Zwei Arten Biertrinker

Deutsche und Briten sind sehr verschieden. Das gilt auch für die Politik: Die deutschen Konservativen ticken nicht wie die Tories, die SPD denkt anders über Probleme nach als Labour, und überhaupt funktioniert die Politik beider Länder nach je eigenen Regeln. Aber solange wir aus den vielen Unterschieden etwas lernen können, ist das alles eigentlich kein Problem

Sind die Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien größer als die Gemeinsamkeiten, oder umgekehrt? Diese Frage stelle ich mir privat, seit ich mit 16 von Hamburg nach London gezogen bin. Genau 16 Jahre später, kurz vor der Bundestagswahl im vergangenen Jahr, zog ich nach Berlin, um für eine britische Zeitung über Deutschland zu berichten. Seitdem stelle ich mir diese Frage auch professionell.

In England herrscht großes Interesse an diesem Thema, und man macht sich momentan mehr Hoffnungen auf die Gemeinsamkeiten. Sind wir nicht letztlich zwei ähnlich verregnete Biertrinkernationen mit ähnlich limitierten Kochkünsten? Sind wir nicht, wie der englische Schriftsteller Thomas Hardy es einst beschrieb, „kin folk kin tongued“, verwandte Völker mit einer verwandten Mundart? Das neue Interesse an den gemeinsamen Wurzeln hat auch mit der aktuellen politischen Situation zu tun: Erfolg oder Scheitern von David Camerons Europapolitik hängen von Deutschlands Wohlwollen ab.

Jedoch fallen mir persönlich nach meiner Rückkehr eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten auf, besonders was die Politik angeht. Die deutschen Konservativen ticken einfach nicht wie die Tories, und die SPD denkt anders über Probleme nach als Labour. Hier kommen zehn Beobachtungen zu den existierenden Unterschieden.

Erstens: Deutsche Politik nimmt sich ihre Zeit. Während sich britische Minister manisch in ihr Amt werfen, um die Errungenschaften des direkten Vorgängers zunichte zu machen, scheint in Berlin eine permanent mittagsschläfliche Ruhe zu herrschen. Direkt nach der britischen Wahl von 2010 mahnte der Leiter des öffentlichen Dienstes die Politiker der drei großen Parteien an, sie sollten sich doch bitte innerhalb von fünf Tagen auf eine regierungsfähige Koalition einigen. Sonst würden „die Märkte“ nervös werden – man wisse, was das bedeute. Zum Vergleich betrachte man Deutschland nach der Bundestagswahl 2013: Sondierungsgespräche. Koalitionsverhandlungen. Vorspielen einer Koalitionsverhandlungskrise. Kokettieren mit Koalitionsverhandlungsscheitern. Koalitionsvertragsankündigung. Koalitionsvertragsveröffentlichung. Koalitionsvertragsmitgliederentscheid. Koalitionsvertragsunterschreibung. Dann ausgedehnter Winterschlaf. Diese gletscherhafte Gangart ist in vieler Hinsicht bewundernswert. Manchmal aber eben auch besorgniserregend, siehe: SPD-Wahlkampfveranstaltungen, die sich eher um die taktische Positionierung zur Wahl 2017 als um die Wahl 2013 zu drehen schienen.

Zweitens: Die deutsche Presse hat überraschend viel Geduld beim Politikerzuhören. Dem Labour Spin-Doktor Alastair Campbell wird das Erfinden einer „goldenen Regel“ nachgesagt, wonach politische Nachrichten einem 11-tägigen Rhythmus unterliegen: Wenn ein Politiker sich so lange gegen einen politischen Skandal behaupten konnte, dann war der Skandal kein solcher mehr. In Deutschland ist dieser Rhythmus deutlich langatmiger als in England. Frauenquote, Mindestlohn, NSA: Erst kommen FAZ/SZ/Welt an die Reihe, dann die Spiegel-Story, dann die Aufarbeitung der Spiegel-Story, dann eine Woche später der Aufmacher in der Zeit. Lobend könnte man sagen: Hat sich die deutsche Presse einmal an einem Thema festgebissen, lässt sie so leicht nicht wieder los. Kritisch gewendet: Wenn so viele Journalisten permanent voneinander abschreiben, ist es kein Wunder, dass hier nur alle drei Wochen mal das Thema gewechselt wird. Lucky German politicians.

Die Hälfte der Tories sind keine Lügner und Gauner

Drittens: Die deutsche Presse hat überraschend viel Ausdauer beim Politikerjagen. Für Politiker wird die Langatmigkeit der deutschen Presse dann zum Problem, wenn sie selbst zum Thema werden. Siehe: Wulff, Brüderle, Grüne Pädophilie-Debatte. Um einen britischen Politiker zum Rücktritt zu bewegen, braucht man einen Big Bang, den großen Skandal. In Deutschland reicht oft ein Schwelbrand.

Viertens: Deutsche Politiker sind höflicher als britische. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. Im Vereinigten Königreich nennt Londons Bürgermeister Boris Johnson den Liberalen Vizepremier Nick Clegg ein „lapdog prophylactic protection device“, also eine Art menschliches Verhütungsmittel. Von dem Labour-Veteranen Dennis Skinner stammt der Spruch, die Hälfte der Tories seien Lügner und Gauner, von ihm selbst korrigiert nach einem mahnenden Wort des Parlamentsvorsitzenden: Die Hälfte der Tories seien keine Lügner und Gauner. Im gut erzogenen Bundestag schwer vorstellbar. Dies mag mit dem föderalistischen Wesen der deutschen Politik zu tun haben, denn welcher Christdemokrat traut es sich schon, den Grünen einmal richtig einen linken Haken zu versetzen, wenn man sich dadurch in Hessen oder im Saarland ins Abseits bringt?

