Grenzen in einer entgrenzten Welt

Der Prozess der Globalisierung schien die Verflüssigung aller Verhältnisse zu bedeuten. Doch gerade Phänomene der Grenzenlosigkeit gehen überall einher mit neuen Abgrenzungen

Die gesamte bisherige Geschichte kann als ein ewiger Kampf zwischen dem Festen und dem Flüssigen beschrieben werden: auf der einen Seite das Stabile, Beständige und Überdauernde, auf der anderen Seite das Flüchtige, Bewegliche und Dynamische.

Durch den Globalisierungsprozess schien dieser Kampf entschieden: Einst stabile Verhältnisse haben sich zunehmend verflüssigt. Mit dem Ende des Kalten Krieges, der Auflösung der Sowjetunion und dem Fall der Berliner Mauer sollte die zuvor in zwei feindliche Machtblöcke getrennte Welt in eine Welt des produktiven Austausches, der globalen Beziehungen und der uneingeschränkten Bewegungsfreiheit verwandelt werden.

Enthusiastisch wurde der „Abschied vom Nationalstaat“ (Martin Albrow) eingeläutet, der „Untergang des Staates“ (Martin van Creveld) verkündet und eine „Borderless World“ (Kenichi Ohmae) avisiert. Angesichts einer Welt, in der Geld- und Warenströme ungehindert fließen, wurde die bereits von Günter Anders annoncierte „Antiquiertheit der Grenze“ offenkundig.

Globalisierung und Entgrenzung sind unauflöslich miteinander verbunden. Die Möglichkeit einer globalen Gesellschaft, die unabhängig von territorialen Beschränkungen handelt, wurde erst durch technologische Entwicklung möglich. Dem modernen Fortschrittsgedanken ist die Überwindung geografischer Entfernungen ebenso inhärent wie die unermüdliche Erschließung bisher unzugänglicher Gebiete. Geburtshelfer der Globalisierung waren neue Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel wie Schiff, Eisenbahn, Automobil, Flugzeug und Internet. Sie bieten die materielle Grundlage für die Herausbildung einer globalen Gesellschaft. Menschen und Kommunikation sollen sich möglichst reibungslos bewegen und fließen. Grenzen erscheinen vor diesem Hintergrund wie ein unerwünschtes Überbleibsel längst vergangener Tage.

Der Erfolg des Begriffs der „Netzwerkgesellschaft“ verdankt sich der Vorstellung, dass wir es nicht mehr länger mit Grenzen setzenden Nationalstaaten, sondern mit Informationsflüssen und Kommunikation zu tun haben, die Verbindungen

unabhängig von territorialen Grenzen schaffen. Angesichts einer auf Beschleunigung getrimmten Moderne werden Grenzen zur Zumutung, weil sie Bewegungen unterbrechen und all jene, die schnell vorankommen wollen, zum Warten zwingen: Seile, Drehkreuze und Türsteher versperren den freien und zügigen Zugang zum Kino, Flugzeug oder zur Konzerthalle. Weil Eintrittskarten vorgezeigt, Pässe überprüft und Leibesvisitationen vorgenommen werden, kommt es unvermeidlich zu Verzögerungen im Bewegungsablauf – ebenso wie bei Autos, die vor dem Überqueren einer staatlichen Grenze anhalten müssen.

Auf dem Weg in die Kontrollgesellschaft

Aber so wenig wie wir – trotz gegenteiliger Behauptungen – das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) erlebt haben, so wenig erleben wir derzeit ein Verschwinden der Grenzen. Der Eintrag in Das Lexikon der verschwundenen Dinge (Volker Wieprecht/Robert Skuppin) war zumindest voreilig. Schon ein oberflächlicher Blick auf die politische Weltkarte zeigt uns, dass Grenzen nach wie vor existieren und sogar zahlreiche neue hinzugekommen sind: Zwischen Nord- und Südkorea verläuft noch immer ein „Eiserner Vorhang“; die Vereinigten Staaten versuchen sich vor illegalen Einwanderern aus Mexiko mit einem über 3 000 Kilometer langen Grenzzaun zu schützen; die Israelis errichten eine Sperranlage zwischen dem von ihnen beanspruchten Land und den Gebieten der Palästinenser; ein meterhoher Zaun trennt Indien von Bangladesch; die EU umgibt sich mit starken Außengrenzen und rüstet die Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla so auf, dass Europa aus der Perspektive von „unerwünschten Einwanderern“ immer mehr wie eine uneinnehmbare Festung erscheint, in die sie gleichwohl verzweifelt zu gelangen versuchen.

