Schiffbruch auf dem Weg nach Westen

Zwischen Russland und Griechenland zeigen sich bemerkenswerte Parallelen. Beide Gesellschaften begaben sich seit den achtziger Jahren auf den mühsamen Kurs der Verwestlichung - in beiden Fällen ging das Vorhaben schief. Warum eigentlich?

Die politischen Probleme Russlands und Griechenlands haben die Europäische Union im vergangenen Jahr sehr beschäftigt. Auf den ersten Blick haben die beiden Staaten wenig gemeinsam. Russland, das schwerfällige und ölreiche Zentrum der untergegangenen Sowjetunion mit imperialen Ambitionen, und Griechenland, der finanz- und strukturschwache Mittelmeeranrainer im Südosten des Kontinents. Doch spätestens auf den zweiten Blick zeigen sich deutliche historische Parallelen: Beide Länder begannen in den achtziger Jahren die Verwestlichung ihrer Gesellschaft. Und in beiden Fällen ist dieses Projekt gescheitert – mit dramatischen Folgen für beide Staaten sowie deren Nachbarn. Welche Schlussfolgerungen erlaubt diese Entwicklung? Und was bedeutet sie für den Westen selbst?

»Westen« ist ein Projekt, kein Zustand

Der Westen ist ein historisches Konstrukt. Seine begrifflichen, politischen und geografischen Grenzen waren in den vergangenen Jahrhunderten ständig im Fluss. Als politisches System und gesellschaftliche Ordnung sperrt er sich gegen eine einfache Definition. Letztlich ist der „Westen“ ein normatives politisches Projekt, das immer work in progress bleiben wird. Denn freie Gesellschaften definieren sich ständig neu. Dennoch lassen sich die Grundpfeiler benennen, auf denen das westliche Projekt seit zwei Jahrhunderten – und besonders nach 1945 – ruht. Zu den Säulen westlicher Gesellschaften zählen: geschützte Freiheitsrechte des Einzelnen, Religionsfreiheit, ein säkularer Staat, die Möglichkeit zur politischen Teilhabe, der Schutz des Eigentums und eine unabhängige Justiz. Dies ist der Kernbestand einer jeden liberalen Ordnung – und nicht verhandelbar.

Dass es stets Widersprüche zwischen politischem Handeln und normativem Projekt gibt und gab, macht die ­Geschichte des Westens aus. Seine Entwicklung war kein linearer Prozess. Einmal gewonnene Rechte und Freiheiten mussten immer wieder behauptet werden. „Die Verwestlichung des Westens war ein Prozess, dessen hervorstechendes Merkmal die Ungleichzeitigkeit bildet“, so der Historiker Heinrich August Winkler. Deshalb gehört die Erklärung der Menschenrechte ebenso zur Geschichte des Westens wie die Sklaverei. Vor allem konstituieren sich westliche Gesellschaften auch durch die Sicht ihrer Gegner. Der Nationalsozialismus, der Kommunismus oder auch die islamistische Bewegung hatten oder haben ihre jeweils eigene Vorstellung vom Westen.

Warum die Eliten nach Westen wollten

Deutschland selbst hat 1914 seinen anti­westlichen Anspruch definiert. Erst nach 1945 wurde für die Bundesrepublik die Zugehörigkeit zum Westen zur Staatsräson. Die Geschichte der Bonner Republik wird vielfach als die geglückte Verwestlichung nach der nationalsozia­listischen Diktatur interpretiert. Seit 1990 gehört das vereinigte Deutschland zur westlichen Welt. Nach dem Umbruch von 1989/90 – dem Ende der kommunistischen Diktatur in Europa – formulierte der Philosoph Francis Fukuyama seine berühmte These vom „Ende der Geschichte“. Er nahm an, dass nach den Irrwegen des 20. Jahrhunderts der unausweichliche Siegeszug der liberalen Ordnung begonnen habe. Nur der Westen bringe seinen Bürgern Frieden und Wohlstand und die soziale Anerkennung, nach der sie streben. Doch in gewisser Weise basierte Fukuyamas Erzählung nur auf den Ereignissen der zweiten Hälfte des Epochenjahres 1989: Er sah den friedlichen Fall der Berliner Mauer und ignorierte die Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Doch Alternativen zum westlichen Weg gibt es immer. Die Eliten in Athen und Moskau entschieden sich bereits vor der Epochenwende für den Weg nach Westen. Beide Gesellschaften mussten im 20. Jahrhundert Krieg, Besatzung, Diktatur und Bürgerkrieg durchleiden. Ihre jüngste ­Geschichte war von illiberaler Staatlichkeit geprägt. Doch nun entschieden sie sich dafür, sich dem Westen anzunähern. Von diesem Entschluss erhofften sie sich eine politische und soziale Dividende. Ihre Eliten hatten erkannt, dass das alte Regime in eine politische und soziale Sackgasse führte.

