Wieder auf Augenhöhe

Ins Kanzleramt wird Martin Schulz nur einziehen, wenn die SPD die Union hinter sich lässt. Doch mit welcher Strategie kann er den Stimmungswechsel in eine Wechselstimmung überführen?

Nachdem die SPD bei den beiden letzten Bundestagswahlen auf verlorenem Posten kämpfte, spielt sie jetzt zum ersten Mal seit 2005 wieder auf Sieg und schickt sich an, als führende Regierungspartei die Union und Angela Merkel aus dem Kanzleramt zu vertreiben. Die Mobilisierung, die durch den neuen Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden Martin Schulz in der Partei selbst und in der Wählerschaft eingetreten ist, bestätigt diejenigen, die die Sozialdemokraten schon seit Längerem für deutlich unterbewertet gehalten hatten.

Während CDU und CSU aufgrund der neu entstandenen Konkurrenz der rechtspopulistischen „Alternative für Deutschland“ fürchten müssen, mittel- oder längerfristig unter die 35-Prozent-Marke gedrückt zu werden, kann die SPD auf der Bundesebene die lange Zeit unerreichbare Schwelle von 30 Prozent in den Umfragen wieder überspringen und damit zur anderen Volkspartei aufschließen. Galt die Position der Union als stärkste Partei bis zu Martin Schulz’ Kandidatur als ungefährdet, ist aus dem ungleichen Duell zwischen den Noch-Regierungspartnern seither ein Duell „auf Augenhöhe“ geworden.

Wer am Ende die Nase vorne haben wird, hängt vom Verlauf des Wahlkampfes ab. Dabei können auch äußere Einflüsse und nicht vorhersehbare Ereignisse eine Rolle spielen. Der Sieg des pro-europäischen Kandidaten Emmanuel Macron bei der französischen Präsidentschaftswahl wird wahrscheinlich eher Schulz und der SPD, ein terroristischer Anschlag im Vorfeld der Wahl würde eher Merkel und der Union nützen. Solche Ereignisse, mit denen die Akteure kurzfristig „umgehen“ müssen, können die Planungen des Wahlkampfs unter Umständen durchkreuzen und eine für den Ausgang des Rennens ausschlaggebende Bedeutung gewinnen. Je offener dieser Ausgang ist, umso mehr kommt es auf zielgerichtetes Handeln und die passende Strategie an.

Drei miteinander verbundene Aufgaben beziehungsweise Herausforderungen sind im Rahmen der Strategieplanung anzugehen: die programmatische Aufstellung, die Zielgruppenansprache und die koalitionspolitische Positionierung. Die SPD steht dabei – genauso wie die Union – vor dem Problem, dass sie den Wettbewerb nach zwei Seiten hin führen muss: Auf der einen Seite kämpft sie in der Auseinandersetzung mit CDU und CSU, aber auch mit Grünen und FDP, um die Wähler aus der politischen Mitte, auf der anderen Seite möchte sie diejenigen zurückgewinnen, die 2009 und 2013 zur Linkspartei abgewandert sind oder sich in die Nichtwahl geflüchtet haben. Einen vergleichbaren Spagat muss die Partei bewältigen, wenn sie eine Abwanderung potenzieller Wähler zu den Rechtspopulisten verhindern will. Diese Wähler fühlen sich häufig in sozialökonomischer Sicht benachteiligt und stören sich gleichzeitig an zu liberalen Positionen in der Zuwanderungs- und Gesellschaftspolitik.

In welche Richtung soll die SPD Signale senden?

Programmatisch birgt die Zusammenführung verschiedener Gruppen zu einer möglichst breiten Wählerkoalition schwierige Gratwanderungen. Umverteilungsmaßnahmen, die zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit geboten sein könnten – eine stärkere Belastung von Vermögen, Erbschaften oder höheren Einkommen – würden womöglich viele Wähler aus der politischen Mitte verprellen. Martin Schulz’ Ankündigung, in der Steuerpolitik niemandem etwas wegnehmen zu wollen, erscheint deshalb aus elektoraler Sicht ebenso nachvollziehbar wie die starke Konzentration des Steuerthemas auf Steuervermeidung und unfairen Steuerwettbewerb, obwohl letzteres eher eine Angelegenheit der europäischen oder transnationalen Politik darstellt. Auch das sozialdemokratische Mantra der gebührenfreien Bildung für alle wäre unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten durchaus zu hinterfragen – wahlstrategisch ist es sicherlich sinnvoll.

