Ohne Glauben erfriert die Vernunft

zu Georg W. Oesterdiekhoff und Hermann Strasser, Die Evolution des Glaubens, Berliner Republik 3/2009

Welche Rolle sollte die Religion im öffentlichen Raum spielen? Wer über diese Frage diskutiert, muss über die Herkunft von Religion Bescheid wissen - besonders wenn es um Religion in Erziehung und Schule geht. "Wir wollen versuchen, eine Antwort zu geben", versprechen Georg W. Oesterdiekhoff und Hermann Strasser in ihrem Essay "Die Evolution des Glaubens" in der letzten Berliner Republik.

Was dann folgt, ist im wahrsten Sinne des Wortes bemerkenswert. Religion sei keine Universalie der menschlichen Natur, sondern Ausdruck eines anthropologischen Entwicklungsstandes! Religion sei ein Relikt aus "vormodernen Gesellschaften". Religiosität entpuppe sich "als Bestandteil des kindlichen Entwicklungsniveaus des vormodernen Menschen". Und weil ja (man möchte fast sagen: Gott sei Dank!) immer mehr Menschen auf der Welt moderner und damit vernunftgesteuerter würden, sterbe die Religion eben langsam aus. Sie sei nur noch etwas für kindliche Geister, für lebende Fossilien aus vormodernen Gesellschaften.

Thesen unter anderen Thesen

Diese Thesen, die unzählige theologische, soziologische aber auch psychologische Erkenntnisse einfach beiseite schieben und sich somit selbst simplifizieren, sind für sich genommen nur Thesen unter Hunderten anderer Thesen. So lesen wir, auch in den USA sei die Religion auf dem Rückzug - obwohl die dortigen evangelikalen Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten einen rasanten Mitgliederzuwachs verzeichnet haben. Selbst die explodierenden Mitgliederzahlen in radikalen christlichen Sekten und Kirchen in vielen Staaten Lateinamerikas und Afrikas oder der Zulauf zum Islam in zahlreichen Staaten Afrikas und Asiens können Oesterdiekhoff und Strasser nicht von der Feststellung abhalten, dass "selbst in den Entwicklungsländern die Religiosität erodiere".

Sind Gläubige nicht auf der Höhe der Zeit?

Mircea Eliade, auf den sich die Autoren beziehen, wird als "der bedeutendste Religionswissenschaftler der vergangenen Jahrzehnte" bezeichnet. Andere Religionswissenschaftler hat es sicher auch gegeben, aber die sind offensichtlich nicht ganz so bedeutend. Sprache kann verräterisch sein. Noch erschreckender finde ich jedoch den Resonanzboden, den Oesterdiekhoff und Strasser mit ihrem Ideenkonstrukt zum klingen bringen wollen: Es geht ihnen um den richtigen Umgang mit Religion im öffentlichen Raum. Auch wenn die Autoren es tunlichst vermeiden, diese Frage konkret und explizit zu beantworten, gibt die "Gesamtkomposition" ihres Textes eine implizite Antwort darauf: Für Oesterdiekhoff und Strasser sind gläubige Menschen, die ihr Tun und Ihre Meinung in der Öffentlichkeit auch auf religiös fundierte Wertentscheidungen gründen, mit Vorsicht zu genießen. Denn sie repräsentieren eine aussterbende "vormoderne" Denk- und Lebensweise, deren  "geistiger Entwicklungsstand" nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Solchen Leuten darf man die öffentliche Arena nicht überlassen.

Diese indirekte, subtile  "Herabsetzung" gläubiger Menschen auf ein niedrigeres "anthropologisches Entwicklungsniveau" ist das eigentlich Perfide an diesem Text. Da werden durchaus richtige entwicklungspsychologische Ansätze, bei denen Glaubensmuster als Eltern(Gott)-Kind(Mensch)-Beziehung interpretiert werden, arrogant in einen ideologischen Kontext gesetzt: Glauben als vormodern statt modern, irrational statt rational, Gemüt statt Verstand. Wäre es doch so einfach.
Immer mehr - oft hoch gebildete - junge Muslime sehen im politischen Islam eine erstrebenswerte Alternative zu westlichem Materialismus und Ausbeutung. Mehr und mehr Menschen wenden sich, wenn nicht einer etablierten Kirche, so doch Glaubensfragen zu, weil sie den Sinn des Lebens in unserer ökonomisierten Gesellschaft wirklich nicht mehr finden können. Sogar in China wächst das Christentum rasant. Sind all diese Menschen vormodern?

Der asymmetrische Diskurs ist gar keiner

Als gläubiger Christ stelle ich mich gerne der Kritik derjenigen, die den Glauben für unmodern, ja gefährlich halten. Ich verurteile niemanden, weil er gar nicht oder an etwas anderes glaubt. Könnte ich einen Dialog beziehungsweise Diskurs auf gleicher Augenhöhe und redlicher Wertschätzung führen, wenn ich (natürlich nur rein wissenschaftlich) davon ausgehen würde, dass der "Andersgläubige", ein niedrigeres "anthropologisches Entwicklungsniveau" besitzt?

Jürgen Habermas, der wohl außer Verdacht steht, ein vormoderner Glaubender zu sein, stellt in seinen Schriften mittlerweile fest, dass religiös begründete Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit einen legitimen Platz haben sollten. Aus Habermas" Perspektive würde die praktische Vernunft ohne einen neuen Dialog mit der Religion ihren geschichtsphilosophischen Rückhalt verlieren. Eben diesen Rückhalt brauche sie aber dringend, um angesichts einer "entgleisenden Modernisierung" nicht an ihren guten Gründen zu verzweifeln.

Ganz in diesem Sinne war der Text von Georg W. Oesterdiekhoff und Hermann Strasser für mich erhellend. Hat er mir doch noch einmal klar vor Augen geführt, was ich schon immer gespürt habe: Ohne Glauben würde die Vernunft erfrieren!

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