Gute Nachrichten aus der Vergangenheit

Mary Beard zeigt überzeugend, dass Cäsarenwahn nicht das Ende eines großen Reiches bedeuten muss. Das ist gerade heute beruhigend

Seit Jahrhunderten wird über die Ursachen für den Untergang des antiken Roms diskutiert und geschrieben. Am bekanntesten ist auch heute noch eine Arbeit aus dem 18. Jahrhundert, Verfall und Untergang des römischen Reiches von Edward Gibbon. Ein über 3 000 Seiten starkes Lebenswerk, erschienen zwischen 1776 und 1789. Drei Faktoren waren für Gibbon ausschlaggebend für das Ende des einstigen Weltreiches: Die Ausbreitung des Christentums, das Vordringen der Germanen sowie – an erster Stelle – die heute noch gerne zitierte Dekadenz der römischen Gesellschaft und ihrer Eliten.

Mary Beard, Althistorikerin in Cambridge und Edelbloggerin der renommierten Zeitschrift Times Literary Supplement (im New Yorker erschien kürzlich sogar ein Porträt über sie), wählt einen teilweise anderen Blickwinkel auf die tausendjährige Geschichte des antiken Rom. Über Gibbon schreibt sie, dieser habe eben in einer Zeit gelebt, als man von Historikern noch glasklare Urteile über die von ihnen beleuchtete Epoche erwartet habe; in dieser Tradition sehe sie sich ausdrücklich nicht.

Dieser Standpunkt ist nachvollziehbar, hat aber zugleich etwas Zweischneidiges. Denn so sehr die differenzierte Betrachtung zu den Stärken von Beards Studie gehört, so sehr übertreibt sie es mitunter mit kleinteiligen Beschreibungen von Details, zumeist aus der römischen Alltagsgeschichte. Beim Lesen läuft man so bisweilen Gefahr, den roten Faden zu verlieren.

Beards Augenmerk umfasst die Zeitspanne von der Gründung Roms im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins Jahr 212, als Kaiser Caracalla per Dekret sämtliche Bewohner des Reiches, das zu dieser Zeit von Syrien im Osten bis zum Atlantik im Westen reichte, zu römischen Bürgern erklärte. Und sie interessiert vor allem, wie das römische Imperium trotz seiner zahlreichen inneren und äußeren Krisen und Niederlagen überhaupt so lange bestehen konnte.

Gewalt und Sendungsbewusstsein

Die Antwort fällt vielschichtig aus. Ganz oben steht, wie bei etlichen Autoren vor ihr, der Verweis auf die „virtus“ der Römer. Dahinter verbirgt sich ein Synonym für soldatische Tapferkeit und kriegerische Ehre. Allerdings war „virtus“ nicht alleine auf den Soldatenberuf gemünzt, sondern ließ sich auf den Wertekanon der gesamten Gesellschaft übertragen. Die römische Politik und Gesellschaft waren im Kern imperialistisch und auf Expansion angelegt.

Kriege gegen äußere Feinde dienten immer auch innenpolitischen Zwecken. Sie einten die Gesellschaft und versammelten die Bürger in Eintracht hinter ihren Anführern. Die Besiegten hatten keine Gnade zu erwarten. Sie wurden – sofern sie überhaupt überlebten – zur Belustigung der römischen Bevölkerung vorgeführt, hingemordet oder versklavt. So wuchs die Zahl der Sklaven auf der italienischen Halbinsel in den zwei vorchristlichen Jahrhunderten im Schnitt um 8 000 pro Jahr.

Die römische Gewaltgeschichte, konsequent praktiziert gegen äußere wie innere Feinde, ist für Beard aber nur die eine Seite der Medaille, die zur Aufrechterhaltung des Imperiums erforderlich war. Die andere, nicht minder wichtig und jenseits der Fachliteratur bislang eher unterbelichtet, war ein über die Standesschichten der Gesellschaft hinweg tief verwurzeltes römisches Sendungsbewusstsein, anfänglich für die Mittelmeerwelt, dann auch darüber hinaus. Dies mit ihrem Buch aufzuzeigen ist Beard besonders wichtig.

