Präsident für zentrifugale Zeiten

Joachim Gauck hat viele Erwartungen übertroffen und dem beschädigten Amt des deutschen Staatsoberhaupts wieder Respekt verschafft. Sein Nachfolger tritt kein leichtes Erbe an, doch angesichts gesellschaftlicher Spaltung und internationaler Verunsicherung ist Frank-Walter Steinmeier jetzt genau der richtige Kandidat

Bislang galt, dass Popularität keine Einbahnstraße ins höchste bundesdeutsche Staatsamt ist, weder ins Berliner Schloss Bellevue, noch zuvor in die Bonner Villa Hammerschmidt. Gerade Sozialdemokraten können ein Lied davon singen. An zwei besonders schmerzhafte Beispiele sei erinnert: Im Kampf um die Heuss-Nachfolge 1959 unterlag der eine Zeitlang als populärster Politiker geltende Professor Carlo Schmid gegen Konrad Adenauers „dritte Wahl“, den relativ unbekannten Kabinettshinterbänkler Heinrich Lübke. Dazu eine Eintragung in den „Tagebuchbriefen“ von Theodor Heuss: „Den Einzug Carlo Schmids in das Palais Hammerschmidt zu verhindern, ist eine wesentliche Phantasiebeschäftigung für Adenauer geworden“.

Im Kampf um die Weizsäcker-Nachfolge 1994 hatte der wesentlich populärere „Bruder Johannes“ Rau, langjähriger Ministerpräsident an Rhein und Ruhr, das Nachsehen gegen den Karlsruher Verfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog, worüber SPD-Parteichef Rudolf Scharping derart erzürnt war, dass er sogleich eine Volkswahl des Staatsoberhauptes forderte und sich damit den Ruf des „schlechten Verlierers“ einhandelte, was seine Chancen als Kanzlerkandidat im gleichen Jahr schmälern sollte.

Doch in diesem Jahr lief alles anders. Zwar täuschte Angela Merkel zunächst ein Machtspiel à la Adenauer und Kohl an, vermutlich weil der Außenminister ihre als uneinholbar geltende Spitzenposition in Umfragen eingenommen hatte. Doch die CSU schluckt lieber zähneknirschend die Wahl des populären Großkoalitionärs, als sich im künftigen Kampf gegen die AfD mit Winfried Kretschmann den Pionier eines auf Bundesebene ungeliebten schwarz-grünen Bündnisses vorsetzen zu lassen oder am 17. Februar mit einem eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang zu unterliegen.

Zum vierten Mal in Folge ist Angela Merkel damit beim Thema Bundespräsident krachend gescheitert: zwei Mal bei der erfolgreichen Durchsetzung von erfolglosen Kandidaten – Horst Köhler und Christian Wulff – sowie zwei Mal bei der erfolglosen Verhinderung von populären Kandidaten – Joachim Gauck und Steinmeier.

Merkels Skepsis war unbegründet

Das gestalterische Vakuum, das nach den gestrauchelten Präsidentschaften von Köhler und Wulff entstand, hatte Merkel mit zu verantworten, sodass sie dem von ihr lange Zeit nicht gewünschten Präsidenten Gauck inzwischen dafür dankbar sein müsste, dass er dem beschädigten Amt wieder Anerkennung und Respekt verschafft hat. Auch wenn sie mit ihrer dürftigen Rhetorik den Vergleich zur pastoralen Sprachgewalt des früheren Mecklenburger Pfarrers zu fürchten hatte, realisierte sich keine ihrer negativen Erwartungen, zum Beispiel: der eitle Kandidat könne versucht sein, der Regierung ständig die Leviten zu lesen.

Aber auch viele Einwände von links sollten sich hernach als gegenstandslos erweisen. So fertigte Blogger Albrecht Müller in seinem Buch Der falsche Präsident Joachim Gauck noch vor dessen Amtsantritt als Hartz IV-„Beschöniger“, „groben Unterschätzer“ des Finanzkapitalismus, Ignoranten der „neoliberalen Systemveränderung“, Bellizisten und „Spalter“ der Nation ab. Gauck hege eine „typische Missachtung von in soziale Not Geratenen“ und: „Auch jene verdienen ihn nicht, die sich seit Jahren Sorgen über den Niedergang der Demokratie machen“. Solche Vernichtungsurteile lassen sich nach fast fünf Jahren mit Gauck sicherlich nicht ernsthaft aufrechterhalten.

