Ist der American Dream ausgeträumt?

Robert D. Putnam analysiert, wie die gesellschaftlichen Fundamente der amerikanischen Demokratie erodieren

„Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“ Dieses afrikanische Sprichwort scheint heute in den hochentwickelten westlichen Ländern wie aus der Zeit gefallen. Überspitzt gesagt: Während „Helikopter-Eltern“ den Nach-wuchs vom Geigenunterricht zum Chinesisch-Kurs fahren und man sich fragt, wie ein Kind so viel „Fürsorge“ eigentlich ertragen kann, ist für andere der Fernseher oder Computer die wichtigste Erziehungshilfe. Die sozialen Einheiten „Dorf“ oder auch „Nachbarschaft“ sind in unseren Gesellschaften immer seltener zu finden.

In seinem Bestseller Bowling Alone unternahm der amerikanische Soziologe Robert D. Putnam vor 15 Jahren eine Reise durch die Gesellschaft der Vereinigten Staaten und diagnostizierte einen verbreiteten Rückzug der Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben ins Private. In seinem neuen Buch Our Kids: The American Dream in Crisis setzt Putnam diese Erkundungsreise fort. Man sollte sich mit allgemeinen Bewertungen einer Gesellschaft eigentlich zurückhalten, doch nach der Lektüre des Buches lässt sich sagen: Es steht nicht gut um den amerikanischen Traum. Sozialer Aufstieg – so die zentrale These Putnams – bleibt die große Ausnahme. In der Regel entscheidet das Elternhaus über die Lebenschancen der Kinder. Und Staat und Gesellschaft können dies kaum korrigieren.

Mit einer Mischung aus Interviews und einem großen Fundus an empirischen Daten begibt sich Putnam auf Ursachenforschung und klopft die Rahmenbedingungen ab, unter denen amerikanische Kinder aufwachsen: die familiäre Situation, die Erziehung, die Schule und die Gemeinschaft. Die erzählend geschriebenen Interviews bieten dem Leser eine Dimension, die den meisten Sach-büchern fremd ist.

Man liest von Kayla, deren Eltern seit Beginn ihres Lebens getrennt waren, und die sich heute von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zum nächsten schlecht bezahlten Job hangelt. Oder man erfährt von der alleinerziehenden Stephanie, deren Mutter mit 15 Jahren starb; heute versucht sie, in einem Vorort von Atlanta mit ihren Kindern Lauren und Michelle irgendwie über die Runden zu kommen, hat aber keine Zeit für Hausaufgabenbetreuung oder das gemeinsame Abendessen.

Diese Geschichten sind einzelne Fälle und im wissenschaftlichen Sinne lassen sich daraus keine objektiven Kausalzusammenhänge oder generalisierenden Aussagen ableiten. Aber: Mit jeder einzelnen Biografie bekommt man ein Gespür dafür, wie schwer der soziale Aufstieg sein kann, wenn schon der Alltag einem alles -abverlangt.

Das klassische Familienbild erodiert

Das Ideal der working class family, die bescheiden ist, sich an die Regeln hält und sich in der Gesellschaft hocharbeitet, scheint zu erodieren. Ärmere Familien zieht es gesellschaftlich nach unten. Die Zusammenhänge, die Putnam herstellt, sind nicht neu: Das Einkommen von Menschen mit High-School-Abschluss stagniert seit rund 20 Jahren. Das Einkommen von Akademikern ist hingegen deutlich gestiegen. Das oberste Zehntel der Einkommenspyramide gibt heute doppelt so viel Geld für jedes Kind aus wie im Jahr 1970, während die Beträge in den „unteren Etagen“ stagnieren.

Klassische Familienbilder erodieren besonders dort, wo Armut und wechselhafte Biografien verbreitet sind. Die betroffenen Menschen haben relativ gesehen an Einkommen verloren, ihre Jobs sind prekär, sie stehen unter existenziellem Stress. Der Besuch eines Colleges – und damit die Aussicht auf ein besseres Leben – ist für ihre Kinder illusorisch. Hinzu kommt, dass viele Männer aus der Unterschicht im Gefängnis sitzen. So hat sich die Rate der inhaftierten Amerikaner durch eine immer restriktivere Bekämpfung der Kleinkriminalität seit den achtziger Jahren mehr als verdoppelt.

Die Parallelgesellschaft der Oberen

Eindrücklich beschreibt Putnam aber auch die andere Seite der Medaille: die Parallelgesellschaft der oberen Schichten. Hier lernen wir Desmond kennen, der von seinen Eltern auch in den großen Schulferien Hausaufgaben bekommt. Oder Clara und Ricardo, die ihren Wohnsitz nach der Qualität der Schule ausgesucht haben. Den fragilen familiären Verhältnissen am unteren Ende der Gesellschaft steht ein neotraditionelles Familienbild der oberen Schichten gegenüber. Sie sehen in der Erziehung den zentralen Lebensinhalt, optimieren das Lern- und Freizeitangebot ihrer Kinder – und vergrößern dadurch deren sozialen Vorsprung. Beide Gesellschaftsteile haben kaum noch miteinander zu tun.