Um sich den Spielraum zu erhalten, nach den Wahlen und der Erteilung des Regierungsauftrags doch das „Richtige“ zu tun, müsste man den Parteien eigentlich raten, in ihren Aussagen nicht allzu konkret zu werden. Der häufig gehörte Vorwurf, die politischen Akteure würden sich gegenüber ihren Wählern nicht „responsiv“ verhalten und nach den Wahlen etwas anderes tun, als sie vorher angekündigt und versprochen hätten, geht an der Wirklichkeit der parlamentarischen Wettbewerbsdemokratien vorbei. Gerade weil das Regieren heute vielen äußeren Zwängen unterliegt, die die Handlungsmöglichkeiten der Politik stark einengen, fühlen sich die Parteien bemüßigt, auf den für die Bürger besonders wichtigen Feldern der Sozial-, Familien-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik möglichst klare und konkrete Aussagen zu treffen. Der Umfang der Wahlprogramme ist ihrer immer größeren Detailliertheit geschuldet. Die genauen Aussagen dürften zwar nur den wenigsten Wählern bekannt sein oder sie interessieren. Sie binden die Parteien jedoch in den späteren Koalitionsverhandlungen und -vereinbarungen, die wiederum das Regierungshandeln in hohem Maße vorprägen. Weicht eine Partei von diesen Festlegungen ab, wie die SPD mit ihrem sozial- und arbeitsmarktpolitischem Kurswechsel nach der Bundestagswahl 2002, muss sie damit rechnen, von den Wählern abgestraft zu werden.

Was für die Programme gilt, gilt auch für die Koalitionen. In einem Sechs-Parteien-System, wie es sich nach der Bundestagswahl abzeichnet, können Union und SPD nicht mehr davon ausgehen, mit ihren Wunschpartnern – bei der Union die FDP und bei der SPD die Grünen – alleine eine regierungsfähige Mehrheit zu erreichen. Soll es nicht bei der Großen Koalition bleiben, muss ein dritter Partner hinzukommen. Die SPD hat hier gegenüber der Union den vermeintlichen Vorteil, dass sie über zwei Optionen verfügt: Sie kann das rot-grüne Kernbündnis um die FDP oder die Linken erweitern – während CDU und CSU nur mithilfe der Grünen regieren könnten.

Koalitionsstrategisch entpuppt sich der Vorteil allerdings eher als Nachteil. Denn was bei der programmatischen Positionierung möglich ist – gleichzeitig nach der Mitte und nach links zu blinken – geht in der Koalitionsfrage gerade nicht. Anders als es die Rede vom „Offenhalten“ der Koalitionsaussage suggeriert, muss sich die SPD also schon vor der Wahl entscheiden, in welche Richtung sie ihre Signale senden will. „Offenhalten“ heißt zunächst nur, dass man bestimmte Partner nicht von vornherein ausschließt, wie es die SPD 2013 gegenüber der Linkspartei getan hatte. Wenn Mehrheiten für die Wunschkoalitionen außer Reichweite sind, muss eine Koalition ja dennoch gebildet werden. Haben die Parteien dabei mehrere Optionen, erwarten Wähler und Öffentlichkeit von ihnen aber verlässliche Hinweise, welches der möglichen Bündnisse sie präferieren beziehungsweise anstreben.