Dafür kamen andere Vorwürfe am Ende seiner Amtszeit hinzu, zum Beispiel die des selbst ernannten Linkspopulisten Jakob Augstein, der dem scheidenden Präsidenten via Spiegel Online eine „Roll-back“-Partie attestierte. Er habe das Amt „viel konservativer“ als seine Amtsvorgänger ausgefüllt. Doch wer möchte dem früheren Bürgerrechtler im Ernst vorhalten, nach seinen einschneidenden Lebenserfahrungen mit antikapitalistischen Systemexperimenten („Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren.“) kein „albernes“ Occupy-Wallstreet-Fähnchen mehr schwingen zu wollen oder an neue „dritte Wege“ zu glauben?

Erst Recht in die Kritik geriet der Hausherr im Bellevue aufgrund seiner Distanzierung von der multikulturellen Kultparole seines Vorgängers Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland. Gleich nach seiner Wahl gestand Gauck in der Zeit, diesen Satz so nicht übernehmen zu können, „aber seine Intention nehme ich an … Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland“. Wulffs leichtfertig dahingeworfene Integrationsformel war sicher fragwürdiger als Gaucks Zweifel an der plakativen Ein-Satz-Formulierung über eine höchst hybride Religion.

Hohe Moral und feines Gespür

Vor allem Gaucks positives Verhältnis zu militärischen Einsätzen bereitete seinen Gegnern von links Bauchschmerzen. So lobte er schon mal den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan und stellte dabei militärische Gewalt als „notwendig und sinnvoll“ heraus. Sogar als „Kriegstreiber“ wurde er nach seiner gesalzenen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 stigmatisiert. Tenor: Wir sollten uns mehr engagieren in der Welt. „Deutschland zeigt zwar seit langem, dass es international verantwortlich handelt. Aber es könnte – gestützt auf seine Erfahrungen bei der Sicherung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit – entschlossener weitergehen, um den Ordnungsrahmen aus Europäischer Union, Nato und den Vereinten Nationen aufrechtzuerhalten und zu formen. Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde.“

Kritik von links gab es auch an seinem Fernbleiben von Wladimir Putins olympischem Eröffnungsspektakel in Sotschi 2014. Gauck geriet in die Schusslinie aller Kulturrelativisten und Entspannungsdogmatiker, die über keinen Begriff vom „inneren Frieden“ mehr verfügen. Dabei hatte er nicht nur hohe Moral, sondern auch ein feines Gespür bewiesen. Denn heute wissen wir, dass Putin als Gastgeber die „olympische Friedenspflicht“ in der schamlosesten Weise verletzte, indem er noch während der Spiele den kriegerischen Einsatzbefehl für die Annexion der Krim gab.

Auch während seines Griechenland-Besuches 2014 erntete das deutsche Staatsoberhaupt Kritik, als er den griechischen Präsidenten Karolos Papoulias in das Dorf Lyngiades begleitete, wo die Mittenwalder Gebirgsjäger im Oktober 1943 aus Rache an Partisanen achtzig Einwohner ermordet hatten. Man vermisste von Gauck ein positives präsidiales Signal beim leidigen Reparationsthema. Stattdessen wiederholte er den eindeutigen Rechtsstandpunkt der Bundesregierung, ohne weitere Empfehlungen abzugeben.

Dagegen wagte er sich als erster Bundespräsident nach Oradour-sur-Glane, einem Symbol für die Gräuel der Waffen-SS in Frankreich 1944, wo 642 Menschen massakriert worden waren. Er durfte dorthin kommen: „Als Bundespräsident ahne ich und als Mensch fühle ich, was diese Entscheidung für Frankreich und die Franzosen bedeutet.“ Was Gauck-Kritiker hierzulande übersahen: Für die französischen Gastgeber im Elysée-Palast wurde der Gauck-Besuch in Oradour in eine Linie eingereiht mit den historischen Treffen von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1962 in Reims sowie von François Mitterrand und Helmut Kohl 1984 in Verdun.

