Und demnächst der Schwexit?

Schwedens Reaktion auf den Brexit lässt sich in dem Motto »Keep calm and carry on« zusammenfassen. Aber unter der Oberfläche gärt es. Nur ein effektiveres Funktionieren der EU wird auf die Dauer verhindern können, dass auch im hohen Norden Europas eine Austrittsdebatte in Fahrt kommt

Es gibt keine gemeinsame skandinavische EU-Politik und auch keine gemeinsame skandinavische Antwort auf die Brexit-Herausforderung. Dies schon deshalb nicht, weil die Beziehungen der nordischen Länder zur Europäischen Union jeweils andere sind. Finnland gehört der Eurozone an und kämpft derzeit mit großen wirtschaftlichen Problemen. Dänen und Schweden zahlen nicht in Euro. Dänemark hat sich Ausnahmeklauseln zu verschiedenen EU-Verordnungen gesichert und 2015 per Referendum bekräftigt, dass in mehreren Schlüsselbereichen das dänische Recht über der europäischen Gesetzgebung steht. Norwegen ist kein Mitglied der EU, wenngleich wirtschaftlich voll in den Binnenmarkt integriert. Island wiederum gehört ebenfalls nicht der EU an, hat aber Interesse an einem Beitritt bekundet.

Und Schweden? Ja, Schweden ist seit zwei Jahrzehnten treues Mitglied der EU. Sowohl rechte als auch sozialdemokratische Regierungen haben routinemäßig die Kompromisse des Europäischen Rats verteidigt und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs befolgt. Allerdings hat die Kritik an der EU im Laufe der Zeit zugenommen. Die Sozialdemokraten stehen besonders dem Laval-Urteil sehr ablehnend gegenüber, das die Fähigkeit der Gewerkschaften einschränkt, Tarifverträge abzuschließen. In zunehmendem Maße stören sie sich auch am Binnenmarkt selbst sowie an der wachsenden Macht des Europäischen Gerichtshofs, der den Spielraum für nationalstaatliche Politik begrenzt. Hinzu kommt, dass die rechtspopulistischen und nationalistischen Schwedendemokraten wachsende Unterstützung genießen, die den Widerstand gegen Einwanderung, aber natürlich auch gegen „Brüssel“ auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die großen Parteien rechts wie links betreiben gegenüber der EU eine Art Burgfriedenspolitik. Aber dieser Frieden könnte schneller zerbrechen, als man es sich vorstellen kann.

Warum der Brexit für Schweden Probleme schafft

In gewissem Sinne trat Schweden der EU 1995 aufgrund wirtschaftlichen Drucks bei. Während der schwedischen Wirtschaftskrise in den frühen neunziger Jahren galt die EU als rettender Hafen. Aber der Widerstand gegen den EU-Beitritt war beträchtlich. Und die Sozialdemokratie war in der EU-Frage eine tief gespaltene Partei. Die Kluft schuf neue Konfliktlinien, die den schwedischen Sozialdemokraten immer noch zu schaffen machen. Das Referendum über den Euro im Jahr 2003 (in dem die Mehrheit mit „Nein“ stimmte) bestätigte dieses Muster. Heute wächst unter der Oberfläche die Sorge, dass nach dem Brexit früher oder später auch in Schweden eine Exit-Debatte beginnen könnte.

Die schwedische Reaktion auf den Brexit lässt sich mit dem britischen Motto „Keep calm and carry on“ zusammenfassen. Ein Artikel von Premier Stefan Löfven und Europaministerin Ann Linde aus dem September 2016 bringt die schwedische Position präzise auf den Punkt: Jetzt sei nicht die Zeit für „neue große Projekte, die Vertragsänderungen erfordern“. Liefern müsse die EU stattdessen im Hinblick auf Arbeitsplätze, Klima und Flüchtlinge.

Aber der Brexit schafft für Schweden besondere Probleme. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich Schweden zunehmend in Richtung Großbritannien aus. Die historisch engen Beziehungen zu Deutschland waren zerbrochen. Kulturell, politisch und sozial verbindet Schweden mehr mit Deutschland als mit Großbritannien. Es war zum Beispiel kein Zufall, dass das erste Programm der schwedischen Sozialisten weitgehende Übersetzung des Erfurter Programms der deutschen Sozialdemokratie war. Aber nach dem Krieg schien der Weg nach London über viele Jahre hinweg kürzer als der Weg nach Bonn.

