Wie Brasilien mit Keynes aus der Krise kam

In der Ära Lula/Rousseff hat Brasilien einen nachfrageorientierten Wirtschaftskurs verfolgt. Wachstum, steigende Beschäftigung und sinkende Ungleichheit deuten darauf hin, dass (unter bestimmten Bedingungen) mit Keynesianismus auch im 21. Jahrhundert durchaus noch Staat zu machen ist

In Deutschland halten viele Austeritätspolitik für den einzig möglichen Weg aus der Krise. Dabei zeigen prominente Beispiele, dass es klügere und erfolgreiche Rezepte gibt, wenn die Wirtschaft angeschlagen ist. Beispiel Brasilien: Dort hat sich gezeigt, dass keynesianische Politik nicht nur gerechtere Zustände schafft, sondern auch die Wirtschaft wieder in Schwung bringt. Das ist umso bemerkenswerter, als das Land in den neunziger Jahren in eine tiefe Finanzkrise stürzte, die mit sozialen und wirtschaftlichen Rückschritten einherging. Selbst noch zu Beginn des neuen Jahrtausends bestand wenig Anlass zur Hoffnung. Doch dann kam es unter Präsident Lula da Silva zu einer Trendwende – und zu einem Revival keynesianischer Wirtschaftspolitik.

Lange galt Brasilien als „Schwellenland“. Die Brasilianer selbst bezeichneten es als „Land der Zukunft“ – um stets wehmütig zu betonen, diese Zukunft werde leider nie eintreten. Denn die Phasen ökonomischen Booms wurden immer wieder jäh durch wirtschaftliche und politische Krisen unterbrochen. Der Aufbruch in die Zukunft endete stets ebenso rasch, wie er begonnen hatte. Kritische Ökonominnen und Ökonomen aus dem Umfeld der CEPAL, der UN-Kommission für wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika, machten für die wirtschaftliche Stagnation vor allem zwei Gründe verantwortlich: Erstens war Brasilien aufgrund des Exports von Rohstoffen abhängig von den wirtschaftlich dominanten Weltregionen, während es Industrieprodukte importieren musste. Zweitens behinderte die extrem hohe soziale Ungleichheit die Entwicklung des Binnenmarktes, weil die Mehrheit der Bevölkerung zu wenig Einkommen hatte, um ausreichend zu konsumieren. Brasilien gehörte stets zu den Ländern mit der weltweit höchsten Einkommens-ungleichheit.

In den sechziger Jahren stießen die Bestrebungen der demokratisch gewählten Regierung, diese beiden Probleme mittels „Strukturreformen“ zu bekämpfen, auf den Widerstand großer Teile der Ober- und Mittelschichten, die sich vor dem „kommunistischen Geist“ der Umverteilung zugunsten der Armen fürchteten. Im Jahr 1964 kam es zu einem Militärputsch. Die bis Mitte der achtziger Jahre andauernde Militärdiktatur setzte auf „Importsubstitution“ ohne Umverteilung. Im Zuge der Schuldenkrise der achtziger Jahre musste das Regime abdanken. Der soziale Reformgeist wurde wiederbelebt. Die brasilianische Verfassung von 1988 wurde als „Bürgerverfassung“ bekannt, da sie mit noch nie dagewesener Beteiligung der Bürger erarbeitet wurde und bahnbrechende neue soziale Rechte etablierte.

Gleichzeitig kam während der achtziger Jahre eine Hyperinflation auf, die Anfang der neunziger Jahr zu einem endemischen Problem wurde. Nachdem erste Versuche der Inflationsbekämpfung seitens der CEPAL-Ökonomen nicht fruchteten, wurden ab 1990 neoliberale Rezepte ausprobiert: Zuerst sollte der Binnenmarkt nicht mehr von außen abgeschottet, sondern durch Liberalisierung und Privatisierung stärker dem Konkurrenzdruck unterliegen und somit wettbewerbsfähiger werden. Doch auch dadurch verbesserte sich die Situation nicht. Erst als Präsident Fernando Henrique Cardoso, ein ehemaliger Marxist aus dem Umfeld der CEPAL, 1994 im Rahmen des „Plano Real“ die brasilianische Währung überbewertete und an den Dollar koppelte, ging die Inflationsrate entscheidend und langfristig zurück. In der Geldpolitik wurde neben der Überbewertung auch auf Hochzinspolitik gesetzt. Vergleichbar mit den Maximen der Europäischen Zentralbank war die Währungsstabilität oberste Priorität.