Zunächst brachte Joachim Gauck nach dem Wulff-Desaster bei der notwendig gewordenen Neujustierung des Amtes wieder Ruhe ins Schloss Bellevue, ohne dass sein Amtssitz zu einem Ort überraschungsloser Langeweile geworden wäre. Er feilte hörbar am gesellschaftlichen Grundkonsens, ohne ständig mit Gardinenpredigten zu nerven oder das Abstandsgebot zur praktischen Politik zu verletzen. Der Eindruck täuscht wohl nicht, das die Bürger das Pastorale ihres Staatsoberhauptes gern in Kauf nahmen, solange er dabei auf den peinlichen Glamourfaktor der Wulffs verzichtete.

Die Direktwahl will kaum noch jemand

Mit seinen Solidaritätsbekundungen für verfolgte Oppositionelle (wie den Journalisten Can Dündar) und seiner offenen Sprache in Menschenrechtsfragen (sei es in China, der Türkei oder in Polen gegenüber Russland) setzte er allen diplomatischen Nichteinmischungsparolen herausragende Akzente entgegen.

So hat es Joachim Gauck während seiner Amtszeit doch noch geschafft, seine Gegner weitgehend zu entwaffnen – durch souveräne Auftritte, unabhängige Statements und immer wieder überraschende Einwürfe. Eine Wiederwahl mit Rekordergebnis wäre ihm sicher gewesen.

Eine Debatte zumindest scheint nach der geglückten Präsidentschaft Gaucks an diskursiver Dynamik verloren zu haben: die seit 1979 als Dauerbrenner im Lager der Unterlegenen und Parteiverdrossenen gepflegte Forderung, den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen. Damals verfügte der populäre Freidemokrat Walter Scheel über keine sozial-liberale Mehrheit mehr in der Bundesversammlung und wurde vom anfangs nicht sehr beliebten Konservativen Karl Carstens abgelöst. Auch 1994 wurde nach einer Volkswahl gerufen, als Johannes Rau gegen den in der Bevölkerung weniger bekannten Roman Herzog unterlag. Frühere Amtsinhaber wie der Parteienkritiker Richard von Weizsäcker oder auch Horst Köhler, der sich als einfach formulierender Anwalt des Volkes verstand, traten nach ihrer Amtszeit offen für einen neuen Wahlmodus ein.

Richtig Fahrt nahm die Diskussion um die Direktwahl in den Nullerjahren nach Antritt der rot-grünen Koalition auf. Damals waren im Lande viele Systemtüftler unterwegs und dachten über die plebiszitäre Erweiterung unserer Demokratie nach. War es den Verfechtern eines neuen Wahlmodus in der Vergangenheit ausschließlich darum gegangen, das primär repräsentative Amt dem parteipolitischen Ränkespiel zu entziehen, so handelte es sich nunmehr um den Versuch einer präsidialen Verschiebung des politischen Systems überhaupt. Dabei schien das höchste Staatsamt als Kommunikationsinstanz, ja als partizipatorisches Heilmittel für politik- und parteienverdrossene Bürger vorgesehen.

Im Kampf gegen Rot-Grün führten aufmüpfige Geister von rechts wie zum Beispiel Arnulf Baring oder Alexander Gauland mit der Direktwahl des Bundespräsidenten Autoritäres im Schilde, eine etwas stärker präsidial und weniger parteienherrschaftlich geprägte Bundesrepublik. Aber es gab damals auch linke Köpfe, die mittels einer Volkswahl die immobilen Verhältnisse zum Tanzen bringen wollten. So dachte zum Beispiel der SPD-Vordenker Peter Glotz im Jahr 2004 daran, man könne mit einem plebiszitär gestärkten Präsidenten „die Verkrustungen des Parteiensystems aufbrechen“, weil es dem Grundgesetz an „intervenierenden Varianten“ mangele. Auch Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach sah keinen Grund mehr, ihrem Volk zu misstrauen: „Die geistige Unterschätzung der Deutschen nach über einem halben Jahrhundert demokratischem Leben ist eine Frechheit der Ablehner.“