Das europäische Versprechen ist zerbröselt

Die negative Einstellung der schwedischen Sozialdemokraten gegenüber der EU kam in Tage Erlanders „Metallrede“ zum Ausdruck, die der langjährige Premierminister (1946 –1969) im Jahr 1961 vor dem Kongress der Metallarbeiter hielt. Einer ihrer Autoren war Olof Palme. Die Kernaussage lautete, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht nur mit der schwedischen Neutralität unvereinbar sei, sondern auch mit sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. Bei dieser Linie blieben Schwedens Sozialdemokraten 30 Jahre lang. In dieser Zeit stützte sich Schweden auf seine Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), wo Großbritannien einer der wichtigsten Akteure war. Die Zusammenarbeit in der EFTA beschränkte sich weitgehend auf den Freihandel, und genau hier waren schwedische und britische Interessen ziemlich identisch. Schweden war und ist, ebenso wie Großbritannien, eine typische „Freihandelsnation“. Solange die EFTA noch intakt war, gab es daher für Schweden keinen Grund, der EU beizutreten. Aber als sich 1973 Großbritannien der EU anschloss, war es nur eine Frage der Zeit, wann Schweden nachziehen würde.

In vielen, wenn auch nicht in allen strategischen Fragen hat Schweden seither mit Großbritannien kooperiert. Dabei haben sich die Schweden allerdings nie so widerspenstig aufgeführt wie die Briten. Den Verträgen von Maastricht und Lissabon stimmten sie ohne Murren zu. Gemeinsam ist den Schweden und Briten, dass sie nicht die geringste Neigung zu föderalistischen Experimenten verspüren. Aber im Gegensatz zu Großbritannien hat Schweden die Entwicklung der EU im Laufe der vergangenen Jahrzehnte weitgehend mitgetragen.

Der große Unterschied zwischen beiden Ländern ist, dass sich Schweden zum „sozialen Europa“ bekennt, während etwa Margaret Thatcher, Tony Blair und David Cameron das europäische Sozialprotokoll nicht unterschreiben wollten. Die Briten begrüßen den Binnenmarkt, wollen aber nicht mehr Macht für Brüssel. Schweden schätzt den Binnenmarkt ebenfalls, ist darüber hinaus aber bereit, die weitere Integration der EU zu akzeptieren, wenn diese eine soziale Dimension umfasst.

Das grundlegende Problem der Sozialdemokraten besteht jedoch darin, dass die Praxis des Binnenmarkts die hard power der EU repräsentiert, während die soziale Dimension ihre – noch dazu schwache – soft power darstellt. Aufs Ganze gesehen ist Schweden daher stets Teil der Achse der zentralisierungskritischen Länder des Westens und Nordens gewesen, gemeinsam mit Großbritannien, den Niederlanden und Dänemark. Gleichzeitig hat Schweden zusammen mit Deutschland und Österreich auf eine Revision des Vertrags in jenen Bereichen hingearbeitet, die den schwedischen Arbeitsmarkt beeinträchtigen.

Es gibt die Zeit vor dem Brexit und eine Zeit danach. Die jetzt anstehenden strategischen Entscheidungen werden die politischen Handlungsoptionen für mindestens eine Generation bestimmen. Nach dem Fall der Mauer akzeptierte die Sozialdemokratie in Europa, dass der Nationalstaat als demokratische Plattform nicht mehr ausreichte. Die Globalisierung schuf neue Bedingungen, denen Rechnung getragen werden musste. Das große politische Versprechen lautete, dass die Politik in erster Linie auf der Ebene der EU stattfinden werde. Heute ist von diesem Versprechen nicht mehr viel übrig.

