Öffnung oder Schließung?

Nach seinem unerwarteten Erfolg bei der britischen Unterhauswahl halten manche den Altlinken Jeremy Corbyn für einen genialen Erneuerer der Sozialdemokratie. Doch nur wenn es der Labour Party gelänge, völlig gegensätzliche Wählermilieus dauerhaft miteinander zu versöhnen, könnte das Modell Corbyn als Vorbild gelten

Der Ausgang der britischen Parlamentswahlen hat selbst erfahrene Beobachter erstaunt. Zu Beginn des Wahlkampfs hatten die meisten Meinungsforscher und Politikwissenschaftler für die Labour Party und ihren Vorsitzenden Jeremy Corbyn ein Desaster vorhergesagt: In den Umfragen lag die Partei rund 20 Prozentpunkte hinter den Tories, und bei den jüngsten Kommunalwahlen hatte sie herbe Niederlagen einstecken müssen. Außerdem wurden Theresa May viel höhere Kompetenzen im Hinblick auf Führungsfähigkeit und Wirtschaftsfragen zugeschrieben.

Und dennoch: Labour kam am 8. Juni auf mehr als 40 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das ist das beste Ergebnis seit den Wahlsiegen von Tony Blair 1997 und 2001. Im Vergleich zur Wahl 2015 hat sich Labours Stimmenanteil um mehr als 9 Prozentpunkte erhöht – der größte Sprung seit 1945. Während Theresa Mays verheerende Entscheidungen und Wahlkampfauftritte die Konservativen ins Chaos gestürzt und womöglich den gesamten Brexit-Prozess in Gefahr gebracht haben, können sich immer mehr Wähler aus den Mittelschichten Jeremy Corbyn als künftigen Premierminister vorstellen.

Die Gewissheiten sind widerlegt

Kurzum, diese Wahl hat ein politisches Erdbeben verursacht, das einige Orthodoxien der britischen Politik infrage stellt, die in den vergangenen 40 Jahre gegolten haben: Die erste Orthodoxie besagt, Labour könne nicht gewinnen, wenn die Partei mit einer dezidiert linken Politik um Wählerstimmen kämpft. Tatsächlich enthielt das Wahlprogramm viele traditionelle sozialdemokratische Elemente. So versprach Labour etwa, Wohlhabende stärker zu besteuern und dieses Geld in das Gesundheitssystem und die Schulen zu investieren sowie die Studiengebühren abzuschaffen. Zudem kündigte die Partei an, die Bahn und Energieversorger wieder zu verstaatlichen. Kein Zweifel: Labours Positionen waren weiter links als bei jeder anderen Wahl seit 1983 – und trotzdem konnte Labour seinen Wähleranteil in fast allen sozialen Gruppen erhöhen. Die Behauptung der Modernisierer in der Partei, dass Großbritannien ein durch und durch konservatives Land sei, dessen Bürger höheren Steuern ebenso skeptisch gegenüberstehen wie der Forderung nach „mehr Staat“, ist offensichtlich widerlegt.

Die Jungen gehen wieder wählen

Die zweite durch Labours Erfolg widerlegte Orthodoxie ist die Annahme, es sei unmöglich, jüngere Wähler und die so genannten Abgehängten zu mobilisieren. Die Wahlbeteiligung stieg auf fast 70 Prozent, wobei gerade die 18- bis 34-Jährigen zahlreicher zur Wahl gingen als früher. Die vermeintlich marginalisierten Arbeiter, von denen viele entweder gar nicht mehr gewählt hatten oder seit den 2000er Jahren zur rechtspopulistischen UKIP gewandert waren, kehrten in Scharen zu Labour zurück. Dies lag auch daran, dass Labour auf verblüffende Weise „moderne“ und „traditionelle“ Kampagneninstrumenten kombinierte. Auf der einen Seite setzte die Partei die sozialen Medien effektiv ein und dominierte die Onlinediskussion. Auf der anderen Seite hielt Jeremy Corbyn dutzende Kundgebungen unter freiem Himmel ab, die gegen Ende des Wahlkampfs jeweils Tausende Menschen anzogen. Zwar gaben die Tories für ihre Kampagne deutlich mehr Geld aus, aber Labour setzte gnadenlos – und erfolgreich – auf Mund-zu-Mund-Propaganda und den traditionellen Haustürwahlkampf.

Drittens schließlich ist die Annahme erschüttert worden, dass es sich bei der Konservativen Partei um eine erbarmungslos effektive Stimmenmaximierungs-Maschine handelt. Die Kampagne der Tories war ein Totalausfall. Dabei hatte Theresa May hohe Erwartungen geweckt. Ihr erklärtes Ziel war eine satte Mehrheit, die ihr Rückenwind für die Brexit-Verhandlungen verschaffen sollte. Doch ihre medialen und öffentlichen Auftritte während der Kampagne waren überwiegend schwach. Hinzu kam, dass das Wahlprogramm der Tories Zumutungen für ihre loyalste Wählergruppe enthielt: die wohlhabenden Älteren. Dem Programm zufolge sollen vormals universelle Leistungen für Rentner bald einer Bedürftigkeitsprüfung unterliegen. Und Menschen mit chronischen Erkrankungen müssen künftig mehr für ihre Sozialfürsorge zu Hause bezahlen, sofern sie finanziell relativ gut dastehen. Was sich in dem Programm dagegen nicht fand, war eine überzeugende Vision, welche Rolle Großbritannien in einer Post-Brexit-Welt spielen soll und wie das Land als EU-Outsider die ökonomischen Herausforderungen – besonders mit Blick auf Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit – bewältigen könnte. Die Konsequenzen dieser politischen Fehler waren katastrophal.

