Wo die Verfassung als Heilige Schrift gilt

Die Historikerin Jill Lepore ordnet die Tea Party kunstvoll in den Kontext der amerikanischen Geschichte ein

Jeder in Europa kennt Sarah Palin, die ehemalige Gouverneurin von Alaska, seitdem John McCain sie vor drei Jahren überraschend zur amerikanischen Vizepräsidentschaftskandidatin machte. Inzwischen hat sie ihr Amt aufgegeben und ist zu einer „Celebrity“ in Medien und Öffentlichkeit geworden, jedenfalls so lange, wie sie die Spannung nähren kann, ob sie für die Republikaner 2012 ins Rennen gegen Barack Obama gehen will. Die Vorstellungen von der politischen Bewegung, die sie nicht geschaffen hat, aber deren unumstrittener Star sie ist, sind dagegen auf dieser Seite des Atlantiks schon wesentlich diffuser: Was ist eigentlich die „Tea Party“, die Anfang 2009, kurz nachdem Obama ins Weiße Haus eingezogen war, die amerikanische Politik aufmischte?

Eine politische Partei gewiss nicht; auch nicht ein „Flügel“, wie man im deutschen Polit-Sprech sagen würde, der Republikanischen Partei, obwohl es seit 2010 in beiden Häusern des Kongresses einen „Tea Party Caucus“ gibt, also eine feste parlamentarische Gruppierung, für die der deutsche Begriff der „Fraktion“ aber wiederum zu stark wäre. Ganz sicher ist die Tea Party eine populistische Bewegung, die in vieler Hinsicht an ältere Traditionen des amerikanischen Populismus anschließt und auch manche Überschneidungen mit den neueren europäischen Populismen kennt. Schärfere Einwanderungsbestimmungen, eine Abdichtung der Grenze nach Mexiko stehen auf ihrem Programm, und überhaupt steht die Tea Party zweifellos – erst recht aus der Perspektive der so zentristisch gewordenen deutschen Politik! – im konservativen Lager.

Rechtsextrem ist die Tea Party nicht

Aber sie ist nicht rechtsextrem, was im europäischen Koordinatensystem ja das Verlassen der Demokratie, wenn nicht schon einen Krypto-Nazismus bedeutet. Überhaupt betreibt sie nicht in erster Linie eine gesellschaftspolitische Agenda – Einwanderung, Sozialpolitik, Abtreibung – sondern wird von einer tief sitzenden Abneigung gegen das „big government“ getrieben, womit zuerst, und manchmal ausschließlich, der Washingtoner Bundesstaat gemeint ist. Wieso maßt er sich immer mehr Aufgaben an, und warum müssen wir dafür immer mehr Steuern bezahlen, so fragen die Anhänger der Tea Party. „Taxed Enough Already“, so wird das „TEA“ dann auch interpretiert. Dieser Slogan greift ein uraltes und parteipolitisch gar nicht unbedingt festgelegtes amerikanisches Grundgefühl auf: Schon im 18. Jahrhundert war der Steuereinnehmer im Volke so verhasst wie in Europa der Adel. Der soziale Konservatismus, der in den Vereinigten Staaten im Bündnis mit der evangelikalen Bewegung seit langem im Vordergrund gestanden hat, fühlt sich von diesem „libertären“ Ansatz, wie er sich selber auch nennt, durchaus bedroht.

Über all das kann man sich durch die Lektüre eines unendlichen Stromes von Politiker-Büchern informieren, die im jetzigen Vorwahlkampf erst recht munter sprießen, aber als Genre, von Ausnahmen abgesehen, genauso langweilig sind wie in Deutschland. Oder man kann das Buch von Jill Lepore lesen, einer Harvard-Historikerin, die zu einer kleinen Gruppe auch politisch-intellektuell engagierter Sozial- und Geisteswissenschaftler in den USA gehört. Fachlich ist sie Spezialistin für die Kolonialzeit des 17. und 18. Jahrhunderts, und ihre Bücher, zum Beispiel über blutige Rassenkonflikte in New York 1741, haben höchstes Lob erhalten. Daneben schreibt sie regelmäßig für den New Yorker, das Paradeblatt der liberalen Ostküsten-Intellektuellen, und spürt in brillant geschriebenen Essays den Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart nach.

Moment mal, sagt die Historikerin

Um diese Verflechtung geht es auch in ihrem neuen Buch über die Tea Party, denn vor allem bezieht sich der Name der Bewegung auf die „Boston Tea Party“ von 1773, ein Ereignis so klassisch für die amerikanische Revolution wie der Bastillesturm für die französische. So wie die Bostoner im Widerstand gegen die englische Unterdrückung den Tee der East India Company in den Hafen kippten, fühlt man sich jetzt zum Widerstand gegen eine Unterdrückung, jedenfalls Freiheitseinschnürung, durch die eigene Bundesregierung berufen. „No taxation without representation“ hieß es vor fast 250 Jahren; jetzt werden nur noch die beiden ersten Worte hochgehalten, unter Berufung auf die „Gründerväter“ von einst, deren Absichten man wieder ernst nehmen müsse.