Mit stabiler Währung in die Misere

Die Überbewertung der Währung hatte jedoch unterschiedliche ökonomische Auswirkungen: Einerseits wurden Importe wie zum Beispiel Elektrogeräte billiger, andererseits verschärfte sich die Situation für die Exportindustrie, die ihre Waren nun zu hohen Preisen verkaufen musste. Auch die brasilianische Industrie kam durch die billigeren Importgüter in Bedrängnis. Verschärft wurde die Situation durch die Hochzinspolitik, die produktive Investitionen gegenüber Finanzinvestitionen benachteiligte. Die Außenhandelsbilanzen, besonders die Leistungsbilanz, wurden infolgedessen stark negativ. Denn nun herrschte Kapitalknappheit: Aus dem Ausland musste Kapital importiert werden, um die negative Leistungsbilanz auszugleichen. Auch der Kapitalmarkt wurde liberalisiert. Die wirtschaftlichen Probleme wurden dadurch nur aufgeschoben, aber nicht gelöst: Ende 1998 schlitterte Brasilien auch durch die „Nachwehen“ der Asienkrise von 1997 in eine tiefe Finanzkrise. Schulden wurden verstaatlicht und die Staatsverschuldung stieg sprunghaft von 32,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Anfang 1998 auf 47,1 Prozent zu Beginn 1999. Im Zuge einer weiteren Finanzkrise erreichte sie im Herbst 2002 mit 56 Prozent des BIP schließlich ihren Höchststand.

Die Wirtschaftspolitik war zwar im Hinblick auf die Bekämpfung der Inflation höchst erfolgreich, gleichwohl war der Preis für diesen Erfolg hoch: Die restriktive Geldpolitik führte zu einem Anstieg von Arbeitslosigkeit. Der informelle Sektor wuchs, der in Lateinamerika traditionell als „Auffangbecken“ für die Personen gilt, die im formellen Sektor keine Anstellung mehr finden. Zugleich sank der Durchschnittslohn, die Mittelschicht schrumpfte. Und weil die Staatsverschuldung im Zuge der Finanzkrisen 1998/99 und 2002 gestiegen war, wurden Mittel, die in der Verfassung von 1988 für Sozialpolitik reserviert waren, zur Tilgung des Schuldendienstes umgewidmet.

Die Mittelschichten waren nicht nur von der Verschlechterung des Arbeitsmarktes, sondern auch von der Umstrukturierung und teilweisen Privatisierung öffentlicher Güter besonders betroffen. Während der neunziger Jahre praktizierte Brasilien einen Sozial-Liberalismus: Sozialpolitik sollte effizienter und vor allem „treffsicherer“ werden. Sie sollte den Ärmsten zu Gute kommen, während sich diejenigen, die es sich leisten könnten, privat um Krankenversicherung, Schulen et cetera kümmern sollten. Dadurch mussten Angehörige der Mittelschichten für diese Dienstleistungen mehr Geld aufbringen. Gleichzeitig kam es zu Verschlechterungen der öffentlichen Versorgung, die zunehmend nur noch für diejenigen relevant war, die sich keine besseren privaten Dienstleistungen leisten konnten.

Die politischen und ökonomischen Verhältnisse Brasiliens seit den neunziger Jahren bis 2002 ähnelten der aktuellen europäischen Situation: Die Stabilität der Währung wurde als wichtigstes politischen Ziel gesetzt, private Verluste im Rahmen der Finanzkrise von 1998/99 zu guten Teilen verstaatlicht – und als Folge mussten Gelder durch Privatisierungen und Sparprogramme wieder hereingeholt werden, während die Staatsverschuldung sprunghaft anstieg.

