Rechtsruck. Was die Ankunft der AfD für die Sozialdemokratie bedeutet

Kulturell zu weit links, sozial und ökonomisch zu weit rechts - jetzt muss sich die SPD wirklich grundlegend erneuern. Der Gang in die Opposition verschafft ihr dazu die Gelegenheit

Der Einzug der AfD in den Bundestag markiert nicht nur eine weitere Zäsur für das Parteiensystem, sie bedeutet auch einen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie. Nach dem knappen Scheitern der NPD 1969 (mit 4,3 Prozent) werden jetzt zum ersten Mal seit den fünfziger Jahren wieder rechtsextreme Abgeordnete im Parlament vertreten sein – noch dazu in dem Gebäude, das den Nationalsozialisten von 1925 bis 1932 als Kulisse und Bühne ihres Aufstiegs diente. Zugleich stellt die Ankunft des Rechtspopulismus jedoch auch eine Art europäischer „Normalisierung“ dar, nachdem vergleichbar ausgerichtete Parteien in nahezu allen unseren Nachbarländern heute zu einer festen Größe geworden sind. Warum die Bundesrepublik bis 2013 von diesem Trend ausgenommen war, ist auch im Rückblick keine leicht zu beantwortende Frage.

Mit dem Erfolg der AfD hat sich die Achse im Parteiensystem nochmals nach rechts verschoben – und zwar kräftig. Hatten die drei linken Parteien (SPD, Grüne und PDS beziehungsweise Linkspartei) bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 zusammengenommen jeweils einen deutlichen Vorsprung vor Union und FDP, so kehrte sich das Stimmenverhältnis 2009 erstmals um, also bereits vor dem Auftreten der AfD. Vor vier Jahren lagen die drei rechten Parteien (jetzt mit der AfD) dann bereits um fast 10 Prozentpunkte vor den linken Parteien (51,0 gegenüber 41,5 Prozent). Die rechnerische Mehrheit der linken Parteien im Parlament kam nur zustande, weil sowohl die AfD als auch die FDP jeweils knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Bei dieser Wahl sind die drei rechten Parteien zusammen auf einen Stimmenanteil von 56,2 Prozent gekommen, denen lediglich 38,6 Prozent für SPD, Grüne und Linke gegenüberstehen.

Die asymmetrischer gewordenen Kräfteverhältnisse treffen nun allerdings auf eine neue Symmetrie. Bestand und besteht das linke Lager seit der deutschen Einheit aus drei Parteien, von denen eine – die PDS beziehungsweise die Linkspartei – bis heute als nicht oder als nur bedingt koalitionsfähig betrachtet wird, so hält mit der Ankunft der AfD dieselbe Konstellation im rechten Lager Einzug. Das zweifelhafte Vergnügen, unter ihrer eigenen Regierungsverantwortung neue (und längerfristig bestandsfähige) Parteien im eigenen Lager hervorzubringen, das bisher ausschließlich den Sozialdemokraten vorbehalten war (ab Ende der siebziger Jahre mit den Grünen und 2005 mit der gesamtdeutschen Linkspartei), hat jetzt zum ersten Mal also auch die Union ereilt. Das berühmte Diktum von Franz Josef Strauß, wonach es rechts von CDU und CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe, gilt seit der Etablierung der AfD nicht mehr. Dieser Einschnitt wird auch das künftige Urteil über die „Ära Merkel“ prägen.

Zurück auf der Verliererstraße

Die dramatischen Verluste für die beiden Unionsparteien und der Sprung der Rechtspopulisten auf den dritten Platz ändern jedoch nichts daran, dass CDU und CSU das Rennen mit der SPD um Platz eins klar für sich entschieden haben. Ihr Vorsprung vor der Sozialdemokratie hat sich von 15,8 Prozentpunkten im Jahr 2013 auf 12,4 Prozentpunkte nur unwesentlich vermindert. Dies ist umso bemerkenswerter, als die SPD mit der Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten im Januar äußerst verheißungsvoll in das Wahljahr gestartet war. Der Mobilisierungsschub, der die Partei die Schwelle von 30 Prozent überspringen ließ und in den Umfragen wieder auf Augenhöhe mit der Union brachte, währte aber nur kurz. Mit dem enttäuschenden Landtagswahlergebnis im Saarland, wo sie den erhofften Regierungswechsel verpasste, begab sich die SPD schon im März erneut auf die Verliererstraße, bevor sie die Niederlagen in Schleswig-Holstein und vor allem Nordrhein-Westfalen im Mai vollends in den Abgrund rissen.

