Wehrhafte Demokratie im digitalen Zeitalter

zum Schwerpunkt: Die autoritäre Welle, Berliner Republik 2/2016

In der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik hat eine Reihe von Autorinnen und Autoren die „autoritäre Welle“ in Europa und den Vereinigten Staaten kenntnisreich beschrieben. Jeder einzelne Beitrag ist spannend zu lesen, aber erst in der Gesamtschau wird die ganze Komplexität der besorgniserregenden Entwicklung deutlich. Warum nimmt die gefährliche Polarisierung überall in Europa und den Vereinigten Staaten auf derart rasante Weise zu? Was können wir gegen den grassierenden Rechtspopulismus tun und wie den Zusammenhalt unserer Gesellschaften stärken? Diesen Fragen möchte ich hier weiter nachgehen.

Im Herbst vergangenen Jahres habe ich bereits in der Berliner Republik 5/2015 darauf hingewiesen, dass unsere Demokratie angegriffen wird – und zwar von zwei Seiten: zum einen durch den offensichtlich wachsenden Extremismus, zum anderen durch die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber unserem demokratischen System. Diese Diagnose betrifft alle demokratisch verfassten Staaten in Europa und die USA. Die mit unglaublicher Geschwindigkeit voranschreitende Polarisierung wird aber erst verständlich, wenn man zwei Entwicklungen in den Blick nimmt: die Radikalisierung bis weit hinein in die „fragile Mitte“ (Andreas Zick) und das enorm gestiegene Misstrauen gegenüber den demokratischen Eliten.

Wie die Verdrossenheit zur Verachtung wurde

Bereits vor zehn Jahren hat der Politikberater Ulrich Becker Umfragen für das Bundesfinanzministerium durchgeführt. Seine damalige Diagnose: Wir hätten es schon lange nicht mehr mit Politikverdrossenheit zu tun; diese sei einem tiefsitzenden Misstrauen und einer an Verachtung grenzenden Abwendung wachsender Teile unserer Gesellschaft gewichen. Viel an Vertrauensarbeit ist seitdem nicht geschehen. Stattdessen hat die Angst der Mittelschichten vor dem Verlust nationaler und individueller Souveränität zugenommen, wie es Manu Bhagavan in der vergangenen Ausgabe treffend analysiert hat. In den Vereinigten Staaten sind dies vor allem die Ängste der weißen Männer der „working classes“ und „lower middle classes“ (Paul Nolte). Die kollektiven Erfahrungen von anonymer Fremdsteuerung auf globalisierten Märkten, von wachsender ökonomischer Ungleichheit, von Angst vor Terror und den scheinbar nicht enden wollenden Krisen begünstigen den Ruf nach mehr Sicherheit, mehr souveräner Selbstbestimmung, nach Orientierung und gesellschaftlichem Zusammenhalt, der schmerzlich vermisst wird.

Weil diese Bedürfnisse politisch nicht befriedigt werden, nimmt die gewaltorientierte Polarisierung in der Gesellschaft zu; Ungleichwertigkeitsideologien brechen sich Bahn, und die Grenzen dessen, was öffentlich gesagt werden darf, verschieben sich. Mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab hat Thilo Sarrazin vor wenigen Jahren diesen Prozess eingeläutet (Liane Bednarz). Heute werden sogar Fußball-Weltmeister wie Jérôme Boateng diffamiert. Die Rechtspopulisten und Deutschnationalen, die ihre politische Heimat inzwischen vor allem bei der AfD suchen, nutzen die Vorstellung „eines moralisch reinen und homogenen Volkes, dem unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen“ (Jan-Werner Müller). Um politisch erfolgreich zu sein, sind die Populisten auf Ausgrenzung und Spaltung angewiesen – und befeuern sie deswegen, wo sie nur können (Thomas Mayer). Dabei entstehen – nur auf den ersten Blick überraschende – Allianzen, wie jene zwischen Rechtspopulisten, Neonazis und Wladimir Putin, der diese Bewegungen in Europa nur zu gerne instrumentalisiert (Boris Reitschuster und Sergey Lagodinsky).