Putnam argumentiert mit seiner eigenen Kindheit: Schon immer habe es soziale (und ethnische) Segregation in den amerikanischen Städten gegeben. Diese sei heute aber deutlich hermetischer. Eine Straße kann eine Trennlinie zwischen Gewinnern und Verlierern einer Gesellschaft sein, die von niemandem überschritten wird. Ärmere und reichere Schichten begegnen sich praktisch nicht mehr, weder in der Nachbarschaft, noch in der Schule oder im Sportclub. Das gesellschaftliche Netzwerk, in dem sich die Einzelnen bewegen, wird homogener, so Putnam.

Diese soziale Spaltung ist für ein demokratisches System doppelt gefährlich: Erstens untergräbt die gesellschaftliche Vereinsamung die Voraussetzung demokratischen Ausgleichs: Die Empathie für andere Lebenswege und Ansichten und das Gefühl für Solidarität kommen abhanden, wenn man den anderen nicht mehr kennenlernt. Zweitens stellt sich früher oder später die Frage nach der Legitimation eines Staates, der zusieht, wie sich Teile der Gesellschaft abschotten und ihren sozialen Vorsprung stetig vergrößern, während andere Schichten vom Reichtum des Landes praktisch ausgeschlossen sind.

Putnam kommt zu dem Schluss, dass die Bildungs- und Sozialpolitik der Vereinigten Staaten – also die Bereiche, in denen das ungleiche Erbe des Elternhauses ausgeglichen werden könnte – mehr oder weniger folgenlos ist. Das Schulsystem beispielsweise sei zu einem unschuldigen Zuschauer der Gesellschaft geworden: Schulen in armen Stadtteilen bekommen zwar genauso viel staatliche Mittel wie alle anderen, die Schulen in reicheren Stadtteilen profitieren aber immer stärker von privaten Spenden der Eltern. Sie bekommen die besseren Lehrer und bieten mehr Aktivitäten außerhalb des Unterrichts an.

Im Geländewagen durch die Stadt

In Deutschland sind wir zum Glück noch nicht so weit. Das deutsche Sozialsystem funktioniert besser, das Bildungssystem ist weitgehend kostenfrei, die finanzielle Absicherung höher. Unsere Gesellschaft ist gleicher. Und dennoch ist auch hierzulande die Frustration einer gesellschaftlichen Schicht spürbar, die den Glauben daran verloren hat, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird.

Die mangelnde soziale Aufwärtsmobilität sollte uns auch in Deutschland Sorgen machen. Die materielle Ungleichheit der Elternhäuser mag eine – aber nicht die einzige – Erklärung dafür sein. Hinzu kommen der Zerfall von Familien, Perspektivlosigkeit und das Gefühl des Abgehängtseins. Zugleich erlebt am „oberen“ Ende der Gesellschaft das konservative Familienbild eine Renaissance, mit Stuck im Wohnzimmer, privatem Geigenunterricht und Eltern, die ihre Kinder im Geländewagen durch die Stadt kutschieren.

Sind Chlorhühnchen wirklich wichtiger?

Welche Aufgabe stellt diese Entwicklung an die Politik? Putnam hält sich in diesem Punkt mit Folgerungen zurück. Er unterscheidet zwar zu Beginn seines Buches zwischen materieller Gleichheit und Chancengleichheit. Und in der Tat wird deutlich, dass es mit einfachen Sozialtransfers nicht getan ist; die Überforderungen des Alltages, die viele Menschen erleben, können nur mit einem Netz an soziale Angeboten und niedrigschwelligen Hilfen gemindert werden.

Es zeigt sich aber auch, dass die Ungleichheit ohne zusätzliche finanzielle Mittel für ärmere Menschen und eine gute staatliche Infrastruktur stetig zunimmt. Die amerikanische Gesellschaft scheint in ihrer Mehrheit allerdings kaum bereit zu sein, den gestiegenen Wohlstand der oberen Schichten nach unten zu verteilen.

Zwar stehen 95 Prozent der Amerikaner hinter dem Wert der Chancengleichheit. Eine Politik, die Geld umverteilt, um gleiche Chancen zu schaffen, ist momentan jedoch kaum mehrheitsfähig. Wer sich die Auseinandersetzungen rund um „Obama Care“ in Erinnerung ruft, dem ist schnell klar, dass große sozialpolitische Projekte wie unter Franklin D. Roosevelt oder Lyndon B. Johnson in den Vereinigten Staaten heute kaum durchsetzbar wären. Und selbst in Deutschland gehen ja mehr Menschen auf die Straße, weil sie Angst vor Chlorhühnchen oder Flüchtlingen haben, als dass die soziale Ungleichheit sie auf die Palme brächte.

Robert D. Putnam, Our Kids: The American Dream in Crisis, New York: Simon & Schuster 2015, 400 Seiten, 19,95 Euro

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