"Was zählt, ist das, was funktioniert"

Die Ära Blair geht zu Ende. Zwei Biografien über den erfolgreichsten Sozialdemokraten der letzten Jahrzehnte

In fast allen Ländern der Europäischen Union regieren Sozialdemokraten“ – so begann das im Jahr 1999 vorgelegte Schröder-Blair-Papier. Heute ist es fast in Vergessenheit geraten. Eine Auseinandersetzung mit dem „Dritten Weg“ und New Labour – einst Vorbild für Schröders Strategie der „Neuen Mitte“ – findet kaum mehr statt. Schon bald nach dem gemeinsamen Papier entfremdeten sich Tony Blair und Gerhard Schröder wieder voneinander. Die Achse Berlin-Paris löste die Achse Berlin-London ab. So ist es wenig verwunderlich, dass erst im Frühjahr 2005 wieder eine deutsche Biografie über Tony Blair erschien – die erste nach fast zehn Jahren.

Der Anglist und Wirtschaftsjournalist Gerd Mischler sieht die Strategie New Labours als Vorbild für die deutsche Reformdebatte: durch Wirtschaftsreformen Wachstum generieren und so Spielraum für Investitionen schaffen. Der Autor ist sich sicher: Die Beschäftigung mit Tony Blair und New Labour lohnt sich besonders aus deutscher Sicht – schon deshalb, „weil Blair eine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt, die in der verfahrenen deutschen Reformdiskussion als Orientierungshilfe dienen kann“. Das ist der Beweggrund für seine Biografie über den britischen Premier. Anektdotenreich erzählt der Autor von Tony Blairs Kindheit und Jugend in Schottland und England, dem Jura-Studium in Oxford, dem Einfluss des schottischen Philosophen John Macmurray auf seine moralischen und religiösen Überzeugungen, Blairs innerparteilichen Aufstieg und den Umbau der traditionsreichen sozialistischen Arbeiterpartei zu New Labour. Mischler akzentuiert Blairs Rolle als Reformer und legt das Augenmerk besonders auf die Außenpolitik der zweiten Amtszeit: die Mission auf dem Balkan, die Intervention im westafrikanischen Sierra Leone, den Kampf gegen die Taliban und den Irak-Krieg.

Leider gibt sich der Autor allzu häufig als glühender Anhänger des „Dritten Weges“ zu erkennen. Zwar stellt er den politischen Werdegang Blairs ausgewogen und objektiv dar, auch zeigt er ausführlich, wie Tony Blair an Margaret Thatcher anknüpft. Wenn er jedoch die Verdienste der Eisernen Lady schmälert und den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes im Grunde allein Blair zuschreibt, geschieht dies auf Kosten der analytischen Distanz. Seine politische Analyse fällt eher schwachbrüstig, einstweilen plakativ aus. Weniger flapsige Formulierungen und eine komplexere politische Einordnung hätten dem Buch gut getan.

Ungewöhnlich für eine Biografie über einen Zeitgenossen und amtierenden Politiker ist, dass Mischler viel Material zusammenträgt, ohne sich jedoch auf Primärquellen wie Interviews mit dem Porträtierten und seinen Mitarbeitern zu stützen. So ziert sich Tony Blair – Reformer, Premierminister, Glaubenskrieger zwar mit beeindruckenden 1.000 Fußnoten. Den 280 Textseiten haftet jedoch der fade Beigeschmack an, allzu konstruiert zu sein. Das Buch ist ein leicht verdauliches Potpourri aus Sekundärliteratur. Es enthält nur wenige Informationen, die man nicht irgendwo schon mal gehört oder gelesen hat.