Die bereits vor 30 Jahren von Jürgen Habermas diagnostizierte Neue Unübersichtlichkeit drückt sich heute im Nebeneinander unterschiedlicher Strömungen aus: Rechtspopulisten, Neonazis, Islamisten, militante Linke, Antisemiten, Islamfeinde, Homo- und Transfeinde, Rassisten und Putin-Anhänger auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die vielen Menschen, die mit ihrem Engagement den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken. Gerade erst hat das Bundesfamilienministerium die neuesten Zahlen des Freiwilligensurveys veröffentlicht. Diese belegen, dass sich mittlerweile über 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger (dies sind über 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung) zivilgesellschaftlich engagieren. Was für ein Pfund, was für ein Glück für unsere Gesellschaft! Und diese Zahlen berücksichtigen noch nicht einmal die überwältigende Hilfsbereitschaft derjenigen, die sich im vergangenen Jahr für die vielen Geflüchteten engagiert haben. Diese engagierten Menschen werden heute immer wieder als „Bahnhofsklatscher“ diffamiert – wo bleibt eigentlich die politische Unterstützung für sie?

Überall auf der Welt führt die „neue Unübersichtlichkeit“ zu einer Re-Politisierung und zugleich zu einer Re-Nationalisierung. Immer mehr Menschen erhoffen sich von einem Zuwachs an nationaler Souveränität, von Protektionismus und einer Schwächung der EU die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Sicherheit, Selbstbestimmtheit und nationalem Zusammenhalt. Dass dies eine trügerische Hoffnung ist, macht sie nicht weniger real. Eigentlich brauchen wir jetzt eine politische Debatte über die Steuerungsfähigkeit unserer Politik, über Vertrauen und den Schutz unserer Freiheit. Stattdessen erleben wir eine dramatische „Ent-Intellektualisierung“ (Paul Nolte), und dies nicht nur in den Vereinigten Staaten. Offenbar hängt dieses überall zu beobachtende Phänomen eng mit der Digitalisierung unserer Gesellschaften zusammen. Die Digitalisierung schafft neue Möglichkeiten – leider auch für Populisten und Extremisten. Sie verändert unsere Gesellschaften fundamental. Wir müssen diesen Prozess genauer verstehen, um unsere offene Gesellschaft besser gegen ihre Feinde schützen zu können.

Hasswellen schwappen durch das Netz

Eigentlich müsste das Internet dazu führen, dass wir immer mehr wissen. Die nächste Information ist stets nur einen Klick entfernt. Jedoch geschieht genau das Gegenteil: Ignoranz und Dummheit nehmen beständig zu. Hasswellen schwappen durch das Netz. Das Internet fördert nicht Verständnis und Wissen, stattdessen geht es um Emotionen und Gefühle. Als Unterhaltungsmedium schlägt das Netz alles, was wir bisher gekannt haben. Wer im Netz nicht unterhaltsam genug ist, dem laufen die User weg. Die Konkurrenz sitzt immer nur einen Mausklick entfernt. Da ist weder Raum noch Zeit für differenzierte Erläuterungen, für Kontextarbeit und feinsinnige Abwägungen. (Zu diesen Entwicklungen enthält das aufrüttelnde Buch Redaktionsschluss: Die Zeit nach der Zeitung von Stefan Schulz eine Vielzahl kluger Überlegungen).

Unsere Smartphones sind nur smart in der Art eines Unterhaltungskünstlers. Sie ersetzen das Nachdenken durch Beschäftigung. Die Unterhaltungsmaschine des Netzes rottet die Lange­weile aus, nicht aber die Dummheit. Im Gegenteil trägt sie zur Orientierungslosigkeit bei. Tendenziell überfordert uns die virtuelle Welt emotional, während sie uns zugleich intellektuell unterfordert. Und sie verändert unsere Wahrnehmung von Politik – vor allem mittels der sozialen Medien. Die Zahl der Menschen steigt, die sich über Facebook, Twitter oder andere soziale Dienste informiert. In den Vereinigten Staaten nutzt bereits mehr als ein Drittel der Erwachsenen den Newsfeed von Facebook. Und auch in Deutschland hat die Zahl der Nutzer zugenommen und sich in den vergangenen Jahren verfünffacht.

