"Ach, SPD!"

Johano Strasser erinnert sich an seine Zeit als sozialdemokratischer Gott einst im Mai

Johano Strasser hat seine Memoiren vorgelegt. Gut lesbar sind sie, so dass ich es geschafft habe, das Buch mit dem schönen Titel Als wir noch Götter waren im Mai über die Ostertage von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Strassers politische Arbeit ist mit meiner eigenen politischen Biografie verbunden. Anfang der siebziger Jahre war er stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender und galt als der Cheftheoretiker des reformsozialistischen Flügels um Wolfgang Roth und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Damals lasen wir alles, was uns in die Hände kam, um uns argumentativ gegen die Konservativen zu rüsten, aber auch gegen die so genannten „Stamokaps“ innerhalb der Jusos. Wir waren auf der Suche nach einem reformistischen Weltbild und einer zeitgemäßen Definition des Demokratischen Sozialismus – fast so wie heute.

Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre waren wir in der Ökologiebewegung aktiv, unsere politischen Themen waren das Waldsterben und die Atomkraft. Zusammen mit Erhard Eppler, Jochen Steffen und André Gorz gehörte Johano Strasser zu den Ersten, die linke Politik mit der Ökologiefrage verbanden. Mit Klaus Traube gab er das Buch Die Zukunft des Fortschritts heraus, in dem die Autoren versuchten, „linken“ Fortschritt angesichts der Grenzen des Wachstums neu zu definieren.

Seit langem ist Johano Strasser Mitglied der SPD-Grundwertekommission und erarbeitete unter anderem zusammen mit Erhard Eppler das gemeinsame Papier von SED und SPD Streit der Ideologien – die gemeinsame Sicherheit. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus hatte die Demokratische Linke dann genügend Gründe, ihre Utopien zu überdenken (auch wenn wir zugleich wie Jochen Steffen der festen Überzeugung blieben, dass im realen Sozialismus alles real war, nur nicht der Sozialismus). Kurz nach der Wende schrieb Johano Strasser das Buch Leben ohne Utopie? über die Träume der Linken und deren Realitätsgehalt.

Ich habe sie alle noch zu Hause, die Hefte Forum Demokratischer Sozialismus, die Taschenbücher Technologie und Politik oder die Zeitschrift L ’80, die „Hefte zu Demokratie und Sozialismus mit poetischen und literarischen Beiträgen“, in denen auch viele osteuropäische Dissidenten zu Wort kamen. Johano Strasser hat alle diese Schriften mit herausgegeben und entscheidend geprägt.

Sich selbst beschreibt Johano Strasser als einen Kosmopoliten aus der Provinz. Geboren ist er in Leeuwarden in den Niederlanden. Nach dem Krieg zog die Familie nach Deutschland. Seine Eltern hielten viel von Esperanto. Strasser sieht sich als linker Humanist oder ethischer Sozialist, zwar auch von Büchern und Theorien beeinflusst, aber vor allem geprägt durch erlebte Ungerechtigkeiten in Kindheit und Jugend. Liebevoll schreibt er über seine Eltern, den unternehmerisch wenig erfolgreichen Vater und die starke Mutter.

Ein Kosmopolit aus der Provinz

An der Universität Mainz studierte Strasser Philosophie und ging dann als Hochschullehrer nach Berlin, wo er später mit Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern die Zeitschrift L ’80 herausgab. Heute lebt er als freier Schriftsteller am Starnberger See und ist Präsident des deutschen PEN-Zentrums, das sich für verfolgte Schriftsteller in der ganzen Welt engagiert.

In Als wir noch Götter waren im Mai berichtet Strasser von der Doppelstrategie der Jusos in den siebziger Jahren, die zur „Vertrauensarbeit“ weiter entwickelt wurde und heute im Leitmotiv der aktiven Bürgergesellschaft wieder auftaucht. Der Autor schreibt über die Grenzen der Demokratisierung durch die Grenzen der Zeitökonomie, den Unterschied zwischen „betroffen“ und „befähigt“ sein und den Respekt vor dem Privaten.

Als er wieder einmal auf einer Strategie-Klausur der Jungsozialisten war, auf die er seine Tochter mitnahm, ließ er sie am zugefrorenen See spielen, während er an der Sitzung teilnahm. Plötzlich steht die Tochter nass im Sitzungsraum, zitternd vor Kälte: „Papa, ich bin eingebrochen!“ Strasser springt auf, nimmt die Tochter in den Arm und trägt sie auf ihr Zimmer. So beschreibt er die Schwierigkeit, das Politische mit dem Privaten zu verbinden. Er stellt die alte Frage: „So wie du lebst, lebst du eigentlich als ganzer Mensch?“

Für mich ist Johano Strasser eng mit den Flügelkämpfen bei den Jusos verbunden. Im Nachhinein fragen wir uns: Waren wir politisch verbohrt und engstirnig? 1973 etwa schrieb Strasser eine Streitschrift zu Theorie und Praxis der Stamokap-Gruppe innerhalb der Jungsozialisten. Auch später versuchte er immer wieder neu, den Begriff „Demokratischer Sozialismus“ als radikalen Humanismus zu definieren, der in einer doppelten Frontstellung steht gegen den kapitalistischen Ökonomismus einerseits und jede Form der bolschewistischen Diktatur andererseits.