Fünftens: Deutsche Politiker sind unhöflicher als britische. Jedenfalls hinter geschlossenen Türen. Bei internen Parteiveranstaltungen in Deutschland zerfleischen sich Kandidaten gegenseitig. Das deutsche Vereinswesen ist perfekt gemacht für Grabenkämpfe und teilweise anarchisch ausufernde Fehden. In England zeigen Politiker in der Öffentlichkeit ihre Zähne – ist man aber unter sich, hält man gerne Händchen. Da die Parteiführung in England generell zentralisierter ist, lässt sich interner Dissens schneller abwürgen. David Camerons Schwierigkeiten mit seinen Backbenchern und Angela Merkels Alleinherrschaft in der CDU sind eher Ausnahmen von der Regel.

Der deutsche Politiker plaudert gern

Sechstens: Apropos geschlossene Türen: Deutsche Politiker plaudern überraschend gerne. Aber am liebsten nur off-the-record. In Berlin, so scheint es, wird die wirkliche Politik in den Cafés, Restaurants und Kneipen gemacht: In Sofaecken und Hinterräumen schmiedet man Bündnisse, sägt Kandidaten ab und entwirft steile Karrierepfade. In London, selbst in Westminster, sind die Pubs zu voll, man sitzt sich quasi auf dem Schoß, die Sitzkissen sind zu vollgesaugt mit Ale-Gestank und dem Staub von Jahrhunderten, um noch als Schalldämpfer zu wirken. Die Intrigen und Allianzen werden deshalb einfach gleich am helllichten Tag geschmiedet, am liebsten auf den Meinungsseiten von Guardian, Times und Telegraph. Bei deutschen Politikern schwer vorstellbar: Ein Interview pro Jahr in der FAZ, vielleicht ein Profil im Spiegel, damit ist bei den meisten deutschen Ministern der Kommunikationsbedarf gedeckt.

Siebentens: Die Debatte über Politik in Deutschland ist bestenfalls prinzipienfest, im schlimmsten Fall total verkopft. Das liegt auch daran, dass Politiker den Edelfedern aus dem Feuilleton die Bühne überlassen. In Großbritannien ist die Lage zudem deshalb anders, weil es noch einen dritten Mitspieler bei politischen Debatten im öffentlichen Raum gibt: die Denkfabriken. Von denen gibt es zwar theoretisch im United Kingdom genau so viele wie in Germany, auch sind ihre Motive nicht immer durchsichtig und ihr wissenschaftlicher Anspruch unterschiedlich hoch. Aber in Großbritannien haben sie mehr Elan und Profil: Think Tanks kurbeln mit Meinungsbeiträgen, Studien und öffentlichen Diskussionen die Debatte an. Weltweit genießen Ebert-, Böll- und Adenauer-Stiftung einen guten Ruf, in Deutschland treten sie aber fast lautlos und im Schatten der Parteien auf.

Achtens: Die Debatte innerhalb der Politik in Deutschland ist genau das Gegenteil von verkopft. In Großbritannien werden Intellektuelle traditionell eigentlich eher kritisch beäugt. In der Politik jedoch kommt keine Partei mehr ohne ihren eigenen Hof-Intellektuellen aus. Bei den Tories philosophiert Jesse Norman über Edmund Burke, bei Labour schwadroniert Maurice Glasman von Karl Polanyi, und es entstehen daraus große Ideen wie „The Big Society“ oder „One Nation Labour“. In Deutschland konzentriert man sich auf Details, auf Gesetzgebung, auf pragmatisches Regieren. Vor großen Ideen hat man hier scheinbar zunehmend Angst.

Neuntens: Bemerkenswerterweise ist die Politikverdrossenheit in Deutschland trotzdem noch nicht ganz so weit fortgeschritten wie im Vereinigten Königreich. Es gibt hierzulande wirklich noch junge Menschen, die in die Politik eintreten. Es mag pervers klingen, die Grünen angesichts ihres desaströsen Ergebnisses bei der Bundestagswahl zu loben, aber kaum eine andere Partei schafft es, den Idealismus junger Menschen ähnlich zu bündeln. Ein englischer Freund, der vor kurzem nach Berlin zog, trat prompt aus der Labour-Partei aus und meldete sich als Mitglied bei den Grünen an. „These are people I can work with“, sagte er – dabei kann er in Deutschland nicht mal wählen.

Zehntens: Britische Politiker wissen mehr über Deutschland als deutsche Politiker über Großbritannien. Das war einmal umgekehrt, und ist umso bemerkenswerter, da deutsche Zeitungen in der Regel jede Menge über Großbritannien berichten, aber britische Zeitungen traditionell eher wenig über Deutschland. Spreche ich mit deutschen Politikern über Großbritannien, höre ich viele Klischees über „Common Sense“, Pragmatismus, Meinungsfreiheit und böse Banken, und wenig darüber, was in Westminster gerade wirklich diskutiert wird. Unter den jüngeren Abgeordneten von Labour, LibDem und den Tories hingegen gibt es nur noch wenige, die nicht eine kluge und gut informierte Unterhaltung über Mini-Jobs, Sparkassen und „the middlestand“ halten können – trotz, oder vielleicht gerade wegen des eher geringen Europaverständnisses dieser Generation. Vor ein paar Wochen meldete sich ein ehemaliger Labour-Minister bei mir: Er hätte gelesen, wie die deutschen Schornsteinfeger ihre Lehrlinge rekrutieren, und ob ich ihm darüber noch mehr erzählen könne. Strange times.

Sind die Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland also größer als die Gemeinsamkeiten? Ich sage ja. Aber solange wir aus den Unterschieden etwas lernen können, ist das eigentlich kein Problem.

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