Wer jetzt nichts wagt, wird lange einsam bleiben

»Das sozialdemokratische Jahrhundert hat gerade erst begonnen«, verkündet Österreichs neuer Bundeskanzler Christian Kern. Wie das? Innere Auszehrung und anschwellender Autoritarismus setzen Europas Sozialdemokraten allenthalben heftig zu. Doch das Spiel ist noch nicht zu Ende - und Erneuerung bleibt möglich

Zum Beschreiben der gegenwärtigen Malaise in den internationalen Beziehungen, in der globalen Wirtschaft und den stressgeprüften Demokratien hat man einige Möglichkeiten. Verantwortliche Politiker bevorzugen beim öffentlichen Diskurs über den aktuellen Problemdruck die Methode der schmerzmildernden Umschreibung. In diesem Modus der Untertreibung formulierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Ansprache zur Lage Europas: „Unsere Europäische Union befindet sich in keinem guten Zustand.“

Fast das Gegenteil im Umgang mit schwierigen Situationen ist die quasi visionäre Übertreibung, die frohe Botschaft, für die auf den ersten Blick nichts spricht, auch nicht auf den zweiten. Der österreichische Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende Christian Kern sprach mit der Süddeutschen Zeitung unter anderem über die Lage der internationalen Sozialdemokratie. Zu dem Zeitpunkt war er noch keine 100 Tage im Amt, hatte aber bereits eine eindrucksvolle publizistische Strecke zurückgelegt, was nach dem kläglichen Scheitern seiner beiden Amtsvorgänger durchaus nötig war. Zur Lage seiner politischen Parteienfamilie sagte er: „Das sozialdemokratische Jahrhundert hat gerade erst begonnen. Die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten, Globalisierung, Deregulierung, Automatisierung, Digitalisierung – all das zeigt, dass wir die politische Kraft sind, die Antworten finden kann.“

Der Beginn des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“? In einer Phase des kontinentalen Niedergangs der Sozialdemokratie, um nicht zu sagen: der Demokratie insgesamt? Das ist mindestens eine sehr kühne Analyse und klingt wie eine tollkühne Übertreibung. Nun ist dieser Christian Kern, nach allem, was man inzwischen von ihm weiß, kein Träumer. Er hat dann auch bald nach dem Interview an anderer Stelle, wohlgemerkt in der deutlich weniger liberalen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die aktuelle Lage näher an der Wirklichkeit festgemacht: „Ich stehe einer Partei vor, die schon schlechtere, aber auch schon bessere Tage gesehen hat.“ Beides ist richtig. Und bei einem öffentlichen Auftritt in der legendären Kreisky-Villa in Wien ergänzte Kern neulich: „Es waren schon einmal mehr, die unsere Idee unterstützt haben.“ Auch wahr.

Bricht jetzt die Ära der Autoritären an?

In der FAZ hat der neue Mann auf der europäischen Bühne sehr ausführlich für eine Abkehr von der Sparpolitik der EU argumentiert, auf einem internationalen Diskursniveau, das von den konservativen Kritikern im eigenen Land bei ihrer Widerrede nicht erreicht wurde. Ihnen hatte die zitierte idyllische Beschreibung der Sozialdemokratie offenbar besser gefallen, als die handfeste programmatische Ansage in Sachen Sparkurs. Die hielten sie für eine Art linksradikale Kampfansage.

Der viel zitierte Artikel entspricht allerdings auch mehr der dritten Möglichkeit des Krisendiskurses, der nüchternen Beschreibung von Problemen und Lösungen. Standards setzte in dieser Hinsicht seinerzeit der deutsch-britische Liberale Ralf Dahrendorf. Bereits 1983 hatte er das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ angekündigt, ohne Schadenfreude, aber sehr entschieden. Seine Landsleute in der SPD trösteten sich nach dem ersten Schock damit, dass es später mit der progressiven Agenda zu beiden Seiten des Atlantiks noch einmal aufwärts zu gehen schien. Das war die Phase des rosaroten Frühlings, der freilich nur kurz währte. Dennoch war es damals üblich, über Dahrendorf ein wenig zu spotten, nach dem Motto: „Von wegen Ende, was weiß denn der, der alte Herr?“. 1999 regierten die Sozialdemokraten in Europa (noch) rauf und runter, von Stockholm bis Rom, in London und Paris, Berlin und Wien. Nach dem Ende der Spaltung Europas sah es geradezu so aus, als würde auf dem von der Sozialdemokratie bearbeiteten Boden eine neue sozialökologisch-radikaldemokratische Kultur entstehen, eine Ordnung im Sinne der Good Society und eines reformierten „demokratischen Kapitalismus“.