2010 erreichte die Debatte um eine Direktwahl ihren Höhepunkt, als Merkel gegen den „Präsidenten der Herzen“ (Bild-Zeitung) Joachim Gauck den kaum für satisfaktionsfähig gehaltenen Christian Wulff aufbot, was eine Welle der Empörung hervorrief. Doch eine ernsthafte Diskussion kam nie zustande, weil die Befürworter einer Wahlreform stets in verfassungspolitische Verlegenheit gerieten, wenn es konkret wurde und um die zusätzlichen Machtbefugnisse ging, die einem höher legitimierten, weil direkt gewählten Staatsoberhaupt zuzustehen schienen.

Gewiss, noch immer plädieren laut einer YouGov-Umfrage 70 Prozent in der Bevölkerung für eine Volkswahl, davon sind aber nur 30 Prozent bereit, dem Gewählten auch mehr Macht zu konzedieren. Was aber soll ein direkt gewählter Bundespräsident, der laut Verfassung politisch nichts zu sagen hat? So kommt der Volkswahl des Staatsoberhaupts im gesellschaftlichen Partizipationsdiskurs mittlerweile keine zentrale Bedeutung mehr zu.

Was die Bürger wirklich wollen

Zum Glück, möchte man meinen, wimmelt es doch derzeit in Europa vor abschreckenden Beispielen einer Präsidialisierung, von der Rückentwicklung Russlands und der Türkei zu Schurkenstaaten über die autoritären Tendenzen in Ungarn und Polen bis zur Bundespräsidentenwahl in Österreich, bei welcher der rechtspopulistische Kandidat Norbert Hofer schon vor dem ersten Wahlgang damit drohte, die legalen Kompetenzen des Amts großzügig bis an den Rand einer präsidialen Systemverschiebung auszuschöpfen. Und von Donald Trump ist dabei noch gar nicht die Rede!

Der französische Politologe Pierre Rosanvallon hat in seinem gerade erschienenen Werk Le bon gouvernement die verheerenden Konsequenzen der Tendenz zur Präsidialisierung eindrucksvoll beschrieben, ohne in hohles partizipatorisches Pathos zu verfallen: „Die Bürger träumen nicht von einer direkten Demokratie … Was sie wollen sind Regierende, die kompetent und engagiert ihre Arbeit erledigen und deren vorrangige Sorge dem Gemeinwohl und nicht ihrer Karriere gilt. Sie akzeptieren die Arbeitsteilung zwischen Regierten und Regierenden, erwarten aber, dass diese Bedingungen erfüllt werden, und sind diesbezüglich anspruchsvoll.“

Eher Integration als Innovation

Es ist sicher kein schlechtes Zeichen, dass für die Gauck-Nachfolge auch Namen wie Navid Kermani, Margot Käßmann, Jutta Allmendinger, Carolin Emcke oder „eine Frau mit Migrationshintergrund“ (so Simone Peter von den Grünen) als KandidatInnen genannt worden sind. Die Vorschläge beweisen zumindest, dass dieses Amt noch nicht als grau, dröge und verzichtbar aufgefasst wird, sondern dass man mit ihm noch Potenzial politischer, moralischer oder kommunikativer Art assoziiert.

Ist im Bellevue also noch „Luft nach oben“? Derzeit wohl eher nicht, denn das Anforderungsprofil in Zeiten eines beängstigenden Auseinanderdriftens der Gesellschaft verlangt mehr integrative Stärken als experimentelle Neuerungen. Es geht darum, die Bevölkerung zusammenzuführen, den richtigen Ton in Zeiten lauernder Terrorismusgefahren zu wählen, gegenüber einem grassierenden Rechtspopulismus keine Zweifel an europäischer Gesinnung aufkommen zu lassen und unbeirrt an den Werten einer liberalen Gesellschaft festzuhalten.

Dafür ist Frank-Walter Steinmeier gewiss ein geeigneter Kandidat. Seine diplomatische Meisterschaft verspricht Überparteilichkeit; seine Erfahrung, die er an vielen Konfliktorten der Welt sammeln konnte, ist in Zeiten einer fast totalen internationalen Verunsicherung sein großes Plus. Und auf der Trauerfeier für Richard von Weizsäcker im Berliner Dom bewies Steinmeier bereits, dass er nicht nur die Diplomatensprache beherrscht.