Umgekehrt glauben viele Anhänger von Labour, dass ihre Partei nun kurz vor dem größten Sieg seit 1945 steht. Und in der Tat hat Parteichef Jeremy Corbyn eine realistische Chance, demnächst Premierminister zu werden. May selbst ist kolossal geschwächt, während ihre Regierungsmehrheit von den Stimmen der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) abhängt – mit destabilisierender Wirkung auf den dortigen Friedensprozess. Baldige Neuwahlen sind wahrscheinlich, die Labour eigentlich nur selbst versemmeln kann.

Durch die linke Mitte verläuft ein Riss

Aber in der Politik sind die Dinge nie so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Ohne Zweifel ist die Stellung der Partei (und ihres Vorsitzenden) durch die Parlamentswahl verändert worden, aber Labours politische Schwachstellen haben sich dadurch nicht in Luft aufgelöst. Die Ergebnisse der Wahl zeigen, dass Großbritannien eine extrem polarisierte Nation ist und keineswegs kurz davor steht, einen umfassenden Sozialismus zu akzeptieren. Die Regionen des Landes, die mit großen Mehrheiten für den Brexit gestimmt hatten, blieben bei den Parlamentswahlen den Konservativen treu (vor allem in England). Die britische Wählerschaft ähnelt immer mehr zwei miteinander verfeindeten Stämmen: Die Mitglieder der einen Wählergruppe sind tendenziell jünger und besser ausgebildet, sie haben gute Jobs und beziehen relativ hohe Einkommen. Diese Menschen wollen ein „offenes Großbritannien“ und sind entsetzt über die Entscheidung, die EU zu verlassen. Zu dem anderen Stamm gehören überwiegend ältere Wähler, im Rentenalter oder in Blue-Collar-Berufen, die wirtschaftlich marginalisiert sind und sich nach einem „geschlossenen Großbritannien“ sehnen, in dem traditionelle Moralvorstellungen und Autoritäten wiederhergestellt werden. Labour hat es geschafft, am 8. Juni einige dieser Bewohner von closed britain anzuziehen, weil die Partei gegen Austeritätspolitik und Einschnitte in den Sozialstaat polemisierte. Ob Labour in dieser Wählergruppe allerdings weitere Fortschritte erzielen kann, wird von Jeremy Corbyns Bereitschaft abhängen, seine kosmopolitischen Positionen und sein Weltbild zu verändern.

Vor dieser Herausforderung stehen alle sozialdemokratischen Parteien in Europa: Die gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen der vergangenen drei Jahrzehnte haben die Trennlinie „materialistisch/postmaterialistisch“ innerhalb des Mitte-links-Spektrums verschärft. Um die Mittelschichten der Nach-Achtundsechziger Generation anzusprechen, haben Parteien der linken Mitte kulturalistische und libertäre Vorstellungen angenommen: Beim Thema Migration zeigen sie sich eher tolerant, während sie gegenüber materialistischen Anliegen wie Vollbeschäftigung oder der Verteidigung des Sozialstaates und des öffentlichen Sektors weniger sensibel sind. Ihr kosmopolitischer Liberalismus zwingt sozialdemokratische Parteien dazu, sich von patriotischen Botschaften oder Identitätspolitik zu distanzieren.

The proof of the pudding is in the Brexit

In Europas Norden haben sich heimatlos gewordene Wähler aus der Arbeiter-schaft rechtspopulistischen Parteien zugewandt. Deren Attraktivität besteht in einer Kombination aus Identitätspolitik (Nationalismus, Integration, Anti-Immigration, Anti-Islam) und einem traditionell linken Ansatz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. In Südeuropa sind neue Parteien außerhalb existierender Parteistrukturen entstanden. In Spanien beispielsweise mobilisiert Podemos die Mittelschicht und die Jüngeren gegen das ökonomische und politische System in einer Weise, die Jeremy Corbyns Vorgehen nicht unähnlich ist; die Anhänger von Podemos stehen korrupten Eliten besonders feindselig gegenüber.

Um wieder erfolgreich zu werden, müssen sozialdemokratische Parteien – auch die Labour Party – neue Positionen erarbeiten, mit denen dauerhafte politische Allianzen zwischen materialistischen Befürwortern geschlossener Gesellschaften und den weltoffenen Postmaterialisten möglich sind. Zugleich müssen sie den Hunger nach partizipatorischer Politik und Demokratie stillen. Der Brexit-Prozess wird der erste Test dafür werden, ob Jeremy Corbyn diese Herausforderung überzeugend anpackt.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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