Der Wandel sollte die weitgehend stillgestellten Gesellschaften modernisieren und Jahrzehnte der Stagnation beenden. Sowohl das Griechenland der Militärdiktatur als auch die sozialistische Sowjetunion hatten bis dahin weit unter ihren Möglichkeiten gelebt. Im Vergleich mit Westeuropa und den Vereinigten Staaten zeigten sich die Defizite ihrer Ordnung: Armut, Ungleichheit und Unsicherheit. Außenpolitische Misserfolge – der Konflikt um Zypern und der Krieg in Afghanistan – diskreditierten die herrschenden Diktaturen. Das Scheitern der alten Regime offenbarte sich immer deutlicher. Zögerlich erkannten Teile der Eliten, dass nur durch eine Annäherung und sukzessive Übernahme des west­lichen Modells ein weiteres Zurückfallen ihrer Länder verhindert werden konnte.

Die Beharrungskraft alter Strukturen

Die Aufnahme Griechenlands in die Europäische Gemeinschaft 1981 sowie Glasnost und Perestroika seit Mitte der achtziger Jahre waren daher nicht primär das Ergebnis eines wachsenden gesellschaftlichen Drucks. Es handelte sich um eine Verwestlichung „von oben“. Sowohl in der Ägäis als auch im sowjetischen Russland konnten sich nur wenige Bürger etwas unter dem Westen vorstellen. Das Gros der Bevölkerung war und blieb den alten paternalistischen Strukturen verhaftet. Viele Griechen und Russen verfolgten die politischen Veränderungen seit den achtziger Jahren mit Skepsis oder Angst: Sie verloren die Gewissheiten und Gewohnheiten, die ihr Leben geprägt hatten. Der lange Weg in den Westen verlangte eben auch die Bereitschaft, die alte Ordnung hinter sich zu lassen.

Sowohl Griechenland als auch – nach dem Zerfall der Sowjetunion – Russland gaben sich westlich geprägte Verfassungen und begannen mit dem Aufbau unabhängiger Institutionen: Gerichte, Parlamente und lokale Selbstverwaltungen entstanden nach westlichem Vorbild. In öffentlichen Reden wurden diese Reformen und das europäische Beispiel beschworen. Und selbstverständlich waren diese Reformen nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Im Gegenteil: In beiden Ländern war ein gesellschaftlicher Aufbruch zu spüren. Der Eindruck dieser anfänglichen Veränderungen und die liberale Rhetorik der Eliten vernebelte jedoch alsbald die Verfassungswirklichkeit. Kritischen Beobachtern blieb nicht verborgen, dass der Wandel auf Widerstand stieß. Bald zeigte sich, dass die reformorientierten Kräfte in den ­Eliten keineswegs über eine Mehrheit verfügten. Zudem wurde die Beharrungskraft alter Strukturen unterschätzt. Wandel bedeutet Mühe – einmal angestoßen, handelt es sich keineswegs um einen Automatismus. Im Gegenteil: Ist der erste Schwung erst verflogen, muss sich im politischen Prozess zeigen, wie weit der Elan zur Veränderung reicht.

Natürlich unterscheiden sich der griechische und der russische Fall in vielerlei Hinsicht. So schaffte Griechenland den Sprung in die Europäische Gemeinschaft und in die Nato. Griechenland ist damit institutionell vollständig in westliche Strukturen integriert. Trotz jahrzehntelanger Hilfen aus Brüssel gelang es Athen jedoch nicht, seine Volkswirtschaft zu modernisieren. Auch der griechische Staat und seine Institutionen bleiben schwach und wenig legitim. Dies zeigt sich in der Verwaltung, der Justiz oder auch bei der Erhebung der Steuern. Schwerer noch als diese institutionellen Unzulänglichkeiten wiegen – wie die Eurokrise zeigt – die wirtschaftlichen Probleme Griechenlands, das von seinen europäischen Partnern vor dem Staatsbankrott gerettet werden musste. Die Krise zeigt die Grenzen der Verwestlichung Griechenlands auf.