Natürlich würden die rechten Kritiker des Establishments am exklusiven Hinterzimmermodus der Nominierung gern die ganze Verkrustung des politischen Systems aufhängen. Doch diese Fundamentalkritik verfängt kaum, da es sich bei Steinmeier um einen populären Kandidaten handelt und die Union sich, vornehm ausgedrückt, bürgergerecht verhielt, indem sie – um einer besseren Lösung willen – über den eigenen Schatten sprang. Die Befürworter seiner Kandidatur sehen in dem 60-Jährigen einen verlässlichen Stabilisator in widrigen Zeiten, dessen diplomatische Korrektheit sich wohltuend abhebt gegenüber aller Wutbürgerei, Polarisierern à la Trump oder menschenverachtendem digitalen Müll.

Kein Präsident der Äquidistanz

Die Kanzlerin hat aus ihrer Sicht allen Grund, Steinmeier als „Mann der Mitte“ zu etikettieren, um jede Symbolik hinsichtlich eines rot-rot-grünen Machtwechsels zu bestreiten. Sie selbst hatte 2004 die erste Köhler-Wahl triumphierend als Ausdruck einer neuen „bürgerlichen Mehrheit in Deutschland“ interpretiert, was seinerzeit als ziemlich unpassend, weil am neutralen Amt vorbei, aufgefasst wurde.

Der Westfale tritt kein leichtes Erbe an. Er muss wohl mit zwei vergifteten Erwartungen rechnen: denen der Agenda-Gegner und denen der Putin-Versteher. Im Inneren dürften seine linken Kritiker vom „Architekten von Hartz IV“ eine symbolische Kurskorrektur gegen die ihm zur Last gelegte „soziale Spaltung der Gesellschaft“ einfordern. Aber auch die außenpolitischen Erwartungen an ihn sind mit Vorsicht zu genießen, wenn es um Akzentverschiebungen gegenüber der moralisch rigorosen Verve seines Vorgängers im Verhältnis zu Russland geht. Vergessen wir nicht: Steinmeier hat mit seinem umstrittenen Diktum vom „Säbelrasseln“ der Nato im Baltikum nicht nur Schulterklopfen unter Genossen, sondern auch Kopfschütteln unter osteuropäischen Nachbarn geerntet. Es ist schon etwas anrüchig, wenn eine russische Tageszeitung seine bevorstehende Wahl mit den Worten begrüßt, dadurch würden die Gespräche auf der Ebene von Staatsoberhäuptern wieder aufgenommen, „die die deutsche Seite künstlich unterbrochen hatte“. Doch was heißt schon „normal“ und was „künstlich“ im Umgang mit dem notorischen Regelverletzer im Kreml?

Als Steinmeier 2014 den letzten Band von Heinrich August Winklers Geschichte des Westens vorstellte, merkte er an, viele seiner Parteifreunde immer noch daran erinnern zu müssen, dass die alte Ost- und Entspannungspolitik keine „Äquidistanzpolitik“ gewesen sei, sondern eine im Westen angedachte Politik, die sich als Ergänzung zur Westintegration verstand. Dieses Beispiel macht in erschreckender Weise deutlich, wie sehr heutzutage eine große Politik an der historischen Wahrheit vorbei narrative Distanz zum Westen suchen muss, um ihren Nimbus zu wahren.

Man darf also schon jetzt gespannt sein, ob der dritte sozialdemokratische Bundespräsident die erwartbare Einladung Putins zur Eröffnungsfeier der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland annehmen wird – im Gegensatz zum Verzicht seines Amtsvorgängers 2014 bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi. Sportlich naheliegend wäre eine solche Visite im Übrigen nicht, denn nach einer Art Lex Beckenbauer aus den Zeiten des „Sommermärchens“ 2006 bestreiten nicht mehr die Titelverteidiger, das wäre diesmal Deutschland, sondern die Gastgeber, also Russland, das Eröffnungsmatch.

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