Ein schöner kurzer Traum. Im Gefolge der globalisierten Finanzwirtschaft und befördert durch die konsequente Entideologisierung der Sozialdemokratie setzte eine gegenläufige Entwicklung ein. Dabei geriet die liberale westliche Demokratie insgesamt unter Druck. Dahrendorf sah sich bestätigt, offensichtlich mehr als ihm lieb war. Ende der neunziger Jahre schrieb er in der Zeit: „Die Entwicklung zur Globalisierung und ihre sozialen Folgen … [leisten] eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub. Autoritäre Verfassungen aber können dauern; sie sind weder so katastrophenmächtig noch so prekär wie totalitäre Diktaturen. Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.“

Bestandsaufnahme 2016: Das Jahrhundert des Autoritarismus hat in der Tat pünktlich begonnen. Immerhin gab es die erste Regierungsbeteiligung von Rechtspopulisten in einem EU-Land in Österreich ab Anfang 2000. Die Niederlande mit Pim Fortuyn folgten zwei Jahre später, dann Dänemark mit Pia Kjaersgaard, die ihren politischen Einfluss über die parlamentarische Unterstützung von Minderheitsregierungen geltend machte. Schließlich schockierte in Frankreich der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen, Vater der heutigen Präsidentschaftskandidatin für 2017, Marine, alle europäischen Demokraten, als er bei der Präsidentenwahl im Jahr 2002 den Sozialisten Lionel Jospin im ersten Wahlgang auf den dritten Platz verwies und somit in die Stichwahl kam (die er dann deutlich verlor). Lauter Warnsignale.

Die Demokratie ist bisher zwar auf keinem dieser Schauplätze abgeschafft worden. Geändert hat sich aber einiges, stimmungspolitisch und perspektivisch. Inzwischen prägen die Rechtspopulisten mit Ausnahme Spaniens nahezu überall in der EU den Kampf um die politisch-kulturelle Hegemonie. Sie setzen die Themen zu Lasten der demokratischen Kräfte – und die klassischen europäischen Volksparteien bekommen das am stärksten zu spüren.

Einige davon, die am Wiederaufbau des Kontinents und seiner demokratischen Ordnungen nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, sind von der Bildfläche verschwunden, zeitweise oder für immer. Der prominenteste Fall: die italienischen Christdemokraten, deren Nachfahren in Matteo Renzis Mitte-Links-Partei untergekommen sind. Und die griechische Sozialdemokratie, Pasok. Ihr politisch gescheiterter Vorsitzender, Andreas Papandreou, ist zwar noch Präsident der Sozialistischen Internationale, aber diese Organisation hatte ihre große Zeit unter der Führung Willy Brandts und ist heute politisch ohne Bedeutung.

Wohin führt der Aufstand der Empörten?

Gesunken ist auch die Bedeutung der skandinavischen Sozialdemokratien als Modell für soziale Reformen. Das gleiche gilt erst recht für die spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE), die unter Felipe González das einst faschistisch regierte Land zunächst mit demokratisierte und dann in EU und Nato führte. 1996 wurde González’ Mitte-links-Regierung zum ersten Mal abgewählt. Heute ist die PSOE, trotz ihrer Rückkehr an die Macht für zwei glücklose Regierungsperioden (2004–2011), auf der Suche nach sich selbst und einer neuen Perspektive in einem Land, in dem mittlerweile vier landesweit operierende Parteien um die Macht in Madrid pokern. Ohne Ergebnis: Spanien hat keine voll amtierende Regierung; nach zwei Wahlen bereitet es nun die dritte innerhalb eines Jahres vor.