Was bleibt, sind Männernetzwerke

Was sich in Griechenland im Kleinen abspielt, zeigt sich in weit größerem Maße in Russland. Die Mannschaft um Michail Gorbatschow stützte sich auf eine Reihe von Reformern, die auf grundlegende Veränderungen abzielten. Dagegen putschte im Sommer 1991 die alte Elite aus KGB, Partei und Armee. Der unmittelbar anschließende Zerfall der zentralen Machtstrukturen ermöglichte den Gegenputsch von Boris Jelzin, der nach der Auflösung der Sowjetunion die Herrschaft in Russland übernahm. Er übernahm die Rhetorik der Verwestlichung, doch im Kampf um das Weiße Haus 1993 und im 1994 begonnenen Tschetschenienkrieg setzte er auf Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung. Die kurze Periode der von Gorbatschow oktroyierten Zivilisierung endete daher bereits in den neunziger Jahren. Die neu geschaffenen westlichen Institutionen – die Duma und die Gerichte – verloren in der politischen Praxis zügig an Bedeutung. Bestehen blieben hingegen die informellen Männernetzwerke, die schon in der sowjetischen Epoche den Zugang zu Macht und Ressourcen geregelt hatten, ebenso wie das absolute Primat der Exekutive. Auch in Russland blieb der Staat schwach; es mangelte an Legitimität. Die Erwartungen der Bevölkerung an die Reformen wurden enttäuscht; die Eliten diskreditierten das westliche Modell. Unter Jelzin setzte sich die autokratische Tradition Russlands und der Sowjetunion fort. Letztlich scheiterten sowohl die Pluralisierung der Macht als auch die Föderalisierung des Landes. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin bediente noch für eine Weile die Reformrhetorik – so etwa 2001 vor dem Deutschen Bundestag. Doch sein politisches Handeln zielte auf den Ausbau einer Machtvertikale, die Einschränkung der Bürgerrechte und das Ende politischer Partizipation. Damit beendete er das Reformintermezzo, das Gorbatschow begonnen hatte.

Jede Verwestlichung gelingt oder scheitert auf ihre eigene Weise. Das zeigen etwa die erfolgreichen Beispiele Deutschlands nach 1945 und Polens nach 1989. Dennoch lassen sich einige wichtige Merkmale benennen, die den Wandel beeinflussen. In der Bundesrepublik wie auch in Polen gab es einen breiten politischen und auch gesellschaftlichen Konsens, der den Weg nach Westen ebnete. So konnten liberale Eliten entstehen und politische Institutionen wachsen. Dieses Einvernehmen gab es weder in Athen noch in Moskau. Und selbst diejenigen Kräfte in den politischen Eliten, die gern mit dem westlichen Modell flirteten, waren selten bereit, sich selbst westlichen Normen zu unterwerfen. Sie lebten in der Illusion, dass sie an überkommenen Verhaltensweisen festhalten könnten und dennoch die Früchte des westlichen Modells ernten würden. Die politische Kultur von Diktatur und Oligarchie blieb so hinter den Fassaden des Parlamentarismus erhalten. Unter diesen Spannungen leidet die Legitimität ihrer politischen Systeme bereits seit den neunziger Jahren. Der Widerspruch zwischen Rhetorik und politischer Praxis wurde mit jedem Jahr deutlicher.

Der Westen hat viele Gesichter und eine ambivalente Geschichte. Ein Blick auf die jüngste Geschichte Griechenlands und Russlands verdeutlicht abermals, dass er ein normatives Projekt bleibt, das auf einen gemeinsamen Wertekonsens von Eliten und Gesellschaft angewiesen ist. Wo dieser Konsens nicht besteht, fehlt das Fundament für einen erfolgreichen Wandel. Der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dieses Problem in seinem berühmten Diktum wie folgt zusammengefasst: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht ­garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“

Immer wieder droht die Regression

Griechenland und Russland haben dieses Wagnis gescheut. Vermutlich fehlten ihnen auch einige der historischen Voraussetzungen zum Weg nach Westen. Ihre Eliten versuchen nun, dieses Scheitern mit Populismus und antiwestlicher Rhetorik, im Falle Russlands gar mit antiwestlicher Aggression zu kaschieren. Sie demonstrieren damit, dass es keine unumkehrbare Liberalisierung gibt. Das westliche Projekt muss an seinen Rändern, aber auch in seinem Zentrum immer wieder neu verteidigt werden. Anderenfalls droht der Rückfall in Ordnungen politischer Ungleichheit. Doch zugleich gilt, dass jede Gesellschaft ihren Weg nach Westen auch wieder neu beginnen kann.

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