Eine gelungere politische Analyse bietet die ebenfalls im Frühjahr 2005 veröffentlichte Blair-Biografie des renommierten Historikers und Blair-Kenners Anthony Seldon. In seinem nun in zweiter Auflage erschienenen Buch mit dem schlichten Titel Blair porträtiert der Autor den Premier souverän und unprätentiös, indem er die 20 Persönlichkeiten einzeln in den Blick nimmt, die maßgeblichen Einfluss auf das Denken und Handeln des britischen Premiers genommen haben. Darunter sind Blairs Eltern Leo und Hazel Blair, seine Ehefrau Cherie, die US-Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush, sein großes Vorbild Margaret Thatcher, Peter Mandelson sowie natürlich Gordon Brown – einst Co-Architekt von New Labour, später Blairs Rivale und ungeduldiger Kronprinz. Darüber hinaus beleuchtet Seldon in chronologischer Reihenfolge die Schlüsselerlebnisse in Blairs Leben.

Das fundierte Detailwissen des Autors stammt vor allem aus den über 600 Interviews, die Seldon geführt hat. Anders als Mischler stützt er sich also überwiegend auf persönliche Gespräche, sowie unveröffentlichte Tagebuchnotizen, Dokumente und Presseartikel. Blair ist keine konventionelle, erzählerische Biografie. Vielmehr gibt Seldon durch eine Mischung aus journalistischer Darstellungsform und zeitgeschichtlichen Fakten einen facettenreichen Einblick in Blairs Persönlichkeit und sein politisches Denken. Darüber hinaus bietet der labourkritische Politologe einen umfangreichen Überblick über die Nachkriegszeit des British Empire.

Ehrgeizig und eloquent in den Krieg

Scharfsinnig beleuchtet der Autor Blairs Stärken und Schwächen, ohne dabei seine Bewunderung für den redegewandten und medientauglichen Premier zu verhehlen. Der politische Werdegang Tony Blairs ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Als jüngster Abgeordneter der Partei hat der Jurist schnell Karriere gemacht und sich zu einem charismatischen und machtbewussten Politiker gemausert. Wie auch Mischler beschreibt Seldon Tony Blair als veritables Naturtalent: ehrgeizig, eloquent, erfolgreich. Gleichzeitig zeichnet er aber das Porträt eines zum Teil beratungsresistenten Premiers, der ohne kluge Mentoren und fundiertes Geschichtswissen in vier Kriege zog.

Blairs erste Amtszeit von 1997 bis 2001 war laut Seldom von Konzeptlosigkeit gekennzeichnet. Labour hatte es versäumt, eine klare Agenda zu formulieren. Auch in die zweite Legislatur stapfte die Labour Party offenbar planlos: „Wir sind ohne eine Idee davon, wofür wir eigentlich kämpfen, in die Wahlen 2001 gegangen“, bekannte ein ehemaliger Minister im Interview. „Es war keinerlei Ehrgeiz erkennbar, warum wir überhaupt eine zweite Amtszeit wollten.“ Trotzdem konnte Blair die Unterhauswahlen mit einer Mehrheit von 167 Stimmen klar für sich entscheiden. Die Wende im vergleichsweise langweiligen, von Seldon als zu wenig radikal angeprangerten Regierungsprogramm, kam rasch nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Tony Blair entschied sich dafür, an der Seite der Vereinigten Staaten in den Irak-Krieg zu ziehen, auch um deren Alleingang verhindern.

Das politische Kapital ist aufgebraucht

„Blairs entscheidender Fehler war es, dass er nicht explizit seine Bedingungen genannt hat“, schreibt Seldon im umfangreichen Kapitel über den Irak-Krieg. Die amerikanische Regierung habe das zaghafte „Yes, but...“ der Briten angesichts der Frage nach einer Invasion an Euphrat und Tigris als ein vorbehaltloses Loyalitätsbekenntnis fehlinterpretiert. Obwohl Blair – zumindest dem legendären Journalisten Bob Woodward zufolge – dreimal das amerikanische Angebot ablehnte, aus dem sich anbahnenden Militäreinsatz auszusteigen, sehen weder Seldon noch Mischler im britischen Premier den Kriegsvasallen des Weißen Hauses. Er sei keineswegs Bushs „Pudel“ oder „Schoßhündchen“, der dem amerikanischen Präsidenten blindlings in einen unkontrollierbaren Krieg folgte. Als „bulldog“ beschreibt Seldon den Kriegsbefürworter Blair, Mischler sieht in ihm den Überzeugungstäter, einen Glaubenskrieger, der dem Krieg unter dem Deckmantel des humanitären Einsatzes Legitimität verleihen wollte. Dabei habe, so Mischler, die aggressive Weltsicht und das angebliche Recht auf einen Präventivschlag das ethisch motivierte Konzept einer an humanitären Zielen orientierten Außenpolitik verdrängt.