Ein Sonderfall? Mag sein. Aber auch ein Zeichen dafür, dass die Sozialdemokraten nicht nur – wie die Konservativen – unter dem Ansturm der antieuropäischen Rechten zu leiden haben. Vor allem in Südeuropa geraten sie durch neue Konkurrenten auf der Linken unter Druck. An sie verliert die Sozialdemokratie Wähler, ohne dass ihr dadurch neue Koalitionsoptionen erwachsen, weder in Griechenland noch in Italien oder Spanien. Dort studieren Demokratie- und Parteiforscher aus aller Welt seit dem Auftreten der Indignados („Empörten“) im Gefolge der Finanzkrise das Machtspiel zwischen Bewegungen, neuen Parteien und alten Eliten: Was passiert da? Wohin führt der Protest? Finden die Empörten den Weg durch die Institutionen an die Macht? Neue Gesichter wurden bekannt, alte Gedanken diskutiert, der Kampf um die politische Hegemonie verlagerte sich auf die linke Hälfte der Gesellschaft.

Rechtsdrift und Rückschritt überall

Vor allem die neue Hoffnungspartei Podemos beschäftigt die Gemüter. Ihr Ehrgeiz gilt allerdings mehr dem Verdrängen der PSOE als führender Oppositionspartei denn der Bildung einer funktionierenden Regierung. Persönlicher Ehrgeiz spielt in der neuen Partei, die sich der Bewegung der Indignados gleichsam im Handstreich bemächtigt hatte, eine enorme Rolle. Ihr Vorsitzender, der fernseherfahrene Politikprofessor Pablo Iglesias gilt als machtbewusst, manche nennen ihn einen „demokratischen Leninisten“. Innerparteiliche Gegner hätten unter ihm besonders zu leiden. Das allerdings kommt bekanntlich auch in den mehr oder weniger demokratischen Volksparteien vor.

Die Parallelen zum machtpolitischen Egozentrismus der italienischen Fünf-Sterne-Partei von Beppe Grillo sind unübersehbar. Das aktuelle politische Chaos in der Fünf-Sterne-regierten italienischen Hauptstadt übertrifft allerdings die schlimmsten Erwartungen. Doch von den Indignados-Kommunalregierungen in Madrid und Barcelona geht bisher auch keine besondere Ausstrahlung aus: Viel Energie fließt dort in die Auseinandersetzungen mit der Podemos-Spitze in Madrid. Die mögliche bittere Konsequenz: Am Ende des Jahres könnte die PSOE der große Verlierer dieses schrillbunten Treibens sein, während die von Korruptionsaffären gezeichneten Konservativen die neue Regierung führen und Podemos die wahre Opposition sein wird. Ein Armutszeugnis für das Land? Noch mehr für die Demokratie.

Und in Deutschland? Kein Podemos-Syndrom, kein Fünf-Sterne-Problem. Das politische Irritationspotenzial, das von der Achse Wagenknecht-Lafontaine ausgeht, dürfte frühestens 2017 relevant werden. Vorerst machen die regionalen Wahlergebnisse dieses Jahres die strukturellen Veränderungen der Berliner Republik deutlich. 2016 ist das Jahr der AfD. Sie ist die Partei, die aus allen Wählerschichten Zulauf hat und am meisten Nichtwähler zum Wählen bringt.

Sie bewegt sich politisch unbeirrt nach Rechtsaußen und leistet keinerlei Beitrag zur Lösung politischer Probleme, wirkt aber umso stärker dank der Sogwirkung ihrer konsequenten Rechtsdrift auf das politische Meinungsklima. Besonders Unionspolitiker, namentlich die CSU, sind mit ihrer Kritik an der Flüchtlingspolitik Angela Merkels von AfD-Aktivisten kaum mehr zu unterscheiden. Das vernehmbare Entsetzen aus der CDU darüber in allen Ehren, aber der generelle Rechtsruck der Union wird davon nicht verdeckt, geschweige denn korrigiert. In den internationalen Kommentaren zu den jüngsten Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin spielten die Verluste der „Partei Angela Merkels“ denn auch die größere Rolle als jene der SPD. Davon erwartet man größere politische Folgen. Vermutlich zu Recht, wie Merkels reuige Äußerungen in Sachen „Wir schaffen das“ nach dem Berlin-Debakel der CDU zeigten – der bisher größte Erfolg der AfD.