Der Bezug zur Gegenwart schwingt mit

Zumal die Römer ihre Gesellschaft als ein offenes, dem Wandel ausgesetztes System verstanden. Die „Romanitas“, die Zugehörigkeit zur römischen politischen und kulturellen Identität, die das Gemeinwesen konstituierte, war nicht an das Abstammungsprinzip („ius sanguinis“) gebunden. Sie stand im Prinzip all jenen offen, die sich zu ihr bekennen wollten. So konnten beispielsweise auch Sizilianer, Briten oder Gallier zu Römern werden. Der Bereitschaft, Steuern und Abgaben zu entrichten sowie das Reich notfalls mit der Waffe in der Hand gegen äußere Feinde zu verteidigen, dürfte diese Form der Identitätsstiftung durchaus zuträglich gewesen sein.

Als wertvolles integratives Handwerkszeug erwies sich der weit verbreitete und von Politikern und Schriftstellern gerne bemühte Fundus an Mythen. Beard geht ausführlich darauf ein, wobei auch hier der Strahlkraft von (militärischer) Gewalt, Sieg und Ehre – kurz: „virtus“ – eine herausragende Bedeutung zukam. Ein Paradebeispiel dafür ist die Aeneis nach Vergil, der Gründungsmythos des Römischen Reiches. Darin wird ein trojanischer – sprich: ausländischer – Anführer und Krieger als Held gefeiert, nachdem er zuvor etliche Einheimische im Kampf getötet, die verfeindeten Stämme geeint und so den Grundstock für das spätere Reich gelegt hatte. Etwas Vergleichbares sucht man in den Gründungsmythen der meisten modernen Nationalstaaten vergeblich. Dort erfolgte die Nationsgründung in Abgrenzung gegen äußere Feinde und stets von innen heraus.

Mary Beard hat ein historisches Buch geschrieben, in dem der Bezug zur Gegenwart des Öfteren mitschwingt. Nun ließe sich zu Recht einwenden, dass sei bei praktisch jeder geschichtlichen Abhandlung der Fall, da der Autor eben nicht aus seiner Zeit heraus könne. Und dennoch trifft dies bei Beard in besonderer Weise zu. Zum einen ist SPQR kein komplexes Fachbuch, sondern eine unterhaltsam geschriebene Überblicksdarstellung, die sich an ein breites Publikum richtet. Zum anderen ist Beard eine Autorin, die den öffentlichen Diskurs nicht scheut.

In ihrer britischen Heimat hat Beard immer wieder politisch Position ergriffen. Für ihr Plädoyer zugunsten einer offenen Gesellschaft, die auch künftig auf Zuwanderung und Integration angewiesen sei, wurde sie im Netz massiv angefeindet. Gleichwohl ist Beard klug genug, auf die direkte Benennung von historischen Analogien in ihrem Buch zu verzichten. Das Entdecken und Querverbinden überlässt sie lieber ihren Lesern.

Institutions matter!

Dass große Reiche mit langjähriger Tradition und gefestigten Institutionen sich nicht ohne weiteres durch einzelne Personen aus der Bahn werfen lassen, kann man in SPQR ebenfalls nachlesen. Rom hatte eine Vielzahl sehr unterschiedlich begabter Senatoren und Kaiser. Auch entsprach nicht immer alles der Wahrheit, was über sie verbreitet wurde. Ob Nero tatsächlich Rom angezündet und dabei gefiedelt hat, wie es manche Quellen vermelden, bezweifelt Beard ebenso wie die Ausschweifungen, die Tiberius oder Caligula von den Chronisten nachgesagt werden.

Positiv festzuhalten ist: Institutions matter! Die römischen Institutionen haben sich in den allermeisten Fällen als stark genug erwiesen, individuelle Dummheit und Exzess an ihrer Spitze zu ertragen und soweit wie möglich auszugleichen.

Mary Beard hat mit SPQR: Die tausendjährige Geschichte Roms eine exzellent geschriebene und ausnehmend kluge Geschichte des antiken Roms vorgelegt. Und sie hat obendrein ein politisches Buch geschrieben, das dem Leser jede Menge Anregungen zum Weiterdenken über die eigene Zeit liefert.

Mary Beard, SPQR: Die tausendjährige Geschichte Roms, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2016, 656 Seiten, 28 Euro

zurück zur Ausgabe