Wie die EU-Krise die Sozialdemokratie zerlegt

Zwar ist die Souveränität der Staaten geschrumpft, aber im Gegenzug hat sich keine politische Macht auf europäischer Ebene etabliert. Die EU hat sich stattdessen zu einer Art Black Box aus schwer durchschaubaren, bürokratischen und verrechtlichten Entscheidungsstrukturen entwickelt – ein System ohne Transparenz und zurechenbare Verantwortlichkeit. Die Bürger spüren, ob zu Recht oder nicht, dass politische Entscheidungsmacht zunehmend von ihnen weg verlagert wird und die Politik nicht liefern kann. Darauf reagieren sie, indem sie sich von denjenigen Parteien abwenden, die ihnen einst versprachen, dass alles besser würde, wenn wir nur den Pfad einschlügen, den wir dann in den vergangenen Jahren tatsächlich eingeschlagen haben.

Es kann deshalb nicht einmal verwundern, dass der Populismus in Europa inzwischen weit verbreitet ist. Der traditionellen Linken ist es in den vergangenen 70 Jahren noch niemals so schlecht gegangen wie heute. Zwischen dem Jahr 2000 und 2015 hat sie mindestens ein Drittel ihrer Wähler verloren. In den sozialdemokratischen Parteien schwelt der Deutungskampf um die Ursachen der Krise: Sind sie mit Blair und Gerhard Schröder zu weit nach rechts gerückt? Oder haben sie mit ihren anschließenden Linksschwenks die Mitte geräumt? Fehlte ihnen der Mut, den Wandel tatkräftig zu gestalten?

Diese Debatte wird so schnell nicht aufhören. Letztlich aber ist die Krise der europäischen Sozialdemokratie(n) darin begründet, wie die EU heute strukturiert und organisiert ist. Europa bietet nur einen eng begrenzten Raum für sozialdemokratische und sozialreformerische Politik. Unter diesem fundamentalen demokratischen Defizit leidet die EU, an ihm leidet aber besonders die Sozialdemokratie. Mit der Wirtschaftskrise ist aus diesen Zutaten eine existenzielle Krise des gesamten europäischen Projekts geworden. Weiter verschlimmert wird die Lage durch die wachsende Angst vor Einwanderern und Flüchtlingen und der Unfähigkeit der EU, aber auch der Nationalstaaten, einmal eingegangene Verpflichtungen auf diesem Gebiet einzuhalten.

Was der rechte Populismus anbietet, ist der Traum von der Rückkehr in eine Zeit vor 1989 und zu den Nationalstaaten als einzige politische Arenen. Natürlich ist dies unmöglich – und auch nicht wünschenswert. Aber es wäre ein großer Fehler, würde die europäische Linke deshalb ins andere Extrem verfallen. Was als Vollendung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (so der Titel des Berichts der fünf EU-Präsidenten von 2015) gefordert wird, würde die Krise nur noch weiter verschärfen, die aus genau diesem dogmatischen Vorgehen entstanden ist.

Wir können nicht weitermachen, als ob nichts passiert wäre. Die europäische Sozialdemokratie muss alte Dogmen hinter sich lassen. Ein wichtiger Ansatzpunkt könnte darin bestehen, das Grundprinzip der EU neu zu definieren: die Subsidiarität. Die gegenwärtigen Strukturen der EU ermöglichen die schrittweise Ausweitung der Macht der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofs. Diese Macht hat keine formale Grenze. Stattdessen brauchen wir klare Abgrenzungen zwischen den Nationalstaaten und der EU-Ebene. Auf einigen wichtigen Feldern brauchen wir eine stärkere und effektivere EU. Wir brauchen eine Revision des Finanzrahmens der Währungsunion mit ihrem ökonomischen Liberalismus und steuerpolitischen Konservatismus. Vom heutigen Modell profitieren nur Länder mit starker Wirtschaft, nicht eine Union insgesamt, deren Mitglieder sich unterschiedlich entwickeln. Ein Schönwetter-Wirtschaftsmodell ist prima, wenn das Wetter schön ist. Aber nur ein Modell, das auch bei schlechtem Wetter funktioniert, wird sich als nachhaltig und belastbar erweisen.

Diese Wünsche sind angesichts der heutigen Machtverhältnisse in der EU vielleicht unrealistisch. Darum bin ich pessimistisch. Nicht nur im Hinblick auf die Zukunft der Sozialdemokratie. Sondern auch mit Blick auf die EU. Und schließlich auch im Hinblick auf die Demokratie in unserem Europa.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

zurück zur Ausgabe