Der Traum vom Volksführer ist wieder da

Deutschland ist mit seinem AfD-Problem aber nicht allein. Kurskorrekturen und Rückschritt wohin man blickt: Der innere Wandel der mitteleuropäischen EU-Mitglieder, voran Ungarn und Polen, wirkt wie eine Realisierung von Dahrendorfs Prophezeiung des Abbaus demokratischer Strukturen. Brüssel, die EU und das Projekt der gemeinsamen europäischen Demokratie werden im meinungsbildenden Milieu dieser Länder zum neuen Feindbild. Die nationalistischen Kampagnen entwickeln daheim ihre suggestive Wirkung; im internationalen Umfeld entfalten sie modellhafte Ausstrahlung. Das ist es, was Marine Le Pen am Brexit so imponiert und den rechtspopulistischen österreichischen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer vom „Öxit“ schwadronieren lässt: Endlich hat’s den pseudodemokratischen Bürokraten in Brüssel jemand gezeigt. Politischer Hooliganismus ist Trumpf!

Der Rüpelton von Donald Trump im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gefällt nicht nur rassistischen Rabiatniks und Losern in den Vereinigten Staaten. Er macht auch Eindruck auf Europas Mini-Volkstribune. Die verbale Lust aufs „Durchregieren“ steckt an, vom Bürgermeister bis zum Regierungschef. In der Tat kann man auch von unverdächtigen Demokraten schon mal neidvolle Hinweise vernehmen, wie einfach es in China ist, eine Straße durchs Land zu ziehen oder ein heruntergekommenes Stadtviertel ratzfatz plattzumachen. Auch Merkel hat einmal vom „Durchregieren“ – also vom Schalten und Walten ohne Kompromissgedöns – dahergeredet. Anders als im Fall „Wir schaffen das“ hat sie dafür aber nie öffentlich Reue gezeigt.

Der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache und sein Präsidentschaftskandidat Hofer sind begeistert vom ungarischen Volksführer Orbán. Viktor mit der harten Hand – das Vorbild für später! Strache möchte sein Land folgerichtig in die Visegrád-Gruppe mit Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei einbringen. Straches Rechtsaußen-Aktivisten engagieren sich auch für Wladimir Putins eurasisches Zukunftsbündnis aller identitären Autoritären. Hauptsache Anti-Amerika, Anti-Brüssel, Anti-Aufklärung. Gemeinsam ist diesem Bund von der Provence bis Wladiwostok eine stramme Überzeugung: Die funktionierende Volksgemeinschaft braucht den festen Zugriff des Führers und dessen Bereitschaft zum entschlossenen Durchgreifen. Das macht mehr Eindruck als laue Kompromisspolitik. Denn jeder Stammtischdenker weiß, dass Kompromisse faul sind. Wie alles an der Demokratie, die nur einen einzigen Vorteil hat: Man kann sich bei der Vorbereitung ihrer Abschaffung auf sie berufen.

Bis dahin ist es für Antidemokraten wichtig, die Fehler und Versäumnisse der noch obwaltenden Demokraten weidlich auszuschlachten. Von denen wird das – zwar ohne Absicht, aber nachhaltig – unterstützt. Zum Beispiel, indem durch Nichtstun oder Fehlentscheidungen der Eindruck befestigt wird, dass Politik und Verwaltung überfordert sind. Ein klarer Fall von „Versagen der Demokratie“. Man muss nur konsequent darauf hinweisen, protestieren, mobilisieren. Die Botschaft kommt an, das Vertrauen schwindet.

