Wie der Graben zugeschüttet werden kann

Im aufgeheizten politischen Klima der Jahre 2015/2016 gaben die Christdemokraten ein klägliches Bild ab. Jetzt könnte der Partei gerade noch rechtzeitig ein Comeback gelingen. Doch dafür muss sie sich auf ihre alte Kraft zur Integration besinnen

Aus dem CDU-Wahlkampf des Jahres 2013 ist nur ein Satz in Erinnerung geblieben: „Sie kennen mich.“ Unvergessen ist indes das Wahlergebnis: Die Kanzlerin wurde mit sagenhaften 41,5 Prozent wiedergewählt, das klingt heute wie eine Nachricht aus einer anderen Welt. Das Schreckgespenst AfD hatte damals gerade erst begonnen, sein Unwesen zu treiben.

Inzwischen hat der fast messianische Auftritt von Martin Schulz als Herausforderer von Angela Merkel auch auf die Union positiv gewirkt: Das unerwartete Wiedererstarken der SPD, wie lange es auch immer anhalten mag, hat die Schockstarre der Christdemokraten angesichts der Bedrohung von rechts gelöst. Jetzt ist die Welt zumindest in dieser Hinsicht wieder in Ordnung: Im September treten wie gewohnt „zwei große Volksparteien“ gegeneinander an. Für die CDU wird es darauf ankommen, ihre christdemokratischen Getreuen zu mobilisieren, Abtrünnige zurückzuholen und die verunsicherte Bevölkerung insgesamt davon zu überzeugen, dass Angela Merkel nicht erschöpft und die CDU in der Regierung erfolgreich ist. Beide Punkte sind keine Selbstläufer.

Auch Martin Schulz ist angreifbar. Jeder ist es. Doch Angela Merkels Strategie war immer, den politischen Gegner nicht brutal zu zerlegen, sondern ihn sanft an den Rand zu drängen, die eigene Überlegenheit ruhig und sachlich auszuspielen, besonnen ihre Qualitäten zu zeigen, Vertrauen zu wecken. Dem Land dienen – das ist ihre demütige, preußisch-protestantische Grundhaltung. Sie habe dem Land noch etwas zu geben, sagte sie konsequenterweise in der Begründung für ihre erneute Kandidatur. Sie hätte schließlich schlecht sagen können: Ich habe keinen Nachfolger angelernt, ich bin ja auch nicht blöd und demontiere mich selbst! Jedenfalls muss sie ran – und damit ist keine Runderneuerung ihrer Person oder ihrer Angriffstechnik verbunden. Vielmehr steht Angela Merkel ein aufklärerischer Akt bevor: Sie muss eine politische Erfolgsbilanz vorzeigen, die destruktiven Argumenten von rechtsaußen, mitterechts und links standhält. Sie muss die vereinfachenden wie unbestimmten, aber eben einprägsamen Rufe nach „Obergrenzen!“ und „Gerechtigkeit!“ vernehmbar kontern.

Da ihr Wesen nach Vernunft verlangt und nicht nach scharf gewetzten Messern, wird Angela Merkel glaubwürdige Sekundanten in Stellung bringen müssen, um die christdemokratischen Erfolge in der Regierungszeit zu bezeugen. Dabei sollten die erfahrene Kanzlerin und die Granden der von ihr modernisierten CDU positive Botschaften parat haben und darlegen, wie die Sicherheit im Land und nach außen zu gewähren ist. Wie sie den Mittelstand, den freundlichen Teil der skeptisch betrachteten Wirtschaft, florieren lässt. Wie sie die Qualität der Bildung verbessert und mehr Menschen zu validen Abschlüssen führt. Wie sie der Energieversorgung und der Landwirtschaft eine umweltfreundliche Zukunft eröffnet. Wie sie Haushalt, Verwaltung und Steuersystem vereinfacht. Wie sie den Puls der Europäischen Union stabilisiert. Wie das Gesundheitssystem fortschrittlich bleibt und die Pflege menschlicher wird. Wie sie Kultur tradiert und pflegt – und zugleich der Avantgarde sowie den Bedürfnissen von Migranten Raum gibt.

Warum wohl warnt Merkel vor »Hass im Herzen«?


Wenn es gut läuft, bilden diese Antworten ein kompaktes Bündel, aus dem ersichtlich wird, dass die CDU für Sicherheit und Freiheit steht und „soziale Ungleichheit“ wirksam bekämpft. Letztere zu widerlegen oder deren Existenz anzuzweifeln, wird nicht gelingen. Allzu farbenfroh haben politische Gegner jeder Provenienz das Bild von der auseinanderklaffenden Schere gemalt, die den Wohlstand gefährde und die Gesellschaft zerschneide, und mit dem Fixativ der German Angst gegen sachliche Argumente imprägniert.