Algorithmen und Echokammern

Was die User nicht wissen: Facebook nimmt über individualisierte Algorithmen eine Vorauswahl der Nachrichten vor. Es soll nur das ankommen, was den Kunden wirklich – oder vermeintlich – interessiert. Und deswegen sortiert Facebook im Schnitt vier Fünftel der Inhalte, die User teilen, stillschweigend aus. So entstehen Echokammern. Wer nur noch die Informationen erhält, die in das eigene Weltbild passen, verengt den eigenen Horizont und ist verwundert, wenn abends in der Tagesschau ganz andere Themen präsentiert werden. Dieser Effekt hat zur Folge (wenn auch nicht ausschließlich), dass das Misstrauen gegenüber der Presse (Stichwort „Lügenpresse“) wächst. Statt vermittels Zeitungslektüre oder Nachrichtensendungen auf neue Inhalte, Gedanken und Zusammenhänge zu stoßen, fühlen sich immer mehr Menschen als Spielball emotionaler und kommunikativer Aufgeregtheiten, die wenige Tage später schon vergessen sind. Orientierungslosigkeit ist die Folge; die Anfälligkeit gegenüber den verführerischen Schwarz-Weiß-Wahrheiten der Populisten und Extremisten wächst.

Der intensive Wettbewerb um das beständig knapper werdende Gut Aufmerksamkeit führt Facebook & Co dazu, nur noch das zu zeigen, was den User mit Sicherheit fesseln wird. Deshalb müssen die Dienste das Bewegungsverhalten ihrer Nutzer im Netz genau kennen (was sie inzwischen durch intelligente Programme auch tun) und konsequent auf Emotionen setzen. Während traditionelle Medien immer noch nach dem alten Motto handeln, only bad news is good news, dominieren in den sozialen Netzwerken Geschichten, die das Wohlbefinden steigern – oder Hassbotschaften. Auch hier ist die fortschreitende Polarisierung zu beobachten – die User eint lediglich, dass ihre Lektüre unterhaltsam sein muss.

Global agierende Konzerne wie Facebook, Snapchat, Insta­gram, WhatsApp oder Twitter sind erfolgreich, obwohl diesen Anbietern kaum jemand vertraut. Dennoch werden diese Dienste genutzt, weil die Menschen ihren Freunden und Bekannten vertrauen, mit denen sie die Inhalte teilen. Dabei handelt es sich um das Funktionsprinzip sozialer Medien: Den Nutzern soll ermöglicht werden, die Welt durch die Augen ihrer Freunde und Bekannten zu sehen. Diese emotionalen Echokammern bewirken, dass zunehmend gesellschaftliche Erfahrungen zugunsten von Gruppenerfahrungen in den Hintergrund treten.

Warum das Internet die Demokratie nicht stärkt

Die Konsequenz ist ein politischer Raum ohne Debatte und ohne gemeinschaftsstiftende Diskurse. Die Demokratie wird geschwächt, populistische und extremistische Kräfte erstarken. Sie wissen die Echokammern des Internets gezielt für Aus- und Abgrenzung zu nutzen und setzen auf verbindende Gruppenerfahrungen. Oder ist das übertrieben? Es gibt ja noch Wahlkämpfe. Diese bilden nach wie vor eine öffentliche Plattform für alternative Politikentwürfe, die auch öffentlich wahrgenommen werden. Also alles halb so wild? Abwarten, in den Vereinigten Staaten hat sich der Wahlkampf im Zuge der Digitalisierung bereits grundlegend verändert. Dort sind die Grundlagen für den Big Data-Wahlkampf bereits gelegt: Mit Googles Datenschatz, iPhones und iPads gerüstet umwerben die Wahlkämpfer den gläsernen Wähler.

Im Tür-zu-Tür-Wahlkampf wissen die amerikanischen Wahlkämpfer bereits, welche Partei der Bürger vor vier Jahren gewählt hat, welches Auto er oder sie fährt, welche Produkte online (und offline mit Kreditkarte) gekauft wurden. Sie kennen Beruf, Alter und Familienstand. Dabei handelt es sich um Daten und Informationen, die wir freiwillig zur Verfügung stellen (Google: „Wenn Sie unsere Dienste verwenden, vertrauen Sie uns Ihre Daten an.“). Die Digitalisierung individualisiert folglich auch den Wahlkampf: weg von der Marktplatzrede oder dem Fernsehinterview für alle, hin zur zielgenauen Ansprache der Bürger – und zwar systematisch nur derjenigen, die potenziell bereit sind, die eigene Partei zu wählen.