Die Regierung Lula trat 2003 ihr Amt an und leitete schrittweise Veränderungen ein: Das Privatisierungsprogramm wurde gestoppt, Staatsbanken und andere staatliche Betriebe blieben erhalten. In der Geldpolitik wählte die Regierung einen vorsichtigen Kurs und setzte auf einen langsamen Wandel, um die Inflation niedrig zu halten. Lange kritisierten linke Ökonomen die Beibehaltung der Hochzinspolitik als Relikt neoliberaler Politik. Diese Kritik übersah jedoch andere wichtige Reformen, die in Lulas erster Amstzeit von 2003 bis 2006 eingeleitet und dann während seiner zweiten Amtszeit 2007 bis 2010 vertieft wurden.

Lula definierte als zentrale Priorität der Regierung von Beginn an den Kampf gegen den Hunger. Als wichtigste Maßnahme kristallisierten sich dafür staatliche Einkommenstransfers an die Ärmsten heraus. Gleichzeitig setzte er aber auch beschäftigungspolitische Impulse – besonders in Bezug auf den Mindestlohn, der zwischen 2002 und 2012 real um 80 Prozent erhöht wurde. Ab 2004 nahmen Arbeitslosigkeit und der informelle Sektor ab. Seither sinkt die Armut; neue Mittelschichten entstehen. Anfangs noch teilweise der für Brasilien positiven globalen ökonomischen Konjunktur geschuldet, setzt sich dieser Trend auch nach der großen Wirtschaftskrise fort.

Wachstum durch Inklusion

Diese Krise stellte, wie Lula formulierte, für Brasilien „keinen Sturm, sondern bloß ein laues Lüftchen“ dar. Als Grund dafür gelten einerseits außenwirtschaftliche und außenpolitische Veränderungen: Während Europa und die Vereinigten Staaten als Handelspartner an Bedeutung verlieren, werden Asien, allen voran China, und andere südamerikanische Länder zunehmend attraktiv. Dabei nimmt Brasilien mit Blick auf die südamerikanische Integration eine Führungsrolle ein. Andererseits schlagen die Veränderungen der brasilianischen Wirtschaftspolitik zu Buche. Diese nimmt zunehmend keynesianischen Charakter an: Die Mittel für die Armutsbekämpfung wurden aufgestockt – der Kreis der Leistungsempfänger wurde ausgeweitet und beträgt aktuell rund 30 Prozent der brasilianischen Bevölkerung. Die ausbezahlten Mittel wurden deutlich und permanent erhöht.

Auch setzte die Regierung die Staatsbetriebe strategisch ein: Die Staatsbanken wurden angewiesen, während der „Kreditklemme“ günstige Kredite bereitzustellen und übten damit Druck auf die Privatbanken aus, die nachziehen mussten. Gleichzeitig werden seither laufend Programme zur Stützung der brasilianischen Industrie aufgelegt. Im Unterschied zur Situation in Europa waren diese Maßnahmen nicht temporär, sondern permanent. Die Strategie dahinter ist vor allem ab 2007 klar auszumachen: „Wachstum durch Inklusion“ bedeutet, dass die Kaufkraft der Ärmsten besonders stark steigen soll, damit die Nachfragebasis für die Expansion der brasilianischen Ökonomie generiert wird.

Neben den schon genannten Maßnahmen war es besonders das von Dilma Rousseff koordinierte „Programm für wirtschaftliches Wachstum“ (PAC), seit 2007 in Kraft, das für Impulse sorgte. Staatliche Investitionen in Infrastruktur sollten Wachstums-impulse bringen. Mindestens 20 Prozent der Investitionen sind für „soziale Infrastruktur“ vorgesehen, besonders für den sozialen Wohnungsbau und die Infrastruktur in den Armenvierteln. Das ist im internationalen Vergleich ähnlicher Programme außergewöhnlich. Es zeigt, dass die Inklusion der Armen ein zentraler Aspekt der Strategie „inklusiven Wachstums“ ist.