Der haushohe Vorsprung der Union vor der SPD, den die Demoskopen dem Wahlvolk Woche für Woche dokumentierten, dürfte mit dazu beigetragen haben, dass sich die Wähler am Ende scharenweise von beiden Volksparteien abwandten. Die von der Union 2009 und 2013 erfolgreich praktizierte Strategie der asymmetrischen Demobilisierung kehrte sich bei dieser Wahl erstmals gegen sie. Dies lag auch daran, dass es nicht gelang, das Flüchtlingsthema kleinzuhalten. Nährten die Umfragen nach Martin Schulz’ Nominierung im Januar die Hoffnung, dass die Konzentration auf das Rennen zwischen den beiden großen Parteien die AfD vielleicht sogar unter die Fünf-Prozent-Hürde drücken könnte, so spielte die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der SPD, eine klare politische Alternative zur Union anzubieten, den Rechtspopulisten im Laufe des Wahlkampfs immer stärker in die Hände. Es bleibt allerdings (auch mit Blick auf die Rolle der Medien) eine offene Frage, ob es mit einer besseren Strategie tatsächlich möglich gewesen wäre, die sozialen Themen anstelle der Flüchtlingsfrage nach vorne zu schieben.

In der Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten dürfen die Volksparteien nicht den Fehler machen, diese nur auf der Metaebene zu führen, indem sie die Prinzipien der liberalen Demokratie gegen die Anfeindungen von rechts verteidigen. Falsch ist es auch, den Blick beim Thema AfD zu sehr auf den Osten zu verengen, wo weniger als ein Fünftel der Wähler leben. Zwar ist es richtig, dass die AfD in den neuen Bundesländern über ein doppelt so großes Wählerpotenzial verfügt wie in den alten. Nimmt man die Linke hinzu, stimmen hier sogar 40 Prozent der Wähler für die Randparteien (gegenüber 18 Prozent in der alten Bundesrepublik). Rechnet man aber in absoluten Zahlen, entfallen sowohl bei der AfD als auch bei der Linkspartei knapp zwei Drittel der Wählerstimmen auf den Westen.

Wann die SPD am erfolgreichsten ist

Die Hauptaufgabe in der Auseinandersetzung liegt unterhalb der Metaebene und muss bei den Ursachen des Rechtspopulismus ansetzen. Unter den wissenschaftlichen und politischen Beobachtern streitet man heute darüber, ob diese eher auf soziale beziehungsweise wirtschaftliche oder kulturelle Konflikte zurückgehen. Dies spiegelt sich auch in der sozialwissenschaftlichen Erforschung der AfD wider. Während einige Wissenschaftler deren Wähler als typische Globalisierungs- oder Modernisierungsverlierer apostrophieren, betonen andere, dass die Partei die größte Unterstützung gerade nicht von den wirtschaftlich Benachteiligten erfahre. Die Entgegensetzung von sozialen und kulturellen Ursachen des Rechtspopulismus geht aber an der Sache vorbei, denn es ist gerade das Zusammenspiel und die wechselseitige Verstärkung beider Faktoren, die die Brisanz der Konflikte ausmachen. Dies gilt vor allem beim Thema Zuwanderung. Dass der Rechtspopulismus in den west- und nordeuropäischen Ländern wesentlich erfolgreicher ist als in den südeuropäischen, liegt nicht zuletzt daran, dass dort ein hoher Migrantenanteil und ein traditionell stark ausgebauter Wohlfahrtsstaat zusammenkommen. Dies gilt umso mehr, als der letztgenannte zugleich die wichtigste Schutzvorkehrung gegen mögliche Negativfolgen der Globalisierung bildet.

Wie sollte sich die Sozialdemokratie in dieser Auseinandersetzung positionieren? Die SPD war und ist immer dann am erfolgreichsten, wenn es ihr gelingt, eine möglichst breite Wählerkoalition ihrer traditionellen Kernklientel der kleinen Leute mit dem linksliberalen Bürgertum zusammenzubringen. Die Wahlanalysen zeigen, dass ihr seit Mitte der 2000er Jahre vor allem die erste Gruppe weggebrochen ist. Nur der kleinere Teil dieser Gruppe ist zur Linkspartei oder – jetzt – zur AfD gegangen, deren erfolgreiche Mobilisierung früherer Nichtwähler sich im Anstieg der Wahlbeteiligung um fast fünf Prozentpunkte niederschlägt. Der größere Teil zieht es vor, den Wahlen ganz fernzubleiben; diese Wähler haben schon seit langem resigniert und sich aus dem politischen Geschehen vollständig ausgeklinkt.

