Vorsprung durch Tautologie

Thomas Piketty ist der neue Megastar der Kapitalismuskritik. Sein Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« wiegt 1,2 Kilo, ruiniert jede Tasche - und hat zur entscheidenden Frage nichts zu sagen: Wieso eigentlich tolerieren die breiten Mittelschichten politisch, dass sie ökonomisch immer weiter zurückfallen?

Bisher hat die Ökonomie keine Shootingstars hervorgebracht. Seit wenigen Monaten ist dies anders. Der Franzose Thomas Piketty hat mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert einen Megabestseller gelandet und wird nun als „Rockstar der Ökonomie“ gehandelt. Deutschland ist von diesem globalen Hype noch nicht komplett erfasst, weil es das Werk bisher nur auf Englisch und Französisch gibt. Doch die deutsche Übersetzung soll noch in diesem Herbst erscheinen.

Pikettys Blitzkarriere ist erstaunlich, denn sein Buch ist eine Zumutung. Viele Rezensenten behaupten zwar, es sei „packend geschrieben“, was aber nur heißen kann, dass sie nicht weiter als bis zum Vorwort vorgedrungen sind. Das Buch zieht sich zäh dahin und ist mit methodischen Hinweisen vollgestopft, für die eine Fußnote gereicht hätte. Von den 685 großformatigen Seiten sind mindestens 600 überflüssig. Diese Einschätzung wird anscheinend von Piketty geteilt, denn seine wissenschaftlichen Aufsätze zum selben Thema zählen nie mehr als 50 Seiten. Manche seiner Texte kommen sogar mit fünf Seiten aus, ohne dass der Erkenntnisgewinn geringer wäre.

So geht Standardwerk heute

Aber Piketty hat richtig erahnt, wie seine Ökonomiekollegen und der Buchmarkt funktionieren: Nur ein Wälzer hat die Chance, zum „Standardwerk“ aufzusteigen. Also hat er einen Wälzer produziert. Da es um reine Quantität geht, tut man dem Buch nicht Unrecht, wenn man auch sein Gewicht mitteilt: Es wiegt 1,2 Kilo und ruiniert jede Tasche.

Neben dem schieren Umfang ist auch der Titel so gewählt, dass der Anspruch deutlich wird, ein Standardwerk zu bieten. Nicht von ungefähr spielt Piketty auf Das Kapital von Karl Marx an, um zu unterstreichen, dass er die gültige Erklärung für den heutigen Kapitalismus liefern will. Nur: Der Kapitalismus wird bei Piketty gar nicht analysiert. Er formuliert zwar zwei „Grundgesetze des Kapitalismus“, doch bei näherem Hinsehen handelt es sich um tautologische Beschreibungen zum Thema Vermögensbildung, die mit dem Kapitalismus als einer spezifisch historischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform nichts zu tun haben. Wie Piketty selbst ausführt, galten diese „Gesetze“ auch schon im feudalen Ancien Régime.

Doch von vorn. Pikettys Werk beruht auf einer Datensammlung, die weltweit einmalig ist: der World Top Incomes Database. Um das Einkommen und Vermögen der Eliten zu erfassen, wertet dieses Projekt alle verfügbaren Steuerdaten aus, die – je nach Land – bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen können.

Pikettys »Gesetze« sind gar keine

Diese Datensammlung zeigt sehr eindrücklich, was sich auch in anderen Erhebungen widerspiegelt: In allen Industrieländern wachsen die Vermögen ab etwa 1980 sehr schnell, während die Wirtschaft tendenziell stagniert. Die Reichen werden reicher, während die unteren Schichten kaum profitieren. Zwar geht es Arbeitern und Angestellten deutlich besser als zu Marx’ Zeiten, aber die Verteilung ist nicht viel gerechter geworden. Das Kapital bleibt hochkonzentriert und befindet sich in den Händen von wenigen Familiendynastien.

An der Datensammlung selbst gibt es nichts zu meckern. Sie ist sehr verdienstvoll, weil sie die vorhandenen Statistiken zu Einkommen und Vermögen international vergleichbar macht – und zudem erstmals die historischen Steuerdaten aufgearbeitet und eingepflegt hat. Aber: Diese Datensammlung stammt nicht von Piketty allein, sondern ist ein Gemeinschaftsprodukt mehrerer Wirtschaftshistoriker. Zudem sind die Zahlen längst bekannt. Die Daten für Deutschland zum Beispiel wurden bereits im Jahr 2007 publiziert.

Piketty bietet also keine neuen Statistiken, weshalb es etwas seltsam anmutet, dass die Financial Times in einem international breit rezipierten Artikel ausgerechnet das Datenmaterial als „fehlerhaft“ attackiert hat. Denn Piketty hat nur die Standardmethode benutzt, Steuerstatistiken und Haushaltsbefragungen zu kombinieren. Es war für ihn daher ein Leichtes, die Financial Times zu widerlegen und der Lächerlichkeit preiszugeben.