Je mehr Big Data für Wahlkämpfer zur Verfügung stehen, desto interessanter wird das individual targeting. Alles andere wäre eine Verschwendung von Ressourcen. Ich bin kein Prophet, wenn ich vorhersage, dass der Tür-zu-Tür-Wahlkampf bei den Bundestagswahlen im nächsten Jahr eine wichtige Rolle spielen wird. Dies war schon beim vergangenen Wahlkampf der Fall. Weniger klar ist hingegen, wie die Algorithmen von Google und Facebook die Wahlentscheidungen beeinflussen werden. Zumal wir nicht wissen, wie sie funktionieren. Klar ist aber, dass sie das Wahlergebnis mitbeeinflussen werden – so wie sie mit ihren ausgereiften Filtertechnologien bereits heute den Alltag vieler Millionen Menschen beeinflussen.

Das Internet ist eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit. Wir wollen es weiter und besser nutzen. Aber nüchtern betrachtet wirkt das Internet nicht gerade demokratiestärkend. Und leider hat das Internet manche optimistische Erwartung der frühen Jahre (auch von mir) nicht erfüllt. Weder verringert es die Marktmacht großer Anbieter noch erleichtert es zumindest den Zugang für kleine und innovative Wettbewerber. Stattdessen wächst die Macht der riesigen Konzerne. Diese verfügen teilweise über einen Kundenstamm, der so groß ist wie die Hälfte der Menschheit.

Nach Jahrzehnten der äußeren Bedrohung im Kalten Krieg und 25 Jahre nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) müssen wir heute ernüchtert feststellen: Im digitalen Zeitalter brauchen wir die wehrhafte Demokratie dringender denn je.

Die gescheiterte Weimarer Demokratie und die blutigen Schrecken des Nationalsozialismus standen den Schöpfern des Grundgesetzes lebhaft vor Augen. Ein neues 1933, ein erneutes Scheitern der Demokratie sollte nie wieder möglich sein. Nie wieder sollte sich die Demokratie als derart schwach gegenüber ihren Feinden erweisen und ihre Institutionen scheinbar „legal“ ausgehöhlt werden. Nie wieder sollte es die häufigen Regierungskrisen und die mangelnde Regierungsfähigkeit des Regierungssystems geben. Und schließlich sollte nie wieder eine einzelne Führungsfigur alle Macht auf sich vereinigen können. Deshalb entschied man sich dafür, die parlamentarische Demokratie und die demokratischen Parteien zu stärken, Direktwahlen der Staatsoberhäupter zu unterbinden und die Waffen gegen die Feinde der offenen Gesellschaft zu schärfen. Ein unabänderlicher Verfassungskern, die Möglichkeit des Verbots verfassungsfeindlicher Parteien, das Bundesverfassungsgericht und der Verfassungsschutz sollen garantieren, dass unsere Demokratie wehrhaft und „streitbar“ (Bundesverfassungsgericht) ist. Wir sind also gewappnet für den Kampf. Aber genügt dies alles?

Modellprojekte sind nicht mehr genug

Es reicht nicht. Mit dem von Ulrich Becker konzipierten und durchgeführten Demokratiemonitor verfügt das Bundesfamilienministerium über ein qualitatives Online-Befragungsinstrument zur Ermittlung von Stimmungsumschwüngen und Emotionen, mit dem bisher in vier Wellen über 12 Monate gut 1 000 qualitative Interviews durchgeführt wurden. Es zeigt, dass das Misstrauen gegenüber unserer Demokratie auf hohem Niveau stabil bleibt. Die Vorwürfe: „Politiker ignorieren den Bürgerwillen“, „sie machen bloß, was sie wollen“. Und: Sie würden sich immer mehr „vom Volk“ entfremden. Politik erleben viele Menschen als lobby- und wirtschaftsgesteuert, manche gar als korrupt. Die Wahrnehmung, dass unsere Demokratie durch einen fortschreitenden Prozess „innerer Erosion“ ausgehöhlt wird, ist weit verbreitet, auch wenn sie als Staatsform von der großen Mehrheit nicht infrage gestellt wird. Außerdem können rund die Hälfte der Befragten – in Ostdeutschland sogar zwei Drittel – Überfremdungsängste nachvollziehen, ohne (wie sie – vermutlich unzutreffend – behaupten) solche Ängste selbst zu teilen. Vor allem Frauen äußern seit der Silvesternacht in Köln diese Sorgen.