Moment mal, sagt Jill Lepore, und unterzieht diese politische Instrumentalisierung der Geschichte einer subtilen Generalkritik. Insofern ist ihr Buch eine Fallstudie über Geschichte als Argument in der politischen Auseinandersetzung – das müsste uns in Deutschland ja bekannt vorkommen, auch wenn die Themen und Wertmaßstäbe meist ganz andere sind. In der Auseinandersetzung mit der Tea Party von heute lässt sie die Geschichte der amerikanischen Revolution in Boston lebendig werden; sie rekonstruiert das Alltagsleben und die Konflikte jenseits einer verklärten Welt der edlen und freiheitsliebenden Perückenträger. Für die meisten war das Leben arm, dreckig und gefährlich; für Frauen hielt es kaum die Aussicht auf Bildung bereit. Wollen wir dahin zurück? Und dann kamen nicht nur Schiffe mit Tee an, den sich überhaupt nur die Mittel- und Oberschichten leisten konnten, sondern auch Schiffe mit afrikanischen Sklaven, an deren Unfreiheit sich viele der eloquenten Kämpfer für die Freiheit gar nicht störten.

Das ist auch der aktuelle Hintersinn des Buchtitels „Das Weiße in ihren Augen“: Die Tea Party-Bewegung verkläre, so Lepore, in ihrer Sicht des 18. Jahrhunderts eine vermeintlich rein weiße Welt, frei von den komplizierten Rassenkonflikten der Gegenwart, frei von der Zumutung eines Präsidenten mit dunklerer Hautfarbe und afrikanischem Vater. Diese These ist sehr zugespitzt und vielleicht nicht ganz überzeugend. Zwar ist die Tea Party dezidiert eine weiße Bewegung (mit einem sozialen Schwerpunkt in der unteren Mittelschicht); und unbestreitbar grundiert ein manchmal gar nicht so subtiler Rassismus den schrillen Teil der Abneigung gegen Barack Obama. Aber konstitutiv für die Tea Party erscheint mir dieser Rassismus nicht.

Zurück zu den Gründervätern

Der Hinweis auf die Geschichte des späten 18. Jahrhunderts, auf den Unabhängigkeitskampf und die Bundesverfassung von 1787, hat für die neue Protestbewegung aber mehr als nur eine illustrative oder nostalgische Funktion. Der Aufruf, zurück zu den Gründervätern zu gehen, ist wörtlich gemeint in einem Sinne, den man sich in Europa kaum vorstellen kann. Bis in die ernsthafte Verfassungstheorie hinein reicht der „constitutional originalism“, der die Bestimmungen der amerikanischen Verfassung möglichst unverändert bis heute gelten lassen will. Eine progressive Einkommensteuer war damals noch nicht vorgesehen, ebenso wenig wie staatliche Sozialprogramme? Dann darf es sie in dieser reinen Lehre auch heute nicht geben, wenn man der Verfassung treu bleiben will. Jill Lepore nennt diese Art des Originalismus unumwunden einen Fundamentalismus, denn um eine Historisierung geht es ja gerade nicht, in der den ganz anderen Umständen und Denkkategorien Rechnung getragen würde. Stattdessen wird die Verfassung auf ein ahistorisches Podest gestellt, das so unmittelbar zu uns sprechen soll wie die Heilige Schrift zu den evangelikalen Christen.

Eine ganz einfache Lektüre ist Jill Lepores Buch nicht, aber dafür besticht es mit einer kunstvollen Komposition, in der drei Zeitebenen miteinander verflochten werden: die Gegenwart, das späte
18. Jahrhundert – und die sechziger und siebziger Jahre, denn Lepore verwendet die Konflikte um die Vorbereitung der 200-Jahr-Feiern der Unabhängigkeit in der Regierung Nixon als Folie für die heutigen Debatten über die Erinnerung an die Revolution. Sie zeigt damit aber auch: Die Tea Party fiel Anfang 2009 nicht vom Himmel, sondern wurzelt in den damaligen Kulturkämpfen und ist Teil einer Reaktion auf eine vermeintlich linke Umdeutung der Geschichte seit den sechziger Jahren.

Virtuos ist auch das Spiel mit den Genres der Darstellung: in einem Moment politischer Traktat, dann quellennahe Geschichtsschreibung, dann sogar Reportage im „ich“-Stil, wenn die Verfasserin beschreibt, wie sie sich quasi zu Studienzwecken unter Versammlungen der Tea Party in Boston gemischt hat. Und schließlich lohnt die Lektüre ganz einfach schon deshalb, weil man darin eine Historikerin und profilierte Intellektuelle kennenlernt, die in Europa noch weithin unbekannt ist. «

 Jill Lepore, The Whites of Their Eyes: The Tea Party’s Revolution and the Battle over American History, Princeton: Princeton University Press 2010, 207 Seiten, 14,99 Euro 

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