Die Lehre aus der Saarland-Wahl

Mit der Landtagswahl im Saarland ist für die SPD in dieser Hinsicht schneller Klarheit eingetreten, als die einen erhofft und die anderen befürchtet haben. Die Akzeptanz einer Koalition mit der Linkspartei bleibt in den eigenen Reihen und in der Wählerschaft so gering, dass koalitionspolitische Signale in diese Richtung aus elektoraler Sicht kontraproduktiv wären. Stattdessen stehen die Zeichen auf „Ampel“. Die wenig geliebte FDP braucht dabei als Partner weder besonders thematisiert noch umworben zu werden – es genügt, dass die Option als solche öffentlich im Raum steht. Das Risiko, dass die Liberalen einem Zusammengehen mit SPD und Grünen bereits vor der Wahl eine Absage erteilen, dürfte diesmal gering sein. Nach den schlechten Erfahrungen, die sie in der schwarz-gelben Regierung von 2009 bis 2013 machen musste, hat die FDP keinen Grund, sich erneut ausschließlich auf die Union als Koalitionspartner zu kaprizieren. Auch der Ausgang der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen könnte eine Rolle spielen. Kommt es in Düsseldorf zu einem rot-gelben Bündnis, hätte das zweifellos Signalwirkung für den Bund.

Eine arithmetische Mehrheit für eine Ampelkoalition erscheint allerdings nur unter zwei Voraussetzungen denkbar. Entweder die SPD wird stärkste Kraft, oder mindestens eine der beiden als nicht-koalitionsfähig geltenden Parteien (Linkspartei und AfD) bleibt unterhalb der Fünf-Prozent-Marke. Der letztgenannte Fall ist von heute aus betrachtet weniger wahrscheinlich als der erste. Würde die SPD als stärkste Partei vor der Union liegen, hätte sie wiederum die Möglichkeit, anstelle einer Ampel die jetzige Große Koalition unter anderen Vorzeichen – mit ihr selbst als „Seniorpartner“ – einfach fortzusetzen. Vermutlich dürfte das sogar die Option sein, mit der Martin Schulz und ein Großteil der Führungsriege insgeheim am meisten liebäugeln, die sie aber öffentlich so gut es geht verstecken müssen.

»Nicht alles anders…« war kein dummes Motto

Umgekehrt gilt dasselbe für die Union: Bleibt sie stärkste Partei, wird ihr die SPD den Regierungsauftrag kaum streitig machen können – an den Gesetzmäßigkeiten der Koalitionsbildung würde auch ein „gefühlter“ Wahlsieg nicht vorbeiführen. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, warum die Sozialdemokraten einen durchaus bedeutsamen Teilaspekt dieser Gesetzmäßigkeiten in der Vergangenheit stets widerspruchslos hingenommen haben: nämlich den besonderen Status der CDU/CSU. Die Vorteile, die die beiden Unionsschwestern daraus ziehen, dass sie mal als getrennte Parteien (innerhalb der Regierung, teilweise innerhalb der gemeinsamen Fraktion, beim Wahlrecht, bei der Zumessung von Sendezeiten und so weiter) und mal als eine Partei auftreten (bei der Addition der Stimmenergebnisse), stellen einen Verstoß gegen die Wettbewerbsgleichheit dar, den man rechtlich und politisch viel stärker „delegitimieren“ müsste. Die Chance dafür hätte zum Beispiel eine Wahlrechtsreform geboten, an der die SPD jedoch aus anderen Gründen nicht interessiert war.

Martin Schulz kann den Weg ins Kanzleramt also nur schaffen, wenn er die SPD wieder zur stärksten Partei macht. Dazu muss er den Stimmungswechsel, den seine Kandidatur innerhalb der Partei und in einem Teil der Wählerschaft ausgelöst hat, in eine Wechselstimmung überführen. Schulz‘ „unbelastete“ Rolle als Nicht-Regierungsmitglied, die lange Amtszeit von Angela Merkel , das unionsinterne Zerwürfnis und der günstige Landtagswahlkalender sorgen dafür, dass Kandidat und Partei diesmal über eine deutlich bessere Ausgangsposition verfügen als 2013 oder 2009. Ein Überdruss an der nach wie vor beliebten Kanzlerin ist unter den Wählern bisher aber ebenso wenig auszumachen wie das Bedürfnis nach einem grundlegenden Politikwechsel. Die SPD dürfte deshalb am besten fahren, wenn sie in der Wähleransprache dem Motto folgt, „nicht alles anders, aber vieles besser“ machen zu wollen, das bereits 1998 bei Gerhard Schröders Wahlsieg Pate stand. Dass Schröder damals ebenfalls auf eine Große Koalition spekuliert und mit Rot-Grün gar nicht gerechnet hatte, ist später in Vergessenheit geraten.

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