In der Konsequenz sind es dann nicht nur Chaoten und Neonazis, die sich von den Verantwortlichen ihrer Gemeinde, ob im rechtsradikalen Anklam, im rot-rot-grünen Berlin oder im „roten“ Wien, allein gelassen fühlen. Dann kommt es, wie es kommen muss: „Das Vertrauen in Demokratie und Politik leidet zunächst darunter, das immer mehr Menschen daran zweifeln, dass die Regierenden ihnen glaubhaft Aussicht auf Wohlstand und Lebensqualität zusichern können.“ So der in Österreich bekannte Parteien- und Demokratieforscher Christoph Hofinger, der also weiß, wovon er redet. Mit dem Stadtmagazin Falter sprach er über die Stimmungslage anno 2016: „Wir erleben den stärksten demokratischen Erosionsprozess seit den dreißiger Jahren und müssen hier gegensteuern.“

Hofinger liefert zu seiner These vom Erosionsprozess dieses Detail aus seiner Forschung: „Im Jahr 2007 haben 71 Prozent der Österreicher die Aussage, ‚wir brauchen einen starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss‘, strikt abgelehnt. Heute sind es nur noch 36 Prozent, die dieser Aussage ganz klar widersprechen. Das ist eine enorme Veränderung.“

Schaut auf eure Bürgermeister!

Dem entspricht die Renationalisierung in Westeuropa, vor allem in Frankreich unter dem Einfluss des Front National von Marine Le Pen, gefördert durch das Fehlen eines ernsthaften progressiven Gegengewichts. Dasselbe gilt für die Brexit-Kultur Großbritanniens, wo sich die Flucht großer Teile der Führungsschichten aus der politischen Verantwortung zum größten flächendeckenden Sozialexperiment der jüngeren Geschichte entwickelt. Das „Untersuchungsziel“: Lässt sich die Existenzkrise einer einstigen Weltmacht ohne Regierung und ohne Opposition besser lösen als unter der Führung von elitebewussten Muttersöhnchen oder klassenbewussten Traditionalisten? Das Ergebnis könnte interessant werden. Und wie groß in dieser Stimmungslage die Chancen einer demokratischen Erneuerung im Italien des kraftvoll gestarteten Matteo Renzi sind, werden wir bald wissen.

Skeptische Prognosen gibt es genug. Auch von den progressiven Konzepten des neuen sozialdemokratischen Hoffnungsträgers in Wien sollte man nicht zu viel erwarten. Christian Kern hat lediglich versucht, eine im einstigen Land des Austromarxismus eingeschlafene Debatte um die Modernisierung der demokratischen Gesellschaft wieder zu beleben. Gemessen an der leicht hysterischen Reaktion der Rechten könnte ihm der Weckruf sogar gelungen sein.

Einiges hängt davon ab, dass ihn und vor allem seine Partei nicht Angst vor der eigenen Courage überkommt. Kern und die wenigen in der internationalen Sozialdemokratie – von Athen bis Madrid, von Rom und Wien bis nach Berlin, Paris und London – sollten sich vor den üblichen Bedenkenträgern hüten. Das progressive Projekt der demokratischen Erneuerung muss sich auf ein politisches Bündnis aus „Eliten“ und Normalbürgern, Optimisten und Skeptikern, Zivilgesellschaft und Verwaltungsexperten stützen. Es muss nicht zuletzt die Erfahrungen und die Vorbildwirkung der couragierten Bürgermeister nutzen, die – ob in Bautzen, in Hamburg oder anderswo – im aktuellen Getümmel der Integrationspolitik und im Kampf gegen die Fremdenfeindlichkeit Profil gewonnen haben.

Das Wort des Christdemokraten Juncker gilt auch hier. Das progressive Projekt der Demokraten ist „in keinem guten Zustand“. Aber noch ist das Spiel nicht zu Ende. Um die antieuropäischen und demokratieverachtenden Parolen und Akteure zu besiegen, muss aus dem politischen Abwehrkampf eine gesellschaftliche Offensive werden. Um in den aktuellen Sprachfloskeln zu bleiben: Das kann man schaffen, es ist möglich. Frei nach Willy Brandt: Das Wagnis „mehr Demokratie“ wäre es wert.

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