Mehr Kahrs, bitte! Sonst kommt das Politische zu kurz



Das Bundestagsvotum zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe war für internationale Beobachter der deutschen Politik ein bemerkenswerter Moment – nicht nur für diejenigen, die sich nach der Brexit-Entscheidung und der Wahl Donald Trumps etwas zu sehr in das Bild der deutschen Kanzlerin als letzte Verfechterin des westlichen Liberalismus hineingesteigert hatten.

Nachdem SPD, Linkspartei und Grüne es geschafft hatten, eine vorgezogene Abstimmung über die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare durchzusetzen, gab es da zum Beispiel ein paar Reaktionen aus der CDU. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer meinte, bei so einem wichtigen Thema dürfte keine „überstürzte Entscheidung“ gefällt werden. Fraktionschef Volker Kauder war besorgt, dass das Thema „einfach Knall auf Fall“ in den Bundestag gezerrt worden war. Sein Stellvertreter meinte, man müsse das Ganze erst einmal „gut diskutieren“.

Angesichts der empörten Reaktionen auf die Rede des schwulen Hamburger SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs sieht es aber so aus, als ob eine „gute Diskussion“ in Deutschland etwas anders abläuft als anderswo. Kahrs hatte die Bundeskanzlerin wegen der Verschleppung des Themas kritisiert („Frau Merkel, danke für nichts!“). In sozialen Netzwerken beschwerte man sich, Kahrs Wutausbruch wäre „auf Aufmerksamkeit kalkuliert“ gewesen, er habe sich als „rechtschaffenden Rächer inszeniert“.

Der Blick von außen lässt die Absurdität solcher Kommentare leichter erkennen. Über ein Thema, das in Deutschland seit über zehn Jahren diskutiert wird, und bei dem Deutschland Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Spanien, den skandinavischen Staaten und selbst Irland hinterherhinkt, soll „überstürzt“ entschieden worden sein? Und wenn Parlamentarier sich nicht „inszenieren“, um maximale Aufmerksamkeit für eine Angelegenheit zu erzeugen, was haben sie dann in der Politik verloren?

Für seine robuste, überzeugte Kritik an der Kanzlerin erntete Johannes Kahrs Buhrufe von den Konservativen – und Augenrollen aus den eigenen Reihen. Die Situation zeigte wieder einmal, wie weit es Angela Merkel gelungen ist, nicht nur die deutsche Politik, sondern auch deren parlamentarischen Diskurs zu technokratisieren.

Ähnlich wie die Flüchtlingsfrage, die Atomdebatte oder die Griechenlandkrise war die Ehe für alle am Ende ein amoralisches Thema geworden, bei dem das Reiten auf Prinzipien so aussah wie purer Pragmatismus und umgekehrt. Selbst bei Merkels überraschender Äußerung, dass die Homo-Ehe eine Gewissensentscheidung sei, konnten Kanzlerinnenkenner am Ende nicht mehr unterscheiden, wo die Überzeugung aufhörte und das taktische Kalkül anfing.

Wenn ein Abgeordneter im Bundestag eine Rede mit der eigenen Biografie spickt, dann wird dies meistens gelobt, nicht selten als eine „Sternstunde des Parlamentarismus“ bejubelt. Es gibt aber klare Grenzen. Das Anleihen von emotionalen Noten aus zweiter Hand wird schnell als zu pathetisch empfunden. So ist in Deutschland nur schwer vorstellbar, was in den USA und Großbritannien häufig vorkommt: dass Abgeordnete in Parlamentsdebatten aus Briefen von Wählern vorlesen. Viele Demokraten taten das etwa bei der jüngeren Debatte zu Obamacare. Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn zitiert in Westminster seit zwei Jahren regelmäßig aus seiner Wählerpost.

Eine Dosis Skepsis gegenüber Emotionen und Moralisierung ist sicher nicht unberechtigt. Moral in der Politik ist eine inflationsanfällige Währung. Wer sich ihrer zu leichtfertig bedient, mindert schnell ihren Wert. Aber in Deutschland droht die Moralkeule als politische Waffe nach 12 Jahren Angela Merkel in Vergessenheit zu geraten. Wer mit dem Thema Gerechtigkeit einen Wahlkampf gewinnen will, kann nicht nur sachlich über Steuersätze und Rentenpläne reden. Irgendwann muss er auch den richtigen Moment für eine gutplatzierte Kahrs‘sche Wutrede erwischen.

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