Auch ist es nicht verwerflich, dass Pikettys Statistiken nicht immer taufrisch sind. Bücher können sehr verdienstvoll sein, wenn sie bekanntes Wissen neu deuten. Aber genau hierin liegt das Problem: Pikettys Interpretation seiner eigenen Daten ist extrem dürftig – und häufig tautologisch.

Um die soziale Ungleichheit zu erklären, formuliert Piketty die beiden erwähnten „Grundgesetze des Kapitalismus“. Das erste „Gesetz“ ist allerdings gar kein echtes Gesetz, wie Piketty selbst einräumt, sondern folgt zwingend aus der Logik der Begriffsdefinitionen. Wer keine Lust auf technische Ausdrücke hat, kann daher den Rest dieses Absatzes überspringen – und beim nächsten wieder einsteigen. Für die Fans schlichter Mathematik sei das „Gesetz“ aber kurz reportiert: Der Anteil der Vermögenseinkommen am Volkseinkommen ist gleich der Vermögensrendite mal dem Verhältnis von Vermögen zum Volkseinkommen. Alles klar?

Auch das zweite „Gesetz“ ist tendenziell tautologisch: Wenn das Vermögen der Reichen zunimmt und das Wirtschaftswachstum niedrig ist, dann steht immer mehr Vermögen einem eher stagnierenden Volkseinkommen gegenüber. In ihrer Binnenlogik ist diese Formel immer wahr, aber über den Kapitalismus sagt sie gar nichts aus. Dies gilt auch für den „zentralen Widerspruch des Kapitalismus“, den Piketty daraus ableitet: Die jährliche Rendite der Vermögenden sei immer höher als die Wachstumsrate, weswegen die Reichen automatisch reicher würden. Dieses Missverhältnis ist uralt und hat mit dem Kapitalismus ebenfalls nichts zu tun. Auch der römische Sklavenhalter konnte sich über stattliche Renditen freuen. Einziger Unterschied: Die Wirtschaft stagnierte damals gänzlich. Aber in der Antike wie heute gilt, dass die Rendite über der Wachstumsrate liegt.

Interessant ist der Hype, nicht das Buch

Piketty läuft in eine Falle, die in der Ökonomie häufig zu beobachten ist: Er setzt voraus, was er erklären müsste. Beim Kapitalismus ist die zentrale Frage: Wie entsteht Wachstum? Denn der Kapitalismus ist das allererste Sozialsystem der Menschheitsgeschichte, das dynamisch ist. Doch bei Piketty landet das Wachstum wie ein Ufo auf der Erde – und wird dann nur noch in Prozentzahlen gemessen.

Als Theoretiker kann man Piketty also abhaken. Interessant ist nicht sein Buch, sondern der globale Hype, der darum entstanden ist. Der Urheber ist eindeutig zu identifizieren: Paul Krugman. Der Wirtschaftsnobelpreisträger hat seinen gesamten medialen Einfluss genutzt, um Pikettys Buch anzupreisen. Allerdings ist auch Krugman nicht allmächtig. Mit seinem intensiven Werbefeldzug stieß er nur auf Resonanz, weil Pikettys Buch genau den Zeitgeist trifft. Die Mehrheit der Bürger ist empört, dass nur eine kleine Elite vom Wachstum profitiert. Die allgemeine Wut ist so groß, dass es niemanden mehr interessiert, wie gut oder schlecht das Buch ist, das diesen Skandal thematisiert. Hauptsache, es wird darüber gesprochen, dass die Reichen immer reicher werden.

Man könnte diesen Hype tröstlich finden, wenn er denn tatsächlich zu einer politischen Kurskorrektur beitragen würde. Piketty ist ja keineswegs der erste, der die soziale Ungleichheit anprangert. Permanent erscheinen Bestseller, die sich mit der Spaltung der Gesellschaft befassen. Auch Paul Krugman hat schon einige davon geschrieben. Zudem rütteln ja nicht nur Bücher auf. Die gleichen Debatten entzünden sich mehrfach pro Jahr, wenn die Entlohnung von Managern, Investmentbankern oder Hedge-Fonds-Strategen bekannt wird. Dennoch tut sich politisch nichts. Diesen Widerspruch zwischen Wut und Stimmverhalten musste die SPD sehr schmerzhaft im letzten Bundestagswahlkampf erleben. Die geplanten Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, Vermögende und Kapitalbesitzer fanden keine Mehrheit.

Die eigentliche Frage ist daher nicht, warum die Reichen reicher werden, sondern warum die Mittelschicht dies toleriert. In den vergangenen Jahrzehnten war immer wieder zu erleben, dass die Mehrheit für Gesetze stimmt, die nur einer privilegierten Minderheit nutzen.