Seit 2011 setzt die von Lula auserkorene Nachfolgerin Dilma Rousseff den eingeschlagenen Kurs fort. Die staatlichen Investitionen für Sozialpolitik werden ebenso laufend erhöht wie die staatliche Förderung der Wirtschaft. Die Zinsen werden weiter gesenkt, wobei die Staatsbanken weiterhin als Impulsgeber für den privaten Bankensektor fungieren: Auf die Kritik der Regierung an zu hohen „Spreads“, also dem Unterschied zwischen den Leitzinsen und den Realzinsen der Banken, reagierten die Staatsbanken mit einer Zinssenkung und zwangen damit private Banken mitzuziehen. Auch Kapitalverkehrskontrollen wurden in den letzten Jahren wieder eingeführt: Da das einströmende Auslandskapital in den „Hoffnungsmarkt“ Aufwertungsdruck auf die Währung zum Schaden der internationalen Konkurrenzfähigkeit von Brasiliens Wirtschaft erzeugte, wurde diese Maßnahme selbst von konservativen Medien begrüßt.

Der Boom erzeugt inflationären Druck

Dieser Kurs, den Brasilien auch international propagiert, schließt also an traditionelle keynesianische Strategien an: Löhne werden nicht mehr vordergründig als Kostenfaktoren im internationalen Wettbewerb betrachtet, sondern als wichtigste Quelle der Nachfrage, die wiederum als zentraler Antreiber wirtschaftlichen Wachstums gilt. Dieser Kurs erwies sich während der vergangenen zehn Jahre als äußerst erfolgreich und garantierte Lula unerreichte Beliebtheitswerte in der Bevölkerung, die sich sogar auf seine weniger charismatische Nachfolgerin Rousseff weitgehend übertrugen.

Dennoch zeigen sich in letzter Zeit auch ökonomische Probleme: Der Boom erzeugt inflationären Druck. Dies führte in erster Linie zu vorsichtigen Zinssenkungen und damit zur Dämpfung der Wachstumsimpulse, aber nur geringfügig zu einem Anstieg der Inflation. Zusätzlich zu den zuvor erwähnten Problemen des Aufwertungsdrucks auf die brasilianische Währung Real hat die Exportwirtschaft mit dem Nachfragerückgang in Europa und den USA sowie den Auswirkungen dieses Rückgangs auf China, Indien und andere Staaten zu kämpfen. Dies führte in den vergangenen Monaten zu gedämpften Wachstumsraten.

Jedoch kann die neue Wachstumsdynamik des Binnenmarkts bei gleichzeitiger Intensivierung der südamerikanischen Kooperation diese Effekte noch gut abschirmen. Als problematischer wurden in den letzten Jahren die Auswirkungen des erhöhten Wirtschaftswachstums auf die Umwelt wahrgenommen: Besonders die Konflikte um den Bau von Staudämmen wie „Belo Monte“ erlangten ein großes internationales Medienecho. Rousseff kritisierte die Entscheidung des Kongresses, die Rodungsbestimmungen im tropischen Regenwald „Código Florestal“ zu lockern – und zeigte damit, dass sie den Umweltschutz nicht unberücksichtigt lassen will. Wie weit sich diese Haltung auf die Politik auswirkt, wird die Zukunft zeigen.

Alles in allem zeigt die jüngere brasilianische Geschichte bis zur Gegenwart, dass das strikte Befolgen neoliberaler Politikrezepte sowie besonders die Fetischisierung „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“ das Land anfällig für Wirtschaftskrisen machte und den sozialen Zusammenhalt gefährdete. Die aktuelle Strategie, die auf Binnennachfrage als notwendige Basis für wirtschaftliches Wachstum setzt, erweist sich in sozialer und politischer Hinsicht als erfolgreicher: Sinkende Ungleichheit, steigende Beschäftigung und nicht zuletzt die Beliebtheitswerte von Lula und Rousseff belegen dies. Neben diesen Faktoren wirkt sich der neue Kurs auch äußerst positiv auf die brasilianische Ökonomie aus. Insgesamt zeigt das Beispiel Brasilien, dass die klassische sozialdemokratische wirtschaftspolitische Strategie der Nachkriegszeit – der Keynesianismus – noch nicht ausgedient hat, sondern gerade in krisenhaften Zeiten eine Renaissance erleben könnte.

zurück zur Ausgabe