Auf diese Emotionen und Herausforderungen muss die Politik jetzt dringend reagieren. Wir brauchen eine bundesgesetzliche Grundlage zur Förderung von Demokratie und Extremismusprävention. In den vergangenen 70 Jahren sind wir ohne eine systematische bundesweite Förderung ausgekommen. Angesichts der Polarisierung unserer Gesellschaft, der vielfältigen Formen des Extremismus und der wachsenden Kritik am Zustand unserer Demokratie genügen Modellprojekte jedoch nicht mehr. Der Demokratieschutz darf nicht erst beginnen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Besonders Verfassungsschützer bitten uns mit zunehmendem Nachdruck, die funktionierenden Modellprojekte systematisch und bundesweit auszuweiten, um so zu verhindern, dass sich immer mehr Menschen radikalisieren.

Ein neuer Politikstil, mehr Dialog und echte Partizipation

Um der Gefahr einer schleichenden Aushöhlung unserer Demokratie zu begegnen, brauchen wir daher ein bundesgesetzliches Fundament, das es uns in ganz Deutschland ermöglicht, an den emotionalen Echokammern vorbei die Jugendlichen in den Schulen zu erreichen, mit Ausstiegswilligen in den Gefängnissen zu arbeiten, die erfolgreich etablierten Beratungsnetzwerke der einzelnen Länder enger miteinander zu verknüpfen, über die Einrichtung und Finanzierung von Demokratie Labs Online-Plattformen für Engagierte zu schaffen und vor allem: die Mitte der Gesellschaft zu erreichen. Deren Kritik am Zustand der Demokratie muss besonders ernst genommen werden.

Dringend notwendig ist zudem ein veränderter Politikstil hin zu mehr Dialogorientierung und Partizipation bei der Umsetzung von Gesetzen sowie der Planung von Programmen und Projekten – und zwar, bevor politische Entscheidungen getroffen werden. Diese Vertrauensarbeit ist manchmal mühsam, aber sie ist dringend notwendig, damit sich nicht noch mehr Menschen von den etablierten politischen Verfahren abwenden. Warum etwa werden Debatten im Deutschen Bundestag und im Europäischen Parlament nicht dadurch aufgewertet, dass zu Grundsatzfragen auch Nichtregierungsorganisationen ein Rederecht erhalten – ähnlich wie bei den Vereinten Nationen? Mit der Durchführung von „Bürgerhaushalten“ kann das Bewusstsein für die Komplexität politischer Entscheidungen ebenfalls geschärft werden. Dies wäre auch auf der Bundesebene möglich. Diese Idee ist nicht neu, wir hatten dies schon einmal vor, als Peer Steinbrück Bundesfinanzminister war. Leider kam uns damals die Finanzmarktkrise dazwischen.

Der Kreativität für unsere Demokratie sind keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist allein, dass wir uns wehren, wenn sie bedroht wird – und dass wir klar sind im Umgang mit den Feinden der offenen Gesellschaft. Sonst ergeht es uns bald in ganz Deutschland wie in Sachsen-Anhalt. Dort wurde am Tag einer Probewahl für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft dem Büro des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen die Haustür zugemauert – was nur die Spitze des dortigen Eisbergs aus Einschüchterung und Bedrohung ist. Ebenfalls in Sachsen-Anhalt wird der Verfassungsschutz künftig auch von einem Abgeordneten der rechtspopulistischen AfD kontrolliert. Die Aushöhlung der Demokratie schreitet schleichend voran. Wenn es erst einmal so weit kommt wie in Österreich, wo der nur knapp gescheiterte Norbert Hofer nach der Bundespräsidentenwahl sagte, er hätte so gern auf Österreich aufgepasst, ist es bereits zu spät.

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