes freilich lange Zeit überdeckt. Diese Verachtung der Demokratie als Verfahren gerade zur Lösung des alten Problems des Umgangs mit Macht in menschlichen Gesellschaften schwingt in Empire mit.

Sozialdemokraten sehen es völlig anders

Hardt und Negri definieren ein real existierendes Problem: nämlich den Verlust des politischen Gestaltungsspielraums der Nationalstaaten und die Tatsache, dass - wie in der politischen Philosophie Thomas Hobbes′ - die Furcht für unsere Gesellschaften zu einem konstituierenden Faktor zu werden droht. Diese Furcht vor Armut und sozialem Abstieg prägte schon die Zwischenkriegszeit im langen 20. Jahrhundert. Der Aufstieg faschistischer und nationalsozialistischer Bewegungen hatte in dieser Furcht einen ihrer mächtigsten Verbündeten - ein Aspekt, den Hardt und Negri in ihrem Optimismus sträflich vernachlässigen und mit ihrer Befreiungsmythologie letztlich noch befördern. Für sie ist Demokratie eine Idee, die man erst noch verwirklichen muss. Für Sozialdemokraten hingegen ist Demokratie eine Praxis, die sich gerade unter den Bedingungen einer globalisierten Welt bewähren mus. Sie ist die Basis für Emanzipation und eben nicht erst deren Folge im Traumreich des Kommunismus. Genau das trennt Sozialdemokraten und Kommunisten seit bald 100 Jahren. Daran, so steht angesichts des Erfolges von Empire zu befürchten, wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern.

Antonio Negri und Michael Hardt, Empire: Die neue Weltordnung, Campus Verlag: Frankfurt/ Main und New York, 480 Seiten, 34,90 Euro

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