Hauen und Stechen hält lebendig



Vor ein paar Monaten schrieb ich für die englische Zeitung, für die ich arbeite, ein Profil über den CDU-Abgeordneten Jens Spahn. Spahn ist Parlamentarischer Staatssekretär im Finanzministerium, also keine wirkliche Instanz auf der internationalen Bühne.

Aber der Mann ist 36, ambitioniert, und sagt oft Dinge, die nicht hundertprozentig mit den Positionen seiner Vorsitzenden übereinstimmen, was angesichts der legendären christdemokratischen Parteidisziplin bemerkenswert erscheint. In einem Nebensatz erwähnte ich, dass sich manch einer in der CDU Spahn als Kanzlerkandidaten der Zukunft, „a chancellor-in-waiting“ vorstellen könne.

Am nächsten Tag war die Resonanz enorm: Von Bild bis taz berichtete man aufgeregt, der Guardian habe einen Hinterbänkler zum nächsten Kanzler gekürt. Gerade nach dem Wahlsieg von Donald Trump muss ich immer wieder an diese Episode denken: Wieso war es ein solcher Tabubruch, darüber zu spekulieren, dass es mehr als zehn Jahre nach dem Beginn der Ära Merkel in den eigenen Reihen vielleicht Leute gibt, die Interesse an ihrem Sturz haben?

In Deutschland schaut man mit Begeisterung amerikanische und dänische TV-Serien wie House of Cards, Game of Thrones oder Borgen. Das sind Geschichten, in denen es um Intrigen geht, um Dolchstoßlegenden und vor allem Ambitionen. Aber in der deutschen Politik selbst ist nackte Ambition dieser Tage das größte Tabu überhaupt. Dabei wäre Angela Merkel selbst nie Kanzlerin geworden, hätte sie sich 1999 nicht als damalige Generalsekretärin durch einen vatermörderischen Artikel in der FAZ von ihrem politischen Ziehvater Helmut Kohl emanzipiert.

Umso befremdlicher ist die fehlende Lust zur Hinterbänkler-Rebellion bei einer Partei, die so offensichtlich einen Energieschub benötigt wie die SPD. Diejenigen Sozialdemokraten, die als potenzielle Kanzlerkandidaten gehandelt wurden, sind alle über 50. Davon fehlen mindestens zwei anscheinend jegliche Ambitionen, sich überhaupt auf Bundesebene profilieren zu wollen, während ein dritter nun die gemütlichere Gangart im Schloss Bellevue dem Stress des Kanzleramts vorzieht. Die Bühne ist also eigentlich frei für eine neue Generation junger Politiker im Alter zwischen Mitte 30 und Ende 40. Wo sind sie? Wieso ist die Angst vor dem Verlieren so groß?

Letztlich schadet der ausbleibende Wettbewerb nur den Parteien selbst. Dass Merkel es in ihrer Amtszeit nicht erlaubte, dass sich ein Kandidat der nächsten Generation neben oder hinter ihr profilieren konnte, ist eine der großen Schwächen ihres Führungsstils – im Fußball würde man es als schlechte Jugendarbeit bezeichnen. Und was passieren kann, wenn das Talent-Vakuum hinter der Spitze zu groß wird, haben wir gerade bei den Demokraten in Amerika gesehen.

Da lobt man sich doch die Grünen, über deren Grabenkämpfe und verkrampft basisdemokratische „Hustings“ man sich natürlich leicht lustig machen kann. Aber sieht man am Beispiel der AfD nicht aktuell, dass es einer Partei keineswegs Schaden muss, wenn die Leute an der Spitze permanent miteinander streiten?

Der österreichisch-deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann spekulierte einst, dass sich der deutsche Roman so anders entwickelt habe als in Ländern wie Österreich oder Großbritannien, weil ihm die höfische Kultur so fremd war. Deutsche Literatur kam aus dem Pfarrhaus, und sie wollte irgendwie immer dorthin zurück. Deutsche Politik, so erscheint es, tickt ähnlich.

Es mag bizarr klingen, angesichts der jüngsten politischen Ereignisse in Amerika und Großbritannien der angelsächsischen Politik eine Vorbildfunktion zuzusprechen. Politikverdruss und Misstrauen in politische Ämter ist in England größer als in Deutschland. Aber das Hauen und Stechen, dass man im vergangenen Jahr in den Reihen der Konservativen und der Labour-Partei beobachten konnte, erfüllt eine wichtige Rolle: Ohne solche innerparteilichen Rebellionen schlafen Parteien irgendwann ein.

Die Labour-Abgeordnete für Birmingham Yardley, Jess Phillips, verriet vor kurzem, was sie ihrem linken Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn nach dessen Amtsantritt ins Gesicht gesagt habe: „An dem Tag, an dem Du uns mehr schadest als hilfst, werde ich Dich nicht von hinten erstechen, sondern von vorn.“ Eine solche Kampfansage würde der deutschen Politik guttun.

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