Die Erklärung ist so simpel wie erstaunlich: Die Mittelschicht hält sich selbst für einen Teil der Elite. Obwohl sie sich über den Reichtum der Reichen aufregt, fürchtet die Mehrheit, dass auch sie getroffen würde, falls die Vermögenden stärker belastet würden. In Umfragen ist dieses Phänomen klar zu erkennen: Die Mehrheit der Deutschen lehnt hohe Erbschaftsteuern für große Vermögen selbst dann ab, wenn die Freigrenze bei einer Million Euro läge. Offenbar glauben viele, dass sie es irgendwann selbst zum Millionär bringen könnten, und sei es durch einen Lottogewinn.

Wie kann sich die Mittelschicht so täuschen? Denn objektiv besitzt sie fast kein Vermögen, und auch die Reallöhne stagnieren seit mehr als einem Jahrzehnt. Drei Mechanismen scheinen zusammenzuwirken und zu erklären, warum sich die Mehrheit für arriviert hält und die eigene Existenz überhöht.

Da ist zum ersten die vehemente Verachtung für die Unterschicht, in der sich angeblich nur verdummte Sozial-schmarotzer tummeln. Es befriedigt, andere unter sich zu wissen, und das macht eine gefährliche Scheinlogik plötzlich zwingend: Wenn man selbst nicht ganz unten ist, muss man ja schon fast oben sein. Man fühlt sich als Leistungsträger und als Elite.

Der endgültige Aufstieg erscheint ganz nah. Die Mittelschicht – das ist der zweite Mechanismus – glaubt noch immer an die eigene Karriere. Aufschlussreich war eine Studie, die die Bundesregierung für ihren dritten Armuts- und Reichtumsbericht von 2008 durchgeführt hat. Dort wurden Bürger schlicht gefragt, was sie sich unter Reichtum vorstellen. Heraus kam: Bei fast allen beginnt der Reichtum knapp oberhalb des eigenen Einkommens. Wer 1.500 Euro verdient, siedelt den Reichtum ab 2.000 Euro an. Wer 3.500 Euro hat, bei dem liegt die Grenze dann vielleicht bei etwa 4.500 Euro. Und prompt wirkt es plausibel, dass man sich nur ein bisschen anstrengen muss – und es ebenfalls geschafft hat.

Warum sich die Mittelschicht reich fühlt

Dieser ökonomische Aufstieg erscheint vielen auch deswegen naheliegend, weil sie bereits einen Aufstieg erlebt haben – einen Bildungsaufstieg. In vielen Familien sind die heute 50-Jährigen die ersten, die ein Studium absolviert haben. Stolz wie sie auf ihre eigene Leistung sind, übersehen die Babyboomer jedoch das entscheidende Paradox: Noch nie waren die Bundesbürger so gut ausgebildet – und trotzdem sind ihre Reallöhne gesunken.

Während sich die Mittelschicht reich fühlt, ist bei den echten Reichen genau der umgekehrte und dritte Mechanismus zu beobachten: Sie rechnen sich systematisch arm. Deutschland ist ein sehr reiches Land, aber es ist fast unmöglich, Reiche zu finden. Selbst Gloria von Thurn und Taxis hat einst in einem Zeit-Interview ernsthaft behauptet, sie sei „nur normaler Mittelstand“.

Die Reichen können sich allerdings nur arm rechnen, weil über ihr wahres Vermögen sehr wenig bekannt ist. In der Statistik klaffen immense Lücken, denn es werden keine Haushalte erfasst, die über ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als 18.000 Euro verfügen. Zwar machen diese Haushalte nur etwa ein Prozent der Bevölkerung aus, das wie eine Bagatelle wirken könnte. Doch dieses reichste eine Prozent verfügt laut Schätzungen über etwa 33 Prozent des gesamten Volksvermögens. Aus der Statistik verschwinden also nicht etwa Milliarden, sondern gleich Billionen. Sie enden in einem Daten-Nirwana – und niemand weiß, wer genau sie besitzt.

Zurück zu Piketty: Um die soziale Ungerechtigkeit abzubremsen, plädiert er für eine globale Vermögenssteuer. Allerdings ist er nicht optimistisch, dass sie sich politisch durchsetzen lässt. Dies ist nur konsequent. Denn in seinem Buch zeigt er sehr deutlich, dass hohe Steuern für die extrem Reichen immer nur eingeführt wurden, um Weltkriege zu finanzieren oder schwere Wirtschaftskrisen zu überwinden. Diese Erkenntnis ist zwar auch nicht neu, bleibt aber verstörend. Es wäre keine gute Nachricht für unsere Demokratie, wenn die ökonomische Gleichheit nur steigt, nachdem es zur Katastrophe gekommen ist.

zurück zur Ausgabe