Die kleinen Leute sind der SPD abhandengekommen, weil die Partei – wie viele ihrer europäischen Schwesterparteien – in den kulturellen Fragen zu weit nach links und in den sozialen und ökonomischen Fragen zu weit nach rechts gerückt ist. Was das erste betrifft, liegt das Problem weniger in den liberalen Positionen zur Familien-, Frauen- oder Gleichstellungspolitik, weil diese für die sozioökonomisch benachteiligten Wähler keine wirkliche Bedrohung darstellen. Entscheidender und aus elektoraler Sicht bedeutsamer ist die Zuwanderung, die solche Konkurrenzsituationen tatsächlich entstehen lässt. Die Sozialdemokratie muss dieses Thema offen ansprechen und darf es nicht den Konservativen oder Rechtspopulisten überlassen.

Der Wechsel in die Opposition ist richtig

Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der programmatischen und strategischen Neuaufstellung ist, dass sie aus der Opposition erfolgt. Die noch am Wahlabend getroffene Entscheidung, die Große Koalition aufzukündigen, war aus drei Gründen richtig. Erstens wäre es aus demokratischer Hinsicht ein falsches Signal gewesen, wenn die von den Wählern gleichermaßen abgestraften Regierungsparteien ihr Bündnis einfach fortgesetzt hätten. Wenn die Demokratie vom Wechsel lebt, hat das parlamentarische System in der Bundesrepublik seine Funktionsfähigkeit durchaus bewiesen, da es seit 2002 bei jeder Wahl zu einer zumindest partiellen Veränderung der Regierungszusammensetzung gekommen ist. Welche Probleme dagegen eine Perpetuierung der Großen Koalition gerade mit Blick auf den Rechtspopulismus birgt, zeigt das mahnende Beispiel Österreich.

Zweitens hat die SPD zu Recht darauf hingewiesen, dass sich „staatspolitische Verantwortung“ nicht auf die Funktion einer Regierungspartei beschränkt. Würde sie in der Regierung verbleiben, fiele die Funktion der größten Oppositionspartei im Bundestag der AfD zu – was unter demokratischen Gesichtspunkten eigentlich niemand wollen kann.

Und drittens darf (und muss) eine Partei auch an sich selbst denken. Warum sollte die SPD nach den negativen Erfahrungen, die sie aus elektoraler Sicht mit der Großen Koalition gemacht hat, jetzt zum dritten Mal gegen dieselbe Wand rennen? 2013 konnte Sigmar Gabriel die Genossen von der Notwendigkeit der Regierungsbeteiligung noch damit überzeugen, dass die SPD nach vier Jahren besser dastehen und sie eine Chance haben würde, die Union spätestens dann als führende Regierungspartei abzulösen. Nachdem diese Erwartung nicht eingetreten ist, muss sie jetzt die Konsequenzen ziehen.

Soll die SPD nur noch im Westen antreten?

Chancen birgt die Oppositionsrolle für das eigentlich schon in der abgelaufenen Legislaturperiode anvisierte Projekt, das Verhältnis zu den Linken zu entkrampfen. Gelingt es beiden Parteien, durch eine institutionell abgesicherte Zusammenarbeit die bisherigen Gräben zu überwinden und als Koalitionspartner zueinander zu finden, wäre das womöglich ein erster Schritt hin zu einer mittel- oder langfristigen Wieder- beziehungsweise Neuvereinigung. Diese müsste nicht zwingend auf eine Fusion hinauslaufen, sondern könnte sich auch das CDU/CSU-Modell einer gemeinsamen Fraktionsgemeinschaft zum Vorbild nehmen. SPD und Linke blieben als Parteien organisatorisch getrennt, die SPD würde aber nur in West- und die Linkspartei in Ostdeutschland antreten.

Führt die Etablierung der AfD zu einer dauerhaften Dreiteilung im rechten Lager, würde eine Überwindung der Spaltung die bis 2013 bestehende förmliche Asymmetrie zugunsten des rechten Lagers in eine Asymmetrie zugunsten des linken Lagers verwandeln. Die SPD könnte damit macht- und koalitionspolitisch von derselben Konstellation profitieren, die der Union seit 2005 eine hegemoniale Position im bundesdeutschen Parteiensystem sichert.

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