Die Liste aktuell bestehender staatlicher Grenzen ließe sich beliebig fortsetzen: Man denke an Mauern und Befestigungsanlagen, die von Belfast bis Jerusalem verfeindete ethnische und religiöse Gruppen im städtischen Raum voneinander trennen; oder an gated communities, in die sich die Wohlhabenden aus Angst vor Kriminalität und dem Anblick von Elend zurückziehen.

Von anderer Qualität sind die vagabundierenden Grenzen. Diese ersetzen die durch die Schengener Abkommen abgebauten nationalstaatlichen Grenzen. Neu ist, dass diese nunmehr im Landesinneren jederzeit flexibel errichtet werden können. Im Zuge des massiven Ausbaus von „Kontrollgesellschaften“ (Gilles Deleuze) werden Grenzkontrollen im gesamten Staatsgebiet aufgebaut: An die Stelle der ehemaligen Passkontrollen an den Staatsgrenzen tritt die umfassende elektronische Überwachung der Bürger mit Hilfe von Videokameras, Bildschirmen und Geldautomaten. Gegensprechanlagen, Drehkreuze, Türsteher, automatische Schließanlagen und biometrische Kontrollverfahren regulieren und kontrollieren den Zugang. Mit dem Übertreten einer staatlichen Grenze ist insofern keineswegs das Recht verbunden, sich überall frei bewegen zu können. Mit der Privatisierung des öffentlichen Raums werden die Zugangskontrollen sogar vervielfacht: Bahnhöfe, Einkaufszentren und viele andere Einrichtungen behalten sich das Recht vor, unerwünschten Personen jederzeit den Zutritt zu untersagen.

Es bedarf also keiner Schlagbäume, um Grenzen zu ziehen. Wenn, wie etwa in Paris, die Möglichkeiten eingeschränkt werden, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von den Randbezirken ins Zentrum zu gelangen, dann wird auch auf diese Weise eine Grenze gezogen, die diejenigen ausschließen soll, die im öffentlichen Stadtbild nicht erwünscht sind – sei es, weil das positive Stadtbild der Touristen nicht gestört oder weil der privilegierten Bevölkerung im Zentrum der Kontakt mit den Bewohnern der Banlieues nicht zugemutet werden soll. Eine Begegnung mit den Bewohnern der Vorstädte wird als bedrohlich wahrgenommen. Politisch gewollt ist, dass jeder bleibt, wo er ist und „hingehört“. Diese Platzierungsmacht ist ein ebenso unterschätztes wie oft angewandtes Mittel politischer Herrschaft – gerade im Zeitalter der Globalisierung.

»Natürlich« waren und sind Grenzen niemals

Befestigungsmauern, Stacheldraht und Grenzbefestigungen sind also keineswegs von der internationalen Bildfläche verschwunden. Im Gegenteil: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens kam es zu etlichen neuen Staatsgründungen – von Estland über Serbien bis Georgien –, die mit der Errichtung neuer Grenzanlagen einhergingen. Diese intensive Produktion von Grenzen macht deutlich, was Grenzen gerade nicht sind und auch niemals waren: natürlich. Zwar sind natürliche Barrieren wie Flüsse, Küstenstreifen oder Gebirgszüge in der Vergangenheit immer wieder zu Grenzen erklärt worden, inzwischen aber herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Grenzen das Produkt menschlicher Handlungen sind. In der Konsequenz heißt dies, dass auch der Verlauf von Grenzen veränderlich ist: Grenzen können ab- und wieder aufgebaut werden.

Die primäre Funktion der Grenze besteht darin, die Intensität von sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Austauschbeziehungen zu regulieren, wobei Grenzen hinsichtlich ihres Durchlässigkeitsgrades variieren. Nur solange die Möglichkeit besteht, das Ausmaß der Grenzüberschreitungen regulieren und kontrollieren zu können, ist eine Grenze wirklich eine Grenze. Das Ziel einer Grenzerrichtung dürfte in den wenigsten Fällen darin bestehen, sie immer offen oder dauerhaft geschlossen zu halten. In aller Regel geht es darum, einen geregelten Verkehr von Personen zu ermöglichen. Grenzen bilden den Ort, an dem Grenzübertritte gewährt oder untersagt werden. Während bestimmte Menschen als unerwünscht zurückgewiesen werden, wird anderen die Einreise erlaubt. Je nach Bedarf des Einreiselandes können sich die Kriterien für die Entscheidung „erwünscht oder unerwünscht“ durchaus verändern. Grenzen sind Selektionsmaschinen, die einen Unterschied zwischen Einheimischen und Ausländern, innen und außen sowie eigen und fremd markieren.