Strasser hat Recht: Kindheitserlebnisse prägen die Menschen stärker als theoretische Lektüre. So hat sich mir das Gefühl der Angst tief eingeprägt, die ich im Alter von zwölf Jahren empfand, als die sowjetischen Truppen in Prag einmarschierten und mit dem „Prager Frühling“ die Hoffnung auf einen humanen Sozialismus zerstörten. Ich erinnere mich, dass ich meinen Vater fragte: „Gibt es Krieg?“ Was ich schon damals – wahrscheinlich oberflächlich und sicherlich die Materie nicht ganz durchdringend – von Ota Sik über Wirtschaftsdemokratie und den Dritten Weg las, beeindruckte mich deshalb so sehr, weil ich die Gesellschaft der Bundesrepublik als geistig eng und ungerecht empfand – und zugleich mit dem realen Sozialismus nichts anfangen konnte.

Unser Kampf gegen die „Stamokaps“

Dass unser Kampf gegen die „Stamokaps“ – jene also, die den realen Sozialismus jenseits der Mauer nicht kritisch hinterfragen wollten – seine Berechtigung hatte, macht Johano Strasser in seinem Buch an einem Beispiel deutlich: Er berichtet von dem Kongress des Schriftstellerverbandes VS im März 1984 in Saarbrücken, als die Hardliner um Bernt Engelmann die freie Gewerkschaft Solidarnosc in einem Antrag als eine Bande von Konterrevolutionären bezeichneten. Es kam zum Eklat, als die organisierten Anhänger Engelmanns die Wahl von Ingeborg Drewitz zur VS-Vorsitzenden verhinderten und Heinrich Böll verspotteten, weil er nicht bereit war, den von der kommunistischen Führung geförderten Schriftstellerverband Polens als einzig legitimierten Gesprächspartner zu akzeptieren.
In jüngerer Zeit hat Strasser die angeblich „neoliberale“ Politik der SPD-geführten Regierung häufig kritisiert. An dieser Stelle hören unsere gemeinsamen Überzeugungen auf. Anders als Strasser bin ich der Meinung, dass wir uns als moderne Industriegesellschaft auf globale Entwicklungen und Weltmarktprozesse einstellen müssen. Die Linke wird niemals bestehen können, ohne die Frage der Wertschöpfung gleichberechtigt mit den Fragen der Verteilung und der sozialen Gerechtigkeit zu behandeln. Auch hinsichtlich der Beurteilung des technologischen Fortschritts, ohne den es nach meiner Überzeugung nicht genug Wertschöpfung und keinen wirksamen Klimaschutz geben kann, sind wir unterschiedlicher Auffassung.

Wir treffen uns wieder in der Frage nach der Rolle Europas: Ohne eine starkes Europa wird es uns nicht gelingen, Globalisierungsprozesse überhaupt zu regulieren und dem Primat der Politik noch eine Chance zu geben.

Austreten? Aus der SPD? Niemals!

„Ach, SPD!“ – so hat Strasser sein vorletztes Kapitel überschrieben: Trotz seiner Kritik, besonders an der Politik Gerhard Schröders, hat er nie mit dem Gedanken gespielt, die SPD zu verlassen. Auch hat er nie daran geglaubt, dass die Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen außerhalb der SPD leichter gelingen könnte als innerhalb der Partei. Zudem nennt er politische Projekte der Regierung Schröder, mit denen er einverstanden war: die Energiepolitik, den Atomausstieg und die Förderung alternativer Energien, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die Option für ein sozialstaatlich verfasstes Europa, die Entwicklungspolitik, die Entschädigung von Zwangsarbeitern sowie die entschieden ablehnende Haltung zum Irak-Krieg. Auch aus dem Bundestagwahlkampf 2005 hat er sich – trotz seiner Entrüstung über die vorzeitige Neuwahl – letztlich nicht herausgehalten.

Schon in seinem Buch Grenzen des Sozialstaats? aus dem Jahr 1979 beschäftigte sich Strasser kritisch mit einer Sozialpolitik, die hohe Wachstumsraten zur Voraussetzung hat. Bereits damals forderte er eine vorbeugende, nicht bloß nachsorgende Sozialpolitik. In Als wir noch Götter waren im Mai formuliert er nun die Vorstellung, dass um den Begriff des vorsorgenden Sozialstaates, der im Mittelpunkt des Bremer Entwurfs für das neue Grundsatzprogramm der SPD steht, eine zeitgemäße sozialdemokratische Politik entworfen werden sollte.

„Allzu gerne würde ich glauben, dass dies meine SPD ist: eine Versammlung kritischer, selbständiger Köpfe, klar in ihren Grundsätzen und unerschütterbar in ihrem Engagement für die Mühseligen und Beladenen, aber jederzeit bereit, sich der veränderten Realität zu stellen, diskussionsfreudig, misstrauisch gegenüber hohlen Phrasen und bombastischen Inszenierungen, an nichts als der Wahrheit interessiert und mutig, wenn es darum geht, das schlechte Bestehende zu verändern“, schreibt Strasser. Er konnte sich natürlich selbst auch deswegen so treu bleiben, weil er intellektuell und praktisch politisch tätig war, sich aber nicht auf eine politische Karriere als Landtags- oder Bundestagsabgeordneter oder in anderer Weise einließ.

Seine Widersprüche machen Johano Strasser immer wieder lesenswert und so wie beim Fußball nach dem Spiel vor dem Spiel ist, ist auch für ihn nach dem Buch vor dem Buch. Wir können also weiter gespannt sein.

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