Die C-Parteien sollten die Rückkehr der Religion in die öffentliche Debatte um Werteorientierung für sich nutzen. Ihre Protagonisten müssen dabei offensiv argumentieren und Widerspruch standhalten. Gerade im Jahr eines Evangelischen Kirchentags und des Reformationsjubiläums sollte dieses Feld nicht bekennenden Sozialdemokraten und Bündnisgrünen überlassen werden. Und noch etwas zählt: Ein allfälliger Vorwurf lautet, politisch Verantwortliche träten allzu geschmeidig auf, seien austauschbar und als überzeugte und überzeugende Charaktere zu wenig erkennbar. Ein Politiker wird als Person über seine Glaubensgrundsätze greifbar, übrigens auch menschlich in seiner Fehlbarkeit. Warum wohl warnt Angela Merkel in alttestamentarischer Deutlichkeit vor dem „Hass im Herzen“? Das gewählte Bild sprengt den Rahmen des Politischen und zeigt Person und Haltung.

Angela Merkel kann festen Schrittes auf die gemäßigte und etwas vernachlässigte Mitte der Gesellschaft zugehen, insbesondere, wenn der politische Gegner sich – wie im Wahlkampf 2013 – vornehmlich auf Minderheiten und Spezialinteressen konzentriert. Dort, wo Wähler Europa schätzen, von der wirtschaftlichen Lage des Landes profitieren, Steuern zahlen und dafür vom Staat Schutz, Infrastruktur und ein ertüchtigendes Bildungssystem erwarten, ist Platz für die Union, sofern diese bereit ist, Kontroversen auch mit wertkonservativer Munition auszufechten.

Die deutschen Wähler haben es allerdings nicht so gern, wenn Streit geführt wird und sie aus ihrer Ruhe gerissen werden. Das aber taten die Flüchtlinge Ende 2015 offenkundig – sie, die mehrheitlich Sicherheit und Stabilität suchten, lösten einen gewaltigen Reflex aus. Überraschend zeigten sich in Teilen der vermeintlich überzeugt demokratischen und toleranten deutschen Wohlstandsgesellschaft Facetten von Religions- und Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie, Hybris und Nationalismus, Hass und Gewaltbereitschaft. Es waren nicht zuerst arme oder notleidende Deutsche, die hysterisch reagierten. Die AfD zog vor allem im Westen ältere, männliche Durchschnittsverdiener an, die sich ausgeliefert fühlen und ihre Welt nicht mehr verstehen – obwohl sie de facto selbst nichts zu befürchten haben.

Was geflissentlich übersehen wird: Die staatlichen Institutionen und die Zivilgesellschaft haben bewiesen, wie stabil sie sind und wie viel sie leisten können. Während das unsägliche Landesamt für Gesundheit und Soziales gerade deswegen in den Blick geriet, weil die politisch-administrative Überforderung des Berliner Senats die Ausnahme war, verspielte die CSU in Bayern die Chance, die hohe Leistungsfähigkeit der örtlichen Verwaltungen und die Solidarität der Bevölkerung ins rechte Licht zu rücken.

Demokratie, Staatsräson und Wohlstand

Eine rationale Debatte war im aufgeheizten Klima 2015/2016 kaum möglich, es gellte nur noch „dafür!“ oder „dagegen!“, beide Positionen lautstark untermauert mit dem Anspruch, doch nur das allerbeste zu wollen. So entstand eine Lähmung, in der öffentliche Aushandlungsprozesse unmöglich geworden waren und in der sich die AfD-Anhängerschaft vermehren konnte, ohne dass die Partei selbst etwas dazu beitragen musste. Auf der CDU als stärkster Regierungspartei lag in dieser Zeit die größte Last, und sie hat dabei ein klägliches Bild abgegeben. Weder hat sie die nach rechts Ziehenden aufgehalten, noch die Getreuen bestärkt oder mit vernünftigen Argumenten versorgt. Zwischen der Partei und ihrer Vorsitzenden klaffte ein Graben auf, der erst jetzt, wahlkampfbedingt, zugeschüttet wird.

50 Jahre nach dem Tod von Konrad Adenauer kann sich die CDU offensiv als kluge Erbin und weitsichtige auf ihre erwalterin der Errungenschaften Demokratie, Staatsräson und Wohlstand zeigen – und nicht zuletzt als prägende Kraft in der Sozialpolitik. Sie muss sich auf ihre Integrationskraft besinnen. Ob sie den Mut hat, auch mit Blick auf die Flüchtlingsintegration so weit zu gehen, wie Willy Brandt 1972, der in unübersichtlicher Lage mit dem Slogan „Deutsche – wir können stolz sein auf unser Land“ in den Wahlkampf zog und einen grandiosen Sieg davontrug? Die CDU sollte sich jedenfalls vor Augen führen, dass der Aufstieg von Populisten weniger deren charismatischen Führungspersonen, als vielmehr dem Versagen der Parteien der Mitte zuzuschreiben ist.

In seligen Zeiten von Helmut Kohl, als die Partei mit verkrusteten Strukturen und an ihren Posten klebenden Patriarchen haderte, diente das Sprüchlein „Augen zu und CDU“ dazu, die Zweifel Getreuer in der Wahlkabine mit ein wenig Ironie zu zerstreuen. Analog dazu könnte das Duo Tauber/Altmeier heute mit dem Satz „Gut für Dich: ‚Sie kennen mich‘“ Humor beweisen. 

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