Zur immanenten Ambivalenz der Grenze gehört, dass sie zwar Trennungen vornimmt, das Getrennte aber zugleich in Beziehung zueinander setzt. Beide Seiten – innen und außen, heimisch und fremd – sind wechselseitig konstitutiv. In dieser elementaren Funktion eines auf Differenz gegründeten Sozialen scheint auch der Grund für das hartnäckige Überdauern von Grenzen zu liegen. Weniger selbstverständlich ist hingegen, dass Grenzen sich im Raum einschreiben.

Nach Innen behaglich, nach Außen geschützt

Durch die räumliche Materialisation von Grenzen – das wusste schon Georg Simmel – erhalten diese eine andere „Festigkeit und Anschaulichkeit“ als etwa soziale Grenzziehungen, die sich nicht verräumlichen. Diese Anschaulichkeit und Klarheit verleiht Grenzen – trotz ihres negativen Images – ihre anhaltende Attraktivität. Sie besteht vor allem darin, dass die Akteure selbst entscheiden können, wem sie den Zutritt zu einem bestimmten Areal erlauben und wem nicht. Auf die Verfügungsgewalt über das eigene Territorium beharren indes nicht nur Staaten, sondern auch deren Bürger. Sie errichten und sichern sich ebenfalls eigene Territorien, auf denen sie Ein- und Ausgänge kontrollieren und Eintritt gewähren oder verweigern können. Sei es das eigene Haus, die eigene Wohnung oder auch nur das eigene Zimmer – stets werden Räume hervorgebracht, die innen behaglich und nach außen so gut wie nur möglich geschützt sind. Und sei der Raum auch noch so klein: Entscheidend ist, dass individuell festgelegt werden kann, wer eintreten darf und wer nicht. Selbst über den Körper wird streng gewacht: Was oder wer ihn berühren und von ihm aufgenommen werden darf, wird angesichts der Warnungen vor dreckiger Luft, unreinem Wasser und verseuchter Ernährung zum Politikum.

Die genannten Beispiele zeigen: Wer im Zuge der Globalisierungseuphorie dazu verleitet wurde, die Bedeutung territorialer Grenzen für ein Relikt der Vergangenheit zu halten, hat sich getäuscht. Aktuelle Konflikte belegen, dass es nach wie vor um territoriale Fragen geht. Nicht zuletzt die Occupy-Bewegung und der Arabische Frühling haben uns eindrücklich die räumliche Dimension von Protest vor Augen geführt. Gerade an diesem Beispiel ließe sich der Zusammenhang zwischen dem Besetzen von öffentlichem Raum, der Verteidigung von Territorien, der öffentlichen Aufmerksamkeit, der Kraft der Bilder und dem Einfluss der neuen Medien gut illustrieren.

»Altes Denken« schafft sich nicht selbst ab

Grund genug, um das irenische Nachdenken über den Raum neu auszurichten und die Kämpfe um Raum wieder in den Vordergrund zu rücken. Nicht die wissenschaftlichen Theorien und Modelle bestimmen, mit welcher Art von Räumen und Konflikten wir es zu tun haben, sondern die handelnden Akteure. Wird dies nicht berücksichtigt, drohen fatale Fehleinschätzungen von politischen Situationen, vor denen auch eingefleischte Politprofis nicht gefeit sind: Erst kürzlich hat der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer in einem Interview mit dem Spiegel Wladimir Putins vermeintlich antiquierte Sicht der Dinge kritisiert: „Sein Kardinalfehler ist es zu glauben, dass Macht auch im 21. Jahrhundert von territorialer Größe abhängt. Aber sie hängt vor allem von wirtschaftlicher Stärke und einer breiten gesellschaftlichen Modernisierung ab.“

Ganz im Gegenteil: Solange Akteure Territorien für wichtig halten, sind sie wichtig. Die Versäumnisse des Westens im Ukraine-Konflikt könnten gerade darin bestehen, die Bedeutung territorialer Fragen im 21. Jahrhundert unterschätzt zu haben. Allein durch den Hinweis, Wladimir Putin hänge „veraltetem Denken“ an, wird sich der russische Diktator sicherlich nicht von seinem eingeschlagenen Kurs abbringen lassen.

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