Von den Medien und der britischen Öffentlichkeit als „B-liar“ gebrandmarkt, hatte der einst so charismatische Publikumsliebling die Gunst der Wähler nun endgültig verspielt. Die Ein-Mann-Entscheidungen hätten Labour in eine tiefe Vertrauenskrise getrieben und in der Bevölkerung einen Stimmungsumschwung bewirkt, meint Mischler. Als der britische Biowaffenexperte David Kelly infolge einer politischen Hetzjagd im Juli 2003 Selbstmord beging, erschallte die Forderung nach Blairs Rücktritt immer lauter.

Über die Gründe einer Invasion im Irak hat der „humanitäre Visionär“ Blair vermutlich nicht gelogen. Zumindest hat man ihm eine bewusste Manipulation des Argumentationsmaterials nicht nachweisen können. Seldon wirft ihm jedoch vor, ebenso wie die Amerikaner völlig konzept- und perspektivlos in die Zeit nach dem Krieg gestolpert zu sein: „Im Nachhinein betrachtet hat Blair zu viel Vertrauen in die Amerikaner gelegt.“

„Was zählt, ist das, was funktioniert“, Blairs Motto in Sachen „Third Way“ hat im Fall Irak nicht funktioniert, darüber sind sich Anthony Seldon und Gerd Mischler einig. „Die ganze Irak-Erfahrung hat seine Energie, sein politisches Kapital und seine Reputation erschöpft“, schreibt Seldon. Tony Blair werde anhand seiner unpopulären Außenpolitik und besonders anhand seines gescheiterten Irak-Abenteuers bewertet. Um aus den Negativschlagzeilen herauszukommen, werde er sich künftig auf die Innenpolitik konzentrieren: auf Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen, auf die Modernisierung der desolaten Infrastruktur sowie auf verstärkte Verbrechensbekämpfung. Heute, in seiner dritten Amtszeit, fällt bei dem einst „strahlenden Sieger mit missionarischem Sendungsbewusstsein“ der „grimmigere, sorgenumwölkte Gesichtsausdruck“ auf. Salman Rushdie, früherer Bewunderer und gern gesehener Gast des Premierministers, stellte enttäuscht fest: „Wir kennen seine Masken ... Aber nach acht Jahren im Amt zieht er seine Show ab wie der Läufer in Alice im Wunderland, der ständig auf und ab hüpft und sich dabei windet wie ein Aal. Man bekommt ihn wirklich nicht zu packen.“

Dennoch: Tony Blair hat seine Position in Downing Street 10 bis heute behaupten können, trotz seiner unpopulären Außenpolitik, dem geringsten prozentualen Stimmenanteil einer regierenden Partei in der britischen Wahlgeschichte und einer auf 66 Sitze geschrumpften Unterhausmehrheit von Labour. Wie lange bleibt er noch? Am 6. Januar dieses Jahres veröffentlichte das Boulevardblatt Sun ein Interview mit Tony Blair. Ein Novum in der britischen Geschichte: Der 52-Jährige kündigte seinen eigenen Abgang an. Er scheint das Feld seinem Kronprinzen Gordon Brown überlassen zu wollen: „Ich bin absolut glücklich damit, dass Gordon mein Nachfolger sein wird ... Er muss wissen, dass er mich ablösen wird, und das ist sehr richtig so“.

Gerd Mischler, Tony Blair: Reformer, Premierminister, Glaubenskrieger, Berlin: Parthas Verlag 2005, 350 Seiten, 28 Euro

Anthony Seldon, Blair, London: Free Press 2005, 784 Seiten, 16,50